Der Prototyp des 21. Jahrhunderts

von Elske Brault

Hamburg, 7. Januar 2011. Könige sind sie für einen Abend, die 22 jugendlichen Flüchtlinge aus aller Welt, die sonst vor der Ausländerbehörde Schlange stehen für die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung. Sie strahlen in ihren bunten, Pailletten besetzten Kostümen, sie strotzen nur so vor Selbstbewusstsein. Anderthalb Stunden lang haben sie das Publikum durch alle Stationen eines klassischen indischen Dramas geführt. Es gehe um Rasa, hat die Choreografin Varsha Thakur erklärt: "Rasa ist der Saft, 'the essence'. Wir, die Performer, tanzen und spielen, und ihr bekommt den Saft." Das ist offensichtlich gelungen: Am Ende springen die Zuschauer von den Stühlen und rufen "Zugabe!".

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© Hajusom

Und noch einmal tanzen die Darsteller mit Hände-Klatschen und Füße-Stampfen jene simple und doch so effektive Bollywood-Performance, die uns zu Beginn mitgerissen hat in eine exotische, sentimentale Traumwelt.

Wie eine Großfärberei in Bangladesh

Dort führt uns ein indischer Filmproduzent in goldbesticktem weißen Ornat (Omied Khademsaba) Szenen aus seinen Erfolgsstreifen vor. Oder genauer: Eine Szene in drei Versionen. Nur der Ton in einer unverständlichen Sprache – womöglich Hindi? – wird eingespielt, in einer lippensynchronen Pantomime spielen drei Paare das Geschehen dazu. Das erste Paar führt eine sanfte Verführungsszene vor, das zweite ist – zum selben Text – bereits innig vereint, er macht ihr einen Heiratsantrag. In der dritten Version lehnt die junge Frau ihren Verehrer ab und macht sich über ihn lustig. Ohne es zu ahnen, sind wir mittendrin im ersten Rasa: Liebe.

Acht Rasas nämlich – Grundstimmungen – gibt es, erläutert Varsha Thakur, jedem ist eine Farbe zugeordnet. Damit wird auch klar, was die Kleiderhaufen in orange, grün oder rot zu bedeuten haben, die die Bühne zu Beginn haben aussehen lassen wie eine Großfärberei in Bangladesh. Die Darsteller streifen sich entsprechend den Rasas jeweils ein andersfarbiges Oberteil über die Jeans: Das zweite Rasa ist "Lachen", weiß, dann folgen Kummer, grau, Heldentum, gold, Angst, schwarz, Ekel, blau, Wut, rot und Staunen, gelb.

Trauriges Lied Heimat

Mit Filmszenen, Tänzen und kleinen Erzählungen erzeugen die Hajusom-Darsteller die jeweilige Emotion: Eine Afrikanerin (Mariama Babjie) schildert, wie wichtig ihr das Lachen sei, sie lache immer, "auch in der Ausländerbehörde". Spätestens bei diesem Satz lacht das Publikum mit.

So flechten die Regisseurinnen Ella Huck und Dorothea Reinicke persönliche Erfahrungen oder kulturelle Wurzeln der Hajusom-Teilnehmer mit ein, ohne dass hier einer platt die eigene Geschichte spielen müsste. Bei "Kummer" singt die aus dem Iran stammende Sahar Eslahi ganz allein ein trauriges Lied aus ihrer Heimat ins Mikrofon, eine einfache Moll-Melodie in Halbtonschritten: Mit jeder Strophe steigert Eslahi die Intensität, bis einem wirklich die Tränen kommen. Der Abschnitt "Wut" dreht sich um das Gefühl, niemals anzukommen in Deutschland: "Du kommst in eine neue Gesellschaft. Und du merkst, du wirst hier nicht akzeptiert," rappen drei dunkelhäutige Darstellerinnen. Begleitet werden sie vom Bühnenrand her vom Sitarspieler Ashraf Sharif Khan und von Viktor Marek am Synthesizer, der mit wummernden Beats den Tanz- und Gesangseinlagen die nötige Wucht verleiht.

Die einen tauchen auf, die anderen tauchen unter

Es macht einfach ungeheure Freude, 22 so unterschiedliche Individuen aus aller Welt zu beobachten: Sie bewegen sich bei den Bollywood-Szenen synchron, und doch interpretiert jeder mit kleinen Abweichungen, in seiner ganz eigenen Körpersprache die vorgegebenen Bewegungsmuster. Diese Vielfalt und der Stolz, mit dem die jungen Einwanderer sich präsentieren, machen den speziellen Reiz dieses Laientheaters aus. Manches erinnert an die Tanzabende von Royston Maldoom: Auch er schafft mit einem intensiven Training der Selbstdarstellung ("Focus! Focus! Focus!") berührende Kunstwerke von Nicht-Künstlern.

