Entertainer der Verantwortungslosigkeit

von André Mumot

Hannover, 8. Januar 2011. Er weiß, wo er hingehört. Schließlich kommt dieser Lederjacken- und Schlabberhosen-Don Juan schon bei seinem ersten Auftritt unter erheblicher Qualmentwicklung aus der Bühnentiefe hinaufgefahren. Lässig hockt er auf einem Campingstuhl, raucht und schert sich scheinbar nicht um andere. Am Schluss wird er dann aber vergeblich den Boden abklopfen und "Feuer! Rauch! Bombastische Musik!" einfordern.

Er weiß: "Höllenfahrt muss sein." So sieht es das Ende der alten Geschichte vor, ohne Frage, aber um 1665, als Molière seine subversive Sünderkomödie schrieb, öffneten sich die Pforten zur ewigen Verdammnis eben weitaus schneller. Was hat er denn nun eigentlich angestellt, der Don Juan? Hauptsächlich natürlich Damen verführt, da "die ganze Lust der Liebe aus Abwechslung besteht". Wäre vielleicht nicht so empörenswert, aber er heiratet eben auch vergleichsweise häufig – etwa einmal im Monat. Der Mann ist also praktizierender Sakramente- und Gotteslästerer, der nur daran glaubt, dass zwei und zwei vier sind, und überdies seine Schulden nicht bezahlt. Das wäre es so in etwa.

Dreistes Kind mit Bart

Für seine hannoversche Inszenierung hat Regisseur Sebastian Schug die Beweisaufnahme offenbar mit einiger Skepsis durchgeführt und festgestellt, dass man einem derartig banalen Allerweltsverderber kaum den großen Prozess machen kann. Es sei denn, man findet hinter der Schwerenöterei noch ein tiefer sitzendes Übel. Es dauert allerdings eine Weile (vielleicht zu lange) bis klar wird, dass hier nicht die Untreue zum Skandalon werden soll, sondern die Selbstdarstellung. Nicht der Sex ist das Problem, sondern das Spiel.

Damit das Theater also vor der eigenen Türe kehren kann, hat Christian Kiehl auf der Vorbühne einen Backstage-Warteraum errichtet, samt Lümmelcouch aus schwarzem Leder und Glühbirnenschminkspiegel. Hier legen die Darsteller Kostüme, Perücken, Posen an und häufig wieder ab, wechseln ihre Rollen und bieten Aljoscha Stadelmanns Don Juan damit seine Angriffsflächen. Untypischerweise ist dieser Womanizer untersetzt, und sein Charme besteht vor allem aus Dreistigkeit. Er ist nicht der gepflegtesten einer, aber Komplimente machen kann er. Er pöbelt und heuchelt, ist schnell mit den Nerven runter, verliert rasch die Lust an jedem Spielzeug. Er ist ein Kind mit Bart, das beschäftigt, aber nicht belastet werden will.

Doch wenn er gut drauf ist, stellt er zusammen mit seinen Spielgefährten aufs Furioseste den Untergang eines Bootes nach: Da werden Tische umgedreht und Wasserflaschen ausgegossen, es wird mit froher Lust in der Luft gerudert, wiederbelebt und gespuckt. Und anschließend, nach weiteren chaotischen, auch fürs Publikum bisweilen anstrengenden Rendezvous- und Fecht-Episoden, singt das Ensemble ihm zu Ehren immer wieder mit schmerzlicher Traurigkeit den aktuellen Rihanna-Hit: "I love the way you lie".

Keine Lust mehr auf Posse

Eine ganze Weile zermahlt das Farcenräderwerk so die unterschwellige Tristesse und bringt dann und wann einige Lacher ein. Manchmal tritt jedoch Philippe Goos als oppurtunistisch moralisierender Diener zum Rauchen in den Hintergrund und in seinem Gesicht erscheint, worauf die Komödie konsequent zusteuert: Abscheu, Überdruss. Irgendwann ist es dann so weit. Vielleicht, weil Don Juan zu laut, zu penetrant, zu großmäulig geworden ist, vielleicht aber auch, weil die Zeiten sich geändert haben. Keine Lust mehr auf Posse. Das Ensemble tritt ab, setzt sich in die erste Reihe. Aljoscha Stadelmann bleibt zurück. Er hat noch den ganzen fünften Akt zu spielen. Er bettelt, will seine Mitspieler zurück. Sie kommen nicht. Erst ist er beleidigt, dann windet er sich. Er weiß es noch nicht, aber die Strafe ist schon da: Die Hölle – das ist ohne die anderen.

