Nur wer arm ist, sündigt nicht?

von Esther Slevogt

Berlin, 18. Dezember 2010. Es ist eine klassische Theaterschräge, in die Olaf Altmann die schmale Bühne von Berlins kleinstem Staatstheater verwandelt hat: man kommt schwer rauf, rutscht aber ziemlich leicht wieder ab. Wie im richtigen Leben eben. Nach hinten wird die ansteigende asphaltfarbene Fläche von einer Leinwand begrenzt, auf die als Bild grenzenloser Freiheit manchmal Schwärme flatternder Wildgänse projiziert werden. Meist aber nur ein Horizont, dem man auf einer weiten Landstraße entgegenzufahren glaubt und der sich in eben der Weise entfernt, wie man sich ihm zu nähern versucht.

Auf der Straße leben

Hier lebt die Familie Joad: Großeltern, Eltern und erwachsene Kinder, ein Schwiegersohn und ein Prediger, der seinen Glauben verlor. Also auf der Straße, die sie in ein besseres Leben führen soll und auf der Regisseur Armin Petras sie immer neu zu kurzen Szenen und Bildern gruppiert, entlang von John Steinbecks "Die Früchte des Zorns", dem 1939 erschienenen, nobelpreisgekrönten Epos über eine in Not geratene Farmerfamilie. Ein typischer Petras-Bilderbogen, der mit zärtlich-zornigem Blick auf das schwere Los der sogenannten kleinen Leute blickt. Und auf die Größe, mit der sie in der Weltwirtschaftskrise (von 1930) und einer durch Raubbau verursachten ökologischen Katastrophe trotz Not ihre Würde zu bewahren versuchen.

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© Bettina Stöß / www.moving-moments.de

Das hat immer wieder schöne poetische Momente. Wenn beispielsweise Regine Zimmermann als schwangere Tochter der Familie mit dem biblischen (auf Liebe, Fruchtbarkeit und Welterrettung deutenden) Namen Rosasharn kurz vor dem Aufbruch ins Ungewisse mit klirrend-klarer Stimme räsoniert: "Wie sollen wir leben ohne unser Leben? Woher sollen wir wissen, dass wir es sind, ohne unsere Vergangenheit?" Sätze, die nicht auf John Steinbeck zurückgehen, sondern in denen man den Sound der jungen Dramatikerin Anne Habermehl zu hören meint, die an der Bühnenbearbeitung des Romans mitgearbeitet hat. Sätze auch, die ins Zentrum dessen stoßen, was Armin Petras an diesem Roman über verdorrte, von Sandstürmen verwüstete Landschaften in Oklahoma und verzweifelte Farmer, die als Arbeitsmigranten aus ihrer Heimat fort nach Kalifornien ziehen, gereizt haben mag.

Noch immer: auf Suche nach dem Blühen

Während Steinbecks Roman mit fast biblischer Wucht Parallelen zwischen den westwärts durch die wüsten Landschaften des Kapitalismus wandernden Arbeitsmigranten und den alttestamentarischen, durch die Wüste ins gelobte Land irrenden Israeliten zieht, sind es bei Petras jetzt die Ossi-Oakies, die immer noch westwärts in die gefühlte Richtung von Helmut Kohls blühenden Landschaften tappen und sich auf dem Weg dorthin selbst verlieren. Weil die blühenden Landschaften ein leeres Wahlversprechen gewesen sind?

Das aber haben wahrscheinlich inzwischen längst auch die borniertesten Westler in ihren abgewrackten und bankrotten Westkommunen erkannt (manch einer vielleicht mit etwas unverständigem Blick auf die herausgeputzen Stadtkerne im Osten), denkt man einmal kurz. Folgt dann aber doch der typischen Petras-Melodramatik, den dahingetupften Bildern, eingestreuten live gesungenen Country- und Westernsongs sowie herzzerreißenden Charakteren in diesem schrulligen Berlin-Mitte-Amerika mit einiger Empathie. Man wäre ja auch wirklich gerne so naiv, dass man diesem Theatermärchen über tapfere kleine Leute in der großen bösen Welt ohne Fragen folgen würde. Dass man einfach zuschauen könnte, wie sie sich an der ungerechten Welt abarbeiten.

