Die Raupe in der Parklücke des Nichts

von Christian Rakow

Berlin, 12. Januar 2011. Man muss sich das Erlebnis dieses Abends vorstellen, wie den Besuch bei einem Zauberer am Ende einer langen Tournee: Wenn er seinen Zylinder lüftet, wird sich ein Schmetterling darunter in eine Raupe1 zurückverwandelt haben, lautet sein Versprechen. Und er lüftet den Zylinder, doch nichts da. Und er lüftet ihn abermals. Und wieder und wieder. Bis sich nach endlosen Versuchen doch eine große, alles umströmende Verzauberung ausbreitet. Nicht weil der Schmetterling wirklich zur Raupe geworden wäre. Sondern weil wir uns in dieses endlose Hutlüften verliebt haben, in das Beharren auf dem Denkmöglichen, in das verstiegene Wagnis, Zeit und Sein zu verkehren.

Soll heißen: Es gab schon Abende von René Pollesch in Berlin, die breiter und überraschender angelegt waren als dieser. Im letzten Januar zum Beispiel, als Fabian Hinrichs in Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang so auratisch wie schwerelos den gähnend leeren Raum der Volksbühne bespielte und ganz nebenher ein raffiniertes Theoriesample aus Robert Pfallers Interpassivitätsdenken und Jean-Luc Nancys Körperphilosophie vorstellte.

Physiker des Gedankens

Aus jener Beschäftigung sind im diesjährigen Neujahrsopener an der Volksbühne "Schmeiß dein Ego weg!" allein Nancys Reflexionen (nachlesbar im Essay "Corpus") übrig geblieben. Und deren Essenz wird uns mit fast schon monotoner Beharrlichkeit einmassiert: "Die Seele ist eine Außenbeziehung des Körpers mit sich selbst." Wer das Ego entsprechend fassen möchte, muss nicht in der Innerlichkeit, in den Tiefen der Psyche und in den romantisierenden Erzählungen von ihr wühlen. Diese Auffassung von Individualität darf getrost weggeschmissen werden. Im materialistischen Spin des Subjektdenkens zählen das Hier und Jetzt diesseits der Begriffe, die physische Präsenz, die Berührungen zwischen singulären, vergänglichen Körpern.

Bert Neumann hat diesem Versinnlichungsdiskurs einen prägnanten Raum errichtet. Die vertäfelten Seitenwände des Saals sind auf der Bühne reproduziert und schließen die Spielfläche kurz hinter der Rampe ab. Die virtuelle "vierte Wand" ist ganz Raumtrenner geworden. Dahinter (per Video einsehbar) schaut eine Kaminbehaglichkeit ein bisschen aus wie in Polleschs Boulevardstücken à la L'affaire Martin, davor ist's eine Reminiszenz an Diktatorengattinnen. Durch zwei Öffnungen in der Wand hindurch wandern acht jugendliche ChoristInnen in weißer Astro-Kluft sowie die Physiker des Gedankens: Christine Groß, Martin Wuttke und Margit Carstensen.

Verweigerungsvolle Liebesgeständnisse

Und sie bringen den Zauber. Er verdankt sich weniger dem gewohnt heiteren, virtuos staunensbereiten Zergrübeln des Vierte-Wand-Illusionismus. Und er gründet auch nur zum Teil darin, dass theatergeschichtliche Volten besonders viel Spaß machen, wenn die große Margit Carstensen erstmals bei Pollesch dabei ist, die in ihrer Arbeit mit Rainer Werner Fassbinder und zuletzt mit Christoph Schlingensief selbst Theatergeschichte geschrieben hat. (Und wohl noch nie hat jemand bei Pollesch den irrlichternd eloquenten Martin Wuttke so graziös als "zappelig" gemaßregelt).