"Bollyland" ist die mittlerweile elfte Produktion des Flüchtlingstheaters "Hajusom" – und eine besonders gelungene. Die Darsteller wechseln, denn, wie es auf der Webseite der Gruppe heißt: "Einige werden abgeschoben, andere tauchen unter." So also sieht sie aus, die globale Einwanderer-Welle, von der, glaubt man Thilo Sarrazin, Deutschland sich abschaffen lässt.

Die Uraufführung "Hajusom in Bollyland" ist das Herzstück des viertägigen Programms "Echt – Migrationsformate" in der Kampnagelfabrik Hamburg. Kurator Branko Simic, aus Serbien eingewanderter Theaterregisseur, behauptet: "Multikulti ist nicht tot". Und tritt den Beweis an mit seinem eigenen Film über Fußballstar Gerald Asamoah, den ersten farbigen Spieler in der deutschen Nationalmannschaft. Es ist schlicht ein zwölfminütiges Interview, starr ist die Kamera auf Asamoahs Gesicht gerichtet, sein sympathisches Lachen.

Der Schnurrbart als Schutzschild

Man erfährt, dass der Schalke-Spieler mit 21 Jahren auch von seinem Geburtsland Ghana in die Nationalmannschaft eingeladen war – er wurde jedoch mit den ehemaligen Landsleuten nicht recht warm, empfand sie als unpünktlich (!) und schlampig (!). Deutschland schafft sich wohl doch nicht ab: Es impft seine Tugenden sehr erfolgreich den neuen Mitbürgern ein.

Auch die zweite Video-Arbeit des Mini-Festivals erzählt eher, wie Migranten sich rasch von den eigenen Wurzeln entfernen: Die Schweizer Künstlerin Tatjana Marusic hat Fotos aus ihrem Familienalbum abgefilmt und berichtet so in poetischer Verklausulierung, wie ihre Eltern ganz allmählich die Heimat verloren: Als Saisonarbeiter waren sie aus Bosnien gekommen, dann blieben sie für immer. Die Tochter versucht nun, Geschichten, Gedichte, Lieder aus der Vergangenheit auf Bild-und Tonträgern festzuhalten.

Der Zwei-Staaten-Mensch, diesen Eindruck erwecken die Festivalbeiträge, ist der Prototyp des 21. Jahrhunderts. Ein Wanderer zwischen kulturellen Welten, mit geschärfter Wahrnehmung für deren jeweilige Ausgestaltung. Der eindimensionale Sarrazin, der sein Deutschland wie seinen Schnurrbart als Schutzschild vor sich her trägt, wirkt daneben ein bisschen arm.

 

Hajusom in Bollyland (UA)
von und mit dem Ensemble Hajusom
Konzept und Künstlerische Leitung: Ella Huck, Dorothea Reinicke, Choreographie: Varsha Takur Musik: Viktor Marek, Ashraf Sharif Khan.
Mit: Alikhan Ahmadi, Mariama Babjie, Mamadou Bah, Amelon-Maria Comoe, Zandile Darko, Francesco di Bari, Ousmane Diallo, Sahar Eslahi, Farzad Fadai, Aminatu Jalloh, Omied Khademsaba, Stefanie Kyei-Anti, Aimee Nhung Lee, Isaac lokolong, Arman Marzak, Sarah Owusu, Maziyar Rezaei, Rahmat Rezaei, Dennis Robert, Priscilla Schätz, Bernard Schätz.

www.hajusom.de
www.kampnagel.de



Kritikenrundschau

Das Inszenierungstrio Ella Huck, Dorothea Reinicke und Katharina Oberlik nutze "in der farbigen, mitreißenden, einfallsreich und klug montierten Tanz-Show (...) den Hype um das große Gefühlskino", schreibt Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (10.1.2011). "Sie erzählen aber auch etwas von den Geschichten der 20 Mitspieler und ihren Schicksalen und vermitteln beiläufig und zwanglos: Das gefürchtete Fremde ist so fremd gar nicht. Denn alle Menschen kennen Angst, Ekel, Kummer, Liebe und Wut - nur der Umgang damit ist individuell und kulturell anders." Das Finale bewirke "beim Publikum einen Begeisterungsausbruch. Ein Erfolg im doppelten Sinn für diese geist- und energiesprühende, so gar nicht verkopfte Lektion in Gefühslausdruck und sinnlicher Körperlichkeit, die beweist: Die Gefühle und die Kunst sind weltumspannend."

 

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