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© Bettina Stöß / www.moving-moments.de

Die Gorkis in Hollywood

Julischka Eichel zum Beispiel, die – als sehr jung besetzte Mutter Joad – ihre Energie in den Zusammenhalt ihrer in Tod und Unglück abstürzenden Familie investiert. Es gebe Momente, da müsse man für sich behalten, wie man sich fühlt, doziert sie der klagenden Tochter. Nur einmal, als ihre eigene Mutter stirbt, bricht aus ihr eine Art Urgeheul hervor. Dann ist da Max Simonischek, der die berühmte Figur des Joad-Sohnes Tom spielt, von Aino Laberenz stilecht mit weiten Hosenträger-Hosen, schweren Stiefeln und Schiebermütze ausstaffiert. Voller Tatendrang baut er sich immer wieder mit dem Spaten überm Kreuz und darüber gehängten Armen in lässiger James-Dean-Pose vor uns auf. Am Ende ist das weiße Hemd rot vom Blut derer, die er mit diesem Spaten im Zorn erschlagen hat. Michael Klammer wächst in seiner Rolle als abtrünniger Priester Casy zum schwarzen Dämon mit blutigen Händen. Ninja Stangenberg wandelt sich als kleine Joad-Schwester Ruthie vom bezopften Kniestrumpftrotzkopfkind zum rosa Pädophilentraum. Denn die Leute, das lernen wir an diesem Abend von Petras auch, wollen ein besseres Leben, weil sie konsumieren wollen.

Naserümpfen über Kühlschrank

Auch Ruthie will ein besseres Leben, selbst wenn sie sich dafür an den Leiter des Migrantenlagers verkaufen muss. Ihre Schwester Rosasharn träumt von Auto, Haus und Kühlschrank, der am Ende als eisiges wie beschränktes Utopiemonument auch auf die Bühnenschräge gewuchtet wird. In diesem Moment meint man, in der Inszenierung ein leichtes Naserümpfen über einen derart konsumistisch orientierten Utopiehorizont wahrzunehmen. Zuvor ist die ganze Joad-Familie wie in einem Traum von sich selbst in einem besseren Leben in bürgerlich-saturierter Kleidung an die Rampe getreten, um gleich so bösartig wie die böse Welt zu wirken, die ihnen den Abend über so übel mitgespielt hat. Ja, nur wer arm ist, sündigt nicht. Und Utopien werden eben krude, sobald sie Gestalt annehmen. Das ist das Schwierige damit.

 

Die Früchte des Zorns
von John Steinbeck, für die Bühne bearbeitet von Armin Petras (Mitarbeit Anne Habermehl)
Inszenierung: Armin Petras, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Aino Laberenz, Video: Niklas Ritter, Dramaturgie: Nina Rühmeier.
Mit: Regine Zimmermann, Ursula Werner, Julischka Eichel, Ninja Stangenberg, Michael Klammer, Max Simonischek, Wolfgang Hosfeld, Wilhelm Eilers, Albrecht Abraham Schuch.

www.gorki.de

 

Mehr zu Armin Petras gibt es im nachtkritik-Archiv.


Kritikenrundschau

Einen zähen Abend hat Peter Laudenbach (Süddeutsche Zeitung, 20.12.2010) bei den "Früchten des Zorns" erlebt: Petras stanze "Steinbecks Rezessions-Opfer, verarmte Landarbeiter aus den Südstaaten, typengerecht aus: Lauter mit naiver Zuneigung gezeichnete Verlierer. Die Erzählweise ist angenehm unzynisch. Petras nimmt diese Menschen ganz altmodisch ernst, macht sie nicht zum Spielball lustiger Regieeinfälle. Der Preis dieser Anteilnahme ist aber ein Hang zur Sentimentalität, die leicht in Klassenkampf-Kitsch umkippen kann." Und das Spiel sei "mindestens so grobkörnig wie die Filme im Hintergrund".

Petras tue so, "als ließe sich die Not damals mit der Not heute geradewegs vergleichen, weil es noch immer eine aus kapitalistischer Raubgier geborene ist", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (20.12.2010). "Sie lässt sich vergleichen, allerdings so grob und so obenhin, dass man an diesem Abend weder über das Damals noch über das Heute etwas erfährt. Außer Platt- und Bekanntheiten. Außer, dass es noch immer gilt, aufzuwachen wider die Duldsamkeit. Das aber ist so allgültig, dass Petras' Kritik genauso wie die Utopie des großen Wir der Unterdrückten hier ins Leere greift. Es gibt keine Utopie und keine Kritik, wenn sie nicht genau und konkret sind." So bleibe die Inszenierung ein "Leidens-. und Mahngemälde, dick und deutlich aufgetragen. Jede Figur ist mit ihrem ersten Auftritt ausformuliert; Entwicklungen gibt es nicht, nur Abwärtsspiralen." Immerhin sehe man den Schauspielern "meist gern zu".

Andreas Schäfer
fühlte sich im Tagesspiegel (20.12.2010) nicht zu einer Kritik, sondern zu einer Fantasie inspiriert. Einer Fantasie über einen Lehrer, der mit seinen Schülern "Früchte des Zorns" auf die Bühne bringen will. Schäfer entwirft Dialoge wie den folgenden: "'Was fällt euch ein, wenn ihr an Amerika denkt?' 'Popcorn.' 'Countrymusik.' 'Cops. Cops mit Ray-Ban-Brillen, die mit Taschenlampen in Autos leuchten.' 'Super. Da haben wir schon mal Kostüme und Requisiten.' 'Was? Diese Klischees?' 'Klar', sagte er zu dem erstaunten Mädchen in der letzten Reihe, das er noch nie gesehen hat." Diesem Mädchen ist es dann wohl auch vorbehalten, Andreas Schäfers Meinung über Petras' Inszenierung zu formulieren: "'Moment mal.' Das Mädchen aus der letzten Reihe ist so erregt, dass es aufgestanden ist. 'Wollen Sie uns verarschen? Was hat das alles eigentlich mit John Steinbeck zu tun?'"

Eine "fulminante, ans Herz greifende Inszenierung" hat dagegen Jürgen Otten (Frankfurter Rundschau, 21.12. 2010) gesehen. "Einsame Klasse" seien "die Alten" gewesen, Ursula Werner und Wolfgang Hosfeld. Zudem habe Armin Petras eine "im Alptraum endende Talfahrt" inszeniert, wobei dieser Abend nie nach Mitleid heische oder sich moralinsauer gebe: "Petras zeigt, nicht selten sardonisch lächelnd, lediglich ganz gewöhnliche (...) Menschen: wie sie kämpfen um ihre Existenz, wie sie buchstäblich hinweggespült werden von der brutalen (amerikanischen) Wirklichkeit. Und wie sie noch im Scheitern Würde zu bewahren versuchen." Davon handele der Abend: "von der Würde in der Niederlage." Und Petras habe dafür "die ideale Besetzung gefunden. Eine Sensation ist Julischka Eichel." Petras zeige zudem "Charaktere, die wie aus dem richtigen Leben geschnitzt sind".

 