Nein, es ist vor allem ein Abend, der langsam, aber stetig eine ganz eigene, seltene Intimität entwickelt. Die angeschrägten, verweigerungsvollen, sentimental-unsentimental monologisierten Liebesgeständnisse des René Pollesch gehören zum Berührendsten in der deutschen Dramatik. Lange hat man sie nicht so eindringlich vernommen wie im letzten Drittel dieses Stückes zwischen Wuttke und Carstensen. "Warum konnten wir uns nichts mehr sagen. Ja, ich weiß, du hast es versucht. Du hast mich mit deinem Motorroller verfolgt und wolltest mich sprechen und ich hab gewendet und woanders eingeparkt in das Nichts, in den Tod, keine Ahnung", richtet sich Wuttke still, doch ruhelos an Carstensen.

Das Heraustreten aus dem alten Ego und seinen gestanzten Selbstbegriffen um Liebe und Verwirklichung führt nicht in ein diskursumwölktes Nirwana. Führte es noch nie bei Pollesch. Es führt ins Miteinander der Akteure. Margit Carstensen bleibt in aller diskreten Anmut diese Pointe vorbehalten: "Die Sprache suchen die", sind ihre letzten Worte. Es ist die Sprache unter der Sprache. Die Sprache der Körper.


1 Die Raupe aus dem Intro entstammt einem Gedicht, das Margit Carstensen (im Rückgriff auf Woody Allen) vortrug, samt anschließendem Dialog:

"Carstensen: Ein Knabe fing einen Schmetterling / und als er am Abend nach Hause ging /
da sprach er zu sich: / Wie verhalte ich mich / und helfe den anderen Menschen? / Der Schmetterling aber hatte lautlos gehandelt / sich nach und nach in eine Raupe verwandelt / mit allerletzter Kraft.

Gross: Es hat Tiefe!

Carstensen: Gefällt es Dir wirklich?

Gross: Ja. Bis auf eine Kleinigkeit. Sie verwandeln sich nämlich vom Stadium der Raupe in das Stadium des Schmetterlings. Nicht umgekehrt.

Carstensen: Bist du sicher? Bist du ganz sicher? Verdammt! So ein Mist! Immer mach ich was falsch! Scheiße!"


Schmeiß dein Ego weg! (UA)
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Frank Novak, Video: Ute Schall, Dramaturgie: Aenne Quiñones.
Mit: Margit Carstensen, Christine Groß, Martin Wuttke, Chor: Jeremias Acheampong, Tim Fabian Bartel, Sarah Gailer, Silvana Schneider, Irina Sulaver, Marlon Tarnow, Marcus Tesch und Paula Thielecke.

www.volksbuehne-berlin.de

 


Kritikenrundschau

Drei Metaphern genügten René Pollesch diesmal, berichtet Eberhard Spreng auf Deutschlandradio Kultur (12.1.2010): die vierte Wand, der Körper und die Seele sowie "drittens, ein Chor mit futuristischem Dress aus die Vorderbühne und verkündet, dass man nicht den inneren Wert eines Geldscheins (seine Kaufkraft zum Beispiel) betrachten sollte, sondern lediglich seine papierene Oberfläche. Wir haben schon verstanden: Weg mit den Vorstellungen, den Projektionen, den Träumen und Hoffnungen! Es lebe das Material" Pollesch gehe es dabei "wie seinen Geldscheinen. Wo Geld nur noch durch Geld gedeckt ist, ist Pollesch nur noch nur Pollesch gedeckt und die Erinnerung an seine größere Taten."

Ganz anders Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (14.1.2010). Er versucht, Pollesch für Ahnungslose zu erklären und muss dafür mehr als einmal kräftig Luft holen. Ein Großteil des Theatervergnügens bestehe darin, Martin Wuttke, " galant in Uniform mit üppigen, goldfransigen Epauletten, dabei zu beobachten", wie er den Grundirrtum der Holz gewordenen aus der Welt schaffen wolle. "Wenn dann eine Stunde rum und der Abend fast aus ist, stellt die von Melancholie und Lebenserfahrung verschönerte Margit Carstensen die einfache Grundfrage: 'Sprechen, wir beide, wie soll das gehen?' Seit Pollesch Theater macht, versucht er, bevor er einfach losspricht, diese Frage zu beantworten. Er sagt viel damit. Es wird ihm nicht langweilig."

Einigermaßen enttäuscht hingegen ist Christine Wahl im Tagesspiegel (14.1.2010). Erwartungsfroh ob Titel und Besetzungsliste habe sich das Publikum in der Volksbühne eingefunden. Und ja, sicher: "Wenn Martin Wuttke sich in seiner antiquierten Uniform, die vermutlich aus dem Fundus für irgendeinen 'Hauptmann von Köpenick' stammt, von Margit Carstensen wegen seiner Zappeligkeit zurechtweisen lässt, hat das Charme und Unterhaltungswert." Aber Polleschs Text habe im Vorgänger-Abend "Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!" schärfer und witziger geklungen, auch Jean-Luc Nancys Theoreme zur Materialität von Körper und Seele seien von dort bereits bestens vertraut. Immerhin: Witz habe der Abend dann doch, auch "bemühen sich die schauspielerischen Hochkaräter nach Leibeskräften, das gewaltige Präsenzversprechen adäquat einzulösen" und gebe es mit Margit Carstensens neuem Ton zum Schluss ein "großes kleines Finale".

So weit, so lustig, dieser Pollesch-übliche Spott, meint Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (14.1.2010). " Kein Wunder, dass Martin Wuttkes Doktor Duval, der Neuankömmling in dieser verdrehten Welt, wie eine Ratte im Käfig auf der Suche nach einem Ausweg im Kreis rennt: Immer an der Wand lang. Kommentar der indignierten Salon-Diva und mit Abstand coolsten Bühnen-Bewohnerin Frau Luna, gespielt von der verehrungswürdigen Margit Carstensen, die ihrer Figur kühle Grandezza und eine wunderbar mokante stiff upper lipp schenkt: 'Sie zappeln.' Womit in diesem Augenblick vermutlich nicht nur der arme Martin Wuttke, sondern im Prinzip alle Schauspieler des konventionellen Theaters gemeint sein dürften." Etwas müde und routiniert sei das dennoch alles. In einer Schlussvolte dekuvriert Laudenbach Pollesch als  "ein erfreulich wertekonservativer Regisseur, bei dem in guter Hochstapler-Manier noch Dialoge aus der 'Nackten Kanone' wie tiefsinnige Debatten über das Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt klingen."

Begeisterter ist Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.1.2010): Uralte Themen treiben Pollesch um, und zunächst sieht auch Bazinger das übliche Pollesch-Theater. eloquent und witzig.
"Aber dann beginnt Margit Carstensen als Luna ihren Schlussmonolog. Per Videokamera wird ihr unbestechliches Tragödinnengesicht wie eine Erscheinung hoch oben auf die Rückwand projiziert. Und während sie zu Martin Wuttke als Jacques spricht, der nach zweihundert Jahren aus dem künstlichen Tiefschlaf geweckt wurde, ist es, als spräche jetzt das Theater persönlich: von Euphorie und Erinnerung, Verlangen und Vergeblichkeit, Leben und Tod. Und von der Sprache, die es immer wieder für veränderte Wirklichkeiten zu erfinden gilt, um nicht zwischen Floskeln und Platituden verlorenzugehen." Dank ihrer brüchig bewegten, nervös grundierten Stimme, die sich von Satzteil zu Satzteil sammelt und streut, wachse die Uraufführung über sich hinaus. Ihr Fazit: "Das alles sieht lustig aus, ohne die Verzweiflung zu kaschieren, die melancholisch und zart unter den absurden Selbstvergewisserungen durchschimmert. Das Theater ist tot, sagt René Pollesch hier, es lebe das Theater."

 

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