Sebastian Schug macht Don Juan mit beeindruckender Konsequenz zum Stellvertreter eines selbstgefällig juxenden Theaters, zum Entertainer der Verantwortungslosigkeit, der verzweifelt um Musik fleht, um immer neue Ablenkung: "Macht doch mal was Schönes!", kräht Stadelmann, und spielt sich dann sein eigenes Stück zu Ende. Mimt das Gespenst, das ihn vorm Untergang warnt, indem er sich das Tischtuch über den Kopf zieht. Er albert herum, zitiert allerhand Dramenklischees, versucht, noch im Todeskampf das Publikum zum Lachen zu bringen, giert in seiner ruppigen Komödiantenagonie weiter und weiter nach Aufmerksamkeit.

Es dauert lange, bis er den Geist aufgibt, und der Weg dorthin ist eine überschäumende, nervtötende, quälerische One-Man-Show. Als er endlich still ist, kehrt das Ensemble zurück. Zum Abschied. Der Sieg der Spielverderber aber ist trist und etwas unheimlich. Es ist, als habe man hier die Frivolität selbst zu Grabe getragen. Übrig bleibt klammer Ernst. Und eben doch: ein Verlust. Philippe Goos, der Diener, der kein Spieler mehr sein wollte, schaut jedenfalls auf und sagt: "Ich bin nicht glücklich."

 

Don Juan
von Jean-Baptiste Molière
Deutsch von Simon Werle
Inszenierung: Sebastian Schug, Bühne: Christian Kiehl, Kostüme: Nicole Zielke, Musik: Johannes Winde, Dramaturgie: Vivica Bocks, Fechtchoreografie: Klaus Figge.
Mit: Aljoscha Stadelmann, Philippe Goos, Mareike Hein, Sebastian Hülk, Alexander Schröder, Johanna Kitzl.

www.staatstheater-hannover.de

 

Mehr Molière? Im September 2009 inszenierte Ivo van Hove Der Menschenfeind mit Lars Eidinger.

 

Kritikenrundschau

Molières "Don Juan" sei eine Komödie, schreibt Ekkehard Böhm in der Hannoverschen Allgemeinen (10.1.2011), "obwohl in ihr einiges geschieht, was straf- oder zumindest moralisch fragwürdig ist: Totschlag, Entführung, Körperverletzung, Betrug". Sebastian Schug mache in seiner Inszenierung "noch mehr daraus: eine Burleske." Ein Merkmal der Burleske sei "die derbe Situationskomik. Mit solcher peppt Schug Molières monolog- und dialogträchtiges Stück kräftig auf. Die Action, über die bei Molière im Nachhinein oder aus der Mauerschau berichtet wird, kommt hier überdreht auf die Bühne." Aljoscha Stadelmann sehe "nicht gerade so rank und schlank aus, wie man das Molières Text entnehmen kann, auch wirkt er nach Auftreten und Aufzug leicht prollig. Aber das ist auch eine Art, um Don Juans Verachtung für und seinen Spott über die Mitwelt deutlich zu machen." Alle in allem sei die Aufführung "eine runde vergnügliche Sache".

"Wenn Don Juan in aller Welt als das Bild eines Grandseigneurs gilt, dann wirkt er in Hannover wie ein heruntergekommener Rocksänger", meint Ulrich Fischer auf Deutschlandradio (8.1.2011). Und "um dem Fass die Krone ins Gesicht zu schlagen, ist Aljoscha Stadelmann als Don Juan nicht etwa schlank, sondern im Gegenteil: Er neigt zur Korpulenz. Wie soll ein solcher Mann schöne Frauen becircen? (...) Das ist die zentrale Frage, die Sebastian Schug in seiner Neuinszenierung von Molières Komödie aufwirft - und nur ansatzweise beantwortet." Das siebenköpfige Ensemble spiele "engagiert, allen voran Aljoscha Stadelmann – trotzdem gab es immer wieder zähe Passagen." Schugs Interpretation sei zwar originell, aber es sei auch "der Eindruck unabweisbar, Schug wolle es nun endlich zwingen, jetzt müsse der unerhörte Erfolg her. Aber der ist nicht gelungen. Trotz aller Längen eine sehenswerte Inszenierung, eine diskussionswürdige Interpretation – aber mehr auch nicht."

Allein die "Hemmungslosigkeit" mache Don Juan, den "Gott der Promisken", in Schugs Molière-Inszenierung "attraktiv", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (11.1.2011). Jedoch ist es eine Hemmungslosigkeit ohne gesellschaftliche Angriffsfläche: "Wo man der sittlichen Ehre nicht mehr mit den Mitteln der Rücksichtslosigkeit spotten muss, wie im katholischen Feudalstaat, da ist auch die Rebellion nur eine Pose, der Betrug schmerzfrei und der nomadisierende Priap eine mal lächerliche, mal coole Gestalt." Entsprechend werde aus dem "Aufstand der Hormone" in diesem "'Don Juan' der Game-Show-Generation" auch kein Drama, sondern ein "Schwank über die Hohlheit im Geiste des Pop-Theaters – aber der ist wenigstens unterhaltsam."


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