Kommentare  
Früchte des Zorns, Berlin: Steinbeck direkt auf der Spur
John Steinbeck hat in seinen Romanen eher den einfachen Menschen, der sein Brot im wahrsten Sinne des Wortes noch im Schweiße seines Angesichts verdienten musste und seinen Kampf mit der Natur begleitet, als deren Bestandteil er den Menschen begriff. Er beschäftigte sich dabei vor allem auch mit den ökologischen Problemen der Umwelt und seine Romane sind immer auch als eine Art Versuchsanordnung zu verstehen, die Gesetze der Natur in die menschliche Gesellschaft zu übertragen. Dabei verlor er aber nie den Blick für die Schicksale der Menschen am Rande dieser Gesellschaft. In kaum einem anderen seiner Werke treffen diese beiden Anliegen Steinbecks so zusammen wie in „Früchte des Zorns“. Aus einer Art Naturkatastrophe heraus, dem Ausdörren der Böden in Oklahoma bedingt durch den Anbau von Monokulturen, verlieren die Landarbeiter ihre Farmen an die Banken und ziehen wie einst die Israeliten aus, um sich im „gelobten Land“ Kalifornien als Obstpflücker zu verdingen. Steinbeck erzählt die Geschichte der Okies aus der „Dust Bowl“ anhand der leidvollen Odyssee der Familie Joad. Armin Petras der sich in dieser Spielzeit am Maxim Gorki Theater ganz dem Erzählen von Geschichten und Geschichte verschrieben hat, übernimmt diesen Plot für seine Untersuchungen der Umwelt, sozialer Migration und Zusammengehörigkeitsgefühlen von Gruppen und ist damit dem originären Anliegen von Steinbeck direkt auf der Spur.
Zu Beginn füllt ein Haus mit Papierfront und Sperrholzdach die Bühne, die Fassade wird abgerissen und verbrannt, das Dach hochgezogen. Die gesamte Familie Joad blickt in eine brennende Tonne, den Resten ihres bisherigen Lebens, der Track gen Westen kann beginnen. Petras entwickelt eine Art Roadmovie auf schiefer Ebene, eine Leinwand zeigt die Straße, Vögel ziehen vorüber und alle schlagen den Takt der Schlaglöcher und Motorkolben des alten LKWs auf die Bühnenbretter. Die ersten, die auf der Strecke bleiben sind die Alten, die sich nicht mehr so leicht verpflanzen lassen. Ursula Werner und Wolfgang Hosfeld geben ihren Figuren sehr viel Würde, selbst noch im Sterben. Sie können die Zuversicht der Jungen nicht mehr teilen, die nach einem Leben in einem anderen Land suchen oder einem neuen in der Stadt, wie Schwiegersohn Connie und die schwangere Rose of Sharon. Aus dem elektrischen Bügeleisen aus dem Katalog wird hier sogar ein ganzer Kühlschrank. Ein kleiner Traum von Luxus, der sich nicht erfüllt, nur symbolisch lässt ihn Petras später auf die Bühne hieven. Regine Zimmermann ist hier erst träumerisch naiv und dann beim Erzählen der Schlussszene, in der Rose of Sharon einem Verhungernden die Brust gibt, wie eine Allegorie der Jungfrau Maria aus dem Hohelied selbst. Die Realität von Fremdenhass und Egoismus, hat die Joads schneller eingeholt, als ihre Träume gewachsen sind. Mutter Joad ringt um den Zusammenhalt ihrer Familie, kann aber das Auseinanderbrechen nicht verhindern. Mit dem Sohn Tom und dem Wanderprediger Casy stellt Steinbeck zwei sehr unterschiedliche Protagonisten ins Zentrum seines Romans, an deren Wandlung er sehr deutlich Ursache und Wirkung von sozialer Ungerechtigkeit darstellt. Der Priester, der erst seinen Glauben an Gott verliert, dann zum Prediger eines neuen Glaubens und schließlich zum Märtyrer des Kampfes um Gerechtigkeit wird. Petras stellt ein biblisches Tableau an die Bühnenrampe. Tom wird Casy folgen und seinem erst unkontrollierten Zorn schließlich eine gezielte Richtung geben. Max Simonischek trägt lässig den Spaten, als Instrument seiner Wutausbrüche, immer mit sich auf dem Rücken.
Armin Petras setzt Steinbecks Naturalismus mit Countrymusik und passenden Kostümen um, versucht aber auch den teilweise pathetischen Realismus mit Humor zu brechen. Petras Blick auf die Figuren ist nie ein sentimentaler aber ein durchaus mitfühlender und dafür findet er auch immer wieder, mit seinem bekannten Hang zu symbolisierenden Gruppenszenen, wunderschöne Bilder. Den unschuldigen Drang nach Glück zeigt die Szene, in der sich Michael Klammer als Baum mit erhobenen Armen windet, unerreichbare Zweige symbolisierend, nach denen sich alle strecken, um an die verheißenen Früchten zu gelangen. Die Früchte der Erkenntnis prasseln dann auch aus dem Schnürboden. Wie in der Bibel ist der Preis zwar nicht die Vertreibung aus dem Paradies, aber die Abdrängung an den Rand der Gesellschaft. Ihr Traum wird nochmals ironisiert, als alle in feiner Kleidung an die Rampe treten. Wie bei Steinbeck kommt neben dem Elend zum Schluss auch wieder der Einbruch der Naturgewalten mit einer großen Regenflut. Petras kann Steinbecks Roman zwar nicht konsequent ins Heute transportieren, letztendlich dient ihm aber die Geschichte nicht nur zum Vergleich der Okies mit den ewig jammernden Ossis, sondern er geht hier vor allem wie Steinbeck weiter der These nach, „dass der Mensch für sich allein gar keine Seele hat, dass er einfach ein kleines Stück von einer großen Seele ist.“
Früchte des Zorns, Berlin: Freude, ja: Begeisterung!
wie immer bei petras ist es eine freude dem ensemble zuzuschauen.
wie immer bei petras begeistert der einsatz der musik.
wie immer bei petras erfährt man viel über die menschen.
wie immer eine große freude.danke
die "kritik" von andreas schäfer aus dem tagesspiegel grenzt an eine unverschämtheit.
Früchte des Zorns, Berlin: keine Unverschämtheit, sondern toller Text
Die Kritik von Andreas Schäfer im Tagesspiegel grenzt nicht an eine Unverschämtheit, sie ist einfach ein toller Text.
Früchte des Zorns: Nachsitzen
@ Sandor Verriss
Na, wenn das kein toller Text ist. Ich plädiere für Nachsitzen beim Lehrer mit der Wollmütze.
Früchte des Zorns: respektlos
Schäfers Text ist hämisch, altklug und respektlos.
Früchte des Zorns, Berlin: gegen Komplettverrisse
es ging bei mir so weit, dass ich aufgrund schäfers "kritik" fast nicht in das stück gegangen wäre.
weil wenn sein pamphlet ansatzweise stimmen würde, müsste man sich das stück tatsächlich nicht angucken.
würde man nur nach den kritiken ins theater gehen- was würde man alles verpassen.
es ist ja mittlerweile zur mode geworden, nur noch komplettverisse zu verfassen ohne ansatzweise die positiven aspekte, die meiner meinung nach, jede inszenierung hat, herauszustellen.
mir geht der respekt vor der arbeit der regisseure, dramaturgen und schauspieler zusehends verloren- das ist schade.
nichtsdestotrotz eine tolle inszenierung trotz schwachpunkten, die ich auch nicht verschweigen möchte; so ist mir z.b die letzte vertelstunde ein bischen zu wirr geraten, hier wäre letztlich weniger mehr gewesen.
Früchte des Zorns, Berlin: trockene Deklamation, leere Behauptung
Man nennt John Steinbecks Früchte des Zorns zuweilen einen Jahrhundertroman, zumindest einen Schlüsselroman des 20. Jahrhunderts. Nicht zu Unrecht, schließlich ist es kaum jemandem so wie Steinbeck gelungen, anhand einer spezifischen gesellschaftlichen Entwicklung die großen Menschheitsfragen zu erörtern, die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, diue Möglichkeit und Grenzen menschlicher Beziehungen, die Bedeutung der Familie für Individuum wie Gesellschaft. Steinbecks Sujet ist die Vertreibung hunderttausender Bauern und Landarbeiter aus dem so genannten "Dust Bowl", insbesondere Oklahoma in den Dreißigerjahren und ihre Verwandlung in wandernde, nomadisierende, entwurzelte Erntehelfer. Die Bedeutung uns Wirkungsmacht des Buches geht jedoch weit darüber hinaus.

Es ist sicher keine Überraschung, dass es ausgerechnet Armin Petras ist, der gerade erst O'Neills Ein Mond für die Beladenen auf die Gorki-Studiobühne gebracht hat, der diesen in einem ähnlichen Umfeld spielenden Roman auf die Bühne bringt. Oder besser, der es versucht. Denn schon zu Beginn, als die Joad-Famile, auf die sich Petras hier konzentriert, noch zu Hause ist, wozu Olaf Altmann eine papierne Hausfassade an den Bühnenand geklebt hat (wenn die Familie loszieht, wird das Papier abgerissen), wird klar: Dieses mächtige Werk entzieht sich einer dramatischen Bearbeitung, zumindest in seiner Gesamtheit. Als einziger Ausweg erscheint, sich einen Teilaspekt herauszupicken - die Entscheidung, alles auf die Familie Joad zu konzentrieren, lässt vermuten, dass Petras sich dessen beusst war. Allein: Er versucht, alle wesentlichen Themen des Romans durchzuarbeiten. Das muss scheitern und das tut es auch.

Ist die Papierfassade erst einmal eingerisse, inszeniert Petras Steinbecks Gesellschaftspanorama als Roadmovie. Die Akteure sitzen oder stehen auf einer schrägen Rampe, rhythmisches Stampen symbolisiert die Fahrt, auf der Videowand erscheinen mal Highway-Bilder, mal Wildenten, hin und wieder wird ein Modell-Truck umhergetragen, später ein Motor, wenn sie eine panne haben, quillt Rauch aus dem Spielzeug-Laster - subtil ist das alles nicht. Wie bei einem echten Roadmovie erscheinen immer mal wieder neue Figuren, die schnell wieder verschwinden, die Personage der jeweiligen Haltepunkte. Meistens sind es Cops oder andere Gauner, die den Entwurzelten das Leben schwer machen. Egal wem sie begegnen - mit Ausnahme vielleicht des Camp-Wächters - jeder versucht sie zu schikanieren, auszubeuten oder übers Ohr zu hauen. Die Botschaft ist klar, doch der Holzhammer schmerzt.

Problematisch ist auch die Charakterisierung: Tom Joad (Max Simonischek) erscheint als spätpubertärer, grenzdebil grinsender und intellektuell entwas unterbelichteter Hooligan mit mangelnder Selbstbeherrschung. Wenn er am Ende seine revolutionären Thesen zum Besten gibt, ist das an Unglaubwürdigkeit und bizarrer Entgegengesetztheit zu seiner Charakterisierung kaum zu überbieten. Regine Zimmermann als Rose wechselt zwischen naiv-gutgläubig und hysterisch, ohne Zwischentöne zuzulassen, Julischka Eichel spielt Mutter Joad mit unerbittlicher Ernsthaftigkeit fast bis zu Erstarrung, die anderen Figutren bleiben durchgängig blass. Einzig die Großeltern (Ursula Werner und Wolfgang Hosfeld) vermögen kurz zu berühren.

Der ganze Aufbau ist statisch. Zunächst wird die Handlung gespielt, doch wirkliche Interaktion findet kaum statt, die Dialoge werden mehr zum Publikum gesprochen als zueinander. Später werden unvermittelt Erzählerpassagen eingestreut, willkürlich von der einen oder anderen Figur gesprochen. Das wirkt etwas rat- und hilflos - wie auch der Versuch, das familiäre Leiden zur Folie für die großen Themen zu machen, wie es Steinbeck in seinem roman tut. Das bleibt trockene Deklamation, leere Behauptung, sinnentleerte Worthülsen. Ein Fremdkörper im Stück, aufgesetzt, aber ohne Verbindung zum rest des Geschehens.

Womit wir beim Grundproblem wären: Petras gelingt es nicht im Ansatz die xxx Seiten des Romans auf drei Stunden Theater zu reduzieren, auch weil er sich nicht entscheiden kann, etwas wichtiges Auszulassen. Und so wird der Abend zu einer losen Abfolge mehr oder weniger dramatischer Skizzen, in denen alles nur Andeutung bleibt und nichts eine Chance hat, sich zu entwickeln, greif- und erlebbar zu werden.

Warum alle paar Minuten wechselnde Darsteller Johnny-Cash-Songs singen, erschließt sich übrigens auch nicht.

http://stage-and-screen.blogspot.com/
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