Zwischen Türkentaschen

von Rainer Petto

Kaiserslautern, 13. Januar 2011. Die Bühnenfigur Fatma und die Autorin, die Regisseurin und die Bühnenbildnerin – keine ist älter als 29. Allerdings hat das junge Uraufführungs-Team am Pfalztheater in Kaiserslautern schon einige Preise verliehen bekommen, Azar Mortazavi für "Todesnachricht" den Else-Lasker-Schüler-Stückepreis (d.i. der Förderpreis), Antje Schupp den Debütförderpreis der Landeshauptstadt München und Evi Bauer den Offenbacher Löwen für Bühnenbild. Eine Garantie für einen gelungenen Theaterabend ist solch geballte Nachwuchsaufmerksamkeit natürlich nicht.

Mortazavis Stück ist in der Anlage schlicht: Fatma, die Tochter, und Annabelle, die Mutter, begegnen sich zum ersten Mal seit vielen Jahren. Fatmas Vater ist zwar unheimlich präsent, aber tot. Die Familie hatte er früh verlassen, mit sechzehn war die Tochter ihm in die große Stadt gefolgt.

Handgreiflichkeiten beim Wiedersehen

Fatma hasst ihre Mutter und das Milieu, in dem sie lebt, vergöttert hingegen den Vater und das Land, aus dem er stammt. Der Lehrer hat Fatma als Türkin bezeichnet, dass der Vater Algerier war, interessierte ihn nicht – Ausländer ist Ausländer. Die Mutter hat sich für das so fremdartig aussehende Kind geschämt. Die frühe Erfahrung des Andersseins, der Ausgrenzung hat das Mädchen geprägt. Sie war ein wütendes Kind. Für den Verlust des Vaters hat es sich an der Mutter gerächt. Wenn die beiden Frauen jetzt in Fatmas Wohnung aufeinander treffen, setzen sich die gegenseitigen Verletzungen fort, bis hin zu Handgreiflichkeiten.

Azar Mortazavi studiert Kreatives Schreiben in Hildesheim. Das Pfalztheater deutet für "Todesnachricht" autobiographische Bezüge an: Die dargestellten Konflikte seien der Autorin nicht fremd, als Tochter eines Iraners und einer Deutschen sei sie in einer deutschen Kleinstadt aufgewachsen, aber mit 16 Jahren zu Hause ausgezogen und betrachte heute den Iran, wo sie während der Sommerferien auch lebe, als ihre zweite Heimat.

Vaterbild mit Rissen

Gott sei Dank helfen uns diese Informationen beim Verständnis des Stückes gar nicht. Hier weint sich niemand aus, hier rächt sich niemand, hier werden wir nicht Zeugen eines Wutausbruchs – es sei denn, eines erkalteten. Wir befinden uns im Stadium der Analyse.

Susanne Ruppik spielt zum dritten Mal in einem Else-Lasker-Schüler-Preis-Stück die Mutterrolle. Diesmal darf sie differenzieren, kann die Figur entfalten. Im Lauf des Stückes lernen wir, und lernt die Tochter, dass diese Frau, die so unsensibel in die Wohnung der Tochter einfällt und so tut, als könne sie irgendwie an eine normale Mutter-Tochter-Beziehung anknüpfen – dass diese Annabelle eine Überforderte war, die nach dem Abgang des Mannes allein für den Lebensunterhalt sorgen, die Vorurteile ihrer Umwelt ertragen und die Ablehnung durch die Tochter aushalten musste.

Gleichzeitig bekommt das Bild des idealisierten Vaters Risse. War er ein Drückeberger, ein Lügner? Warum hat er nie etwas von sich erzählt? Fatma dämmert es, dass sie eigentlich nichts über ihn weiß und dass sie über sein Land möglicherweise nur Klischees im Kopf hat. Elif Esmen, die in dieser Spielzeit beim Pfalztheater ihr erstes festes Engagement hat, verkörpert - bestimmt nicht nur wegen ihrer "deutsch-türkischen Herkunft" - überzeugend diese junge Frau mit der tiefen seelischen Verletzung.

Zuckerwatte und Gartenzwerge

Auf der kahlen Bühne sehen wir nichts als eine Mauer aus sogenannten Türkentaschen. Die bunt-karierten Plastiktaschen hat Bühnenbildnerin Evi Bauer an den Kanten verstärkt und zu einem mächtigen Block aufgebaut, gewissermaßen randvoll mit bösen Erinnerungen. Sie repräsentieren Ordnung und Unordnung, enthalten Zuckerwatte und Gartenzwerge, erinnern an die Silhouette einer Kleinstadtsiedlung und an Grabsteine, werden von innen beleuchtet und entlassen Geräusche, eignen sich zum Verkriechen und zum Druckablassen, dienen, auch im wörtlichen Sinn, als Projektionsfläche.

Scheint es zwischendurch so, als kämen Mutter und Tochter sich näher, schlägt Annabelle am Ende die Tür hinter sich zu, unversöhnt. Während Fatma zurückbleibt, tönen wie von einer alten Aufnahme weiter die Versatzstücke ihres ewigen Disputs. Ein pessimistischer Schluss? Immerhin: Der anfangs festgefügte Block der bösen Taschen ist ganz schön in Unordnung geraten.

Regisseurin Antje Schupp setzt das gerade und dennoch vielschichtige, interpretationsfähige Stück über das Leben mit kulturellen Differenzen, die Erfahrung des Ausgegrenztseins und das nachhaltige Leid als Folge schwieriger Familienkonstellationen ohne Sentimentalitäten und ohne Mätzchen um (wenn man einmal von der überflüssigen Mikrofon-Einlage absieht). So cool diese Inszenierung daherkommt, gelingt es ihr doch, uns 60 Minuten lang in Spannung zu halten und zu bewegen.

 

Todesnachricht (UA)
von Azar Mortazavi
Inszenierung: Antje Schupp, Bühne und Kostüme: Evi Bauer, Dramaturgie: Axel Gade.
Mit: Elif Esmen, Susanne Ruppik.

www.pfalztheater.de

 

Kritikenrundschau

Die Nachwuchsautorin urteile nicht, sondern mache unsentimental beider Sichtweisen verständlich, so Kerstin Krämer in der Saarbrücker Zeitung (17.1.2011). "Glückwunsch auch an die junge Regisseurin Antje Schupp, die mit Sinn für Zwischentöne inszeniert. Nur die Mikrofonierungs-Mätzchen hätte es nicht gebraucht – neben der souveränen Ruppik spielt auch die 24-jährige Esmen so kraftvoll und differenziert, dass sie derlei Manierismen nicht nötig hat, um einen inneren Monolog als solchen zu kennzeichnen."


"Mortazavi, in Wittich geborene Tochter eines Iraners, transportiert in ihrem Text Befindlichkeiten und Emotionen in seltener sprachlicher Dichte", schreibt Fabian R. Lovisa in der Rheinpfalz (17.1.2011). "Mit jeder Menge Tempo, Sinn für eindrückliche Bilder und treffenden Einfällen" warte Antje Schupp auf, wobei der Mikrophon-Einsatz wenig überzeuge. Lovisa preist die Schauspielerinnen und Evi Bauers Bühnenbild. Sein Fazit: "Unbedingt empfehlenswert."

Lena Fölsche zeigt sich in der Mainzer Allgemeinen Zeitung (18.1.2011) von ebendiesem Bühnenbild und der Regie nachhaltig irritiert: Das Spiel der beiden (Anti-)Heldinnen würde schon die Bühne füllen. "Zwischen Belanglosigkeