Hören Sie die Mühsal hupen

von Matthias Weigel

Berlin, 18. Dezember 2010. Der ordentliche Geisteskranke hält sich für Gott, einen Indianer, einen Millionär, einen Diktator oder einen Philosophen. In Thomas Bernhards Stück ist Letzteres der Fall, und so heißt es auch: "Immanuel Kant". Zuletzt inszenierte Matthias Hartmann das seit seiner Uraufführung 1978 selten gespielte Stück zum Abschied in Zürich, nun hat Philip Tiedemann es am Berliner Ensemble eingerichtet. Wie schon bei Hartmann steht auch dieser Abend auf wackligen Füßen: "Immanuel Kant" spielt auf einem Schiff, und so schlingern die Schauspieler auf einer kippelnden Plattform auf der Bühne von Paul Lerchbaumer umher (Hartmann hatte sich sogar einen ganzen schwankenden Raum gegönnt).

Texttreue Schifffahrt ins Irrenhaus

Vom Klappstuhl auf diesem "Deck" aus kommandiert allerdings nicht, wie zuerst vorgesehen, Christian Grashof die Umstehenden herum (er und Tiedemann hätten, so hieß es, während der Proben "gemeinsam entschieden, die Arbeit an der Kant-Figur abzubrechen"), sondern Norbert Stöß spielt Kant – oder besser: den, der sich für Kant hält. Dieser "Professor" behandelt Frau und Bruder/Diener so mies, wie er seinen Papagei verhätschelt. Dem sprechenden "Psittacus erithacus", der im zugedeckten Käfig immer an seiner Seite ist, hat Kant schließlich nicht nur seine Lieblingsfloskeln beigebracht, sondern angeblich auch alles, was er je gedacht hat.

Diese Schifffahrt, so kann man schon an der rein weißen Kleidung des gesamten Ensembles ahnen, gilt aber in Wirklichkeit weder der Entgegennahme der Ehrendoktorwürde der Columbia-Universität noch der dringenden Augenoperation in den USA: Nach der Landung am Schluss folgt die Einlieferung in ein "New Yorker Irrenhaus".

Die einzigen Momente der Emanzipation Tiedemanns vom Bernhard-Text sind die Andeutungen, dass vielleicht sogar die ganze Schifffahrt von vornherein nur die Simulation für ein paar Irre ist (Prinzip "Shutter Island"). Wobei es wohl übertrieben ist, hier von Emanzipation zu sprechen: Im Gegenteil könnte man selbst diese Deutung als texttreu bezeichnen – eine Texttreue, die bis zwischen die Zeilen geht. Demut bis ins Leerzeichen.

Knallchargen an Bord

Ursula Höpfner-Tabori als Kants Frau lässt ab und zu etwas von dem Drama ihrer Figur aufblitzen, dem Mann zuliebe das Kant-Spiel zwar mitzuspielen, aber als Resultat natürlich nur Philosophen-Arroganz zu spüren zu bekommen. Tiefe sucht man ansonsten in den Knallchargen von Carmen-Maja Antoni als "Millionärrin" (siehe "ordentlicher Geisteskranker") oder Martin Schneider als Kants Bruder-Diener vergeblich. Während sich Thomas Wittmann als Steward (= Pflegepersonal?) gleich komplett fein raushält, absolviert Stöß die undankbare Aufgabe der Zweitbesetzung als gemäßigt plärrender, mittelalter Mann, facettenreich wie die Farbe seiner Kleidung.

Zwar verlassen sich die Spieler meist nicht auf grottige Slap-Stick-Nummern wie Ich-setze-eine-halbfertige-Strickmütze-auf-und-der-Faden-spannt-sich-quer-über-die-Bühne; trotzdem wird über die 90 Minuten sonst nichts entwickelt, sondern auf der Stelle getreten. So kann es auch nicht den großen finalen Knall geben, dass Kant ja überhaupt nicht Kant ist, sondern ein Irrer – das wurde schließlich lange vorweggenommen.

Moll-Akkorde für zwischendurch

Da man ja aber irgendetwas braucht, worauf sich so ein (behaupteter) Spannungsbogen richten könnte, wird in der Mitte und zum Schluss ein Absatz von Bernhards wirr-fließender Sprache mit ein paar Moll-Akkorden unterlegt und als Choral-Melodie gesungen: "Hören Sie das Meer / die Mühsal / das Entsetzen / der Ehrgeiz, / die Verlassenheit / Wind / Küste / Dieses Wort Küste / Meer".

Hörte ich alles nicht. Aber die Schiffshupe hört man tröten. So wie es in den Regieanweisungen steht.

 

Immanuel Kant
von Thomas Bernhard
Regie: Philip Tiedemann, Bühne: Paul Lerchbaumer, Kostüme: Stephan von Wedel, Musik: Jörg Gollasch, Dramaturgie: Hermann Wündrich.
Mit: Norbert Stöß, Ursula Höpfner-Tabori, Martin Schneider, Jörg Thieme, Carmen-Maja Antoni, Thomas Wittmann, Uli Pleßmann, Detlef Lutz, Gerd Kunath, Roman Kaminski.

www.berliner-ensemble.de

 

Der Hauptdarsteller Norbert Stöß spielt am Berliner Ensemble auch in Manfred Karges Kaukasischem Kreidekreis und in dessen Inszenierung von Furcht und Elend des Dritten Reiches.


Kritikenrundschau

Philipp Tiedemann lese Bernhards Stück "als Wahnspiel, bietet einen Bühnenhimmel voller Lampions, eine aus der Decke ragende Schiffs-Dampfpfeife, somnambule Tiefseetaucher, schwungvolle Akrobaten und Phantasten auf – ein Zirkus der überschießenden Schaupracht", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (20.12.2010). Kant sei hier "nicht unterwegs in den Wahn, sondern längst des Wahnsinns genialische Beute, einer, der sich für einen berühmten Philosophen hält, so wie andere Geistesverwirrte an ihrem Jesus- oder Napoleon-Komplex laborieren." Es bleibe freilich die Frage: "Was ist damit gewonnen? Ob Thomas Bernhards Stück bei aller irrwitzigen Oberfläche nicht doch einen tieftragischen Grund habe, ob es nicht eigentlich von der markerschütternden Angst vor dem Abstieg in Verfall und Vergessen erzähle, darüber wurde schon anlässlich der Uraufführung debattiert. Tiedemann aber will den Scherz ohne Schrecken."

Bernhards Stücke kümmerten sich "nicht wirklich um lebensnahe oder gesellschaftliche Belange", führt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung aus (20.12.2010). "Dass die bürgerliche Gesellschaft darin nur als Farce vorkommt, ist die Voraussetzung, aus der sich die 'Ungeheuerlichkeit' Bernhard'scher Geistesbaustellen entfaltet. Die Ungeheuerlichkeit liegt in der Zumutung des Denkens selbst. Wer damit anfängt, landet schnell im Hin und Her der Dilemmata: Er sucht Gewissheiten und findet Widersprüche." Bei Tiedemann wird sehr wenig von diesem Programm eingelöst: "Außer Kant spielen hier alle nur Schiffstheater, eine Theater-Therapie für den armen Irren, den auch Norbert Stöß in jeder Geste, jeder Betonung so überreizt, so resonanzlos karikiert, dass nie Zweifel besteht, hier wütet ein Kranker. Und so ist dieser Abend von Beginn an auch ohne jede Spannung, geschweige denn Doppelbödigkeit." Übrig bleibe "eine seichte Klamotte: nicht über eine irre Gesellschaft, die alles Wanken scheut, sondern über einen schwankenden Irren."

Kurzen Prozess macht Elmar Krekeler in einer Kurzkritik in der Welt (20.12.2010): Tiedemann habe Bernhards "Narrenschiffkomödie" aus der Tiefe gehoben: "Weswegen weiß man nicht. Immerhin hat er sich alle Mühe gegeben. Mehr war nicht herauszuholen." Kurz bevor man "den katatonischen Imperativ des Verwitzeltwerdens ausrufen" wolle, lande "Kant in einer Zwangsjacke und wird abgeführt. Hoffentlich dahin, wohin er gehört, ins Theatermuseum."

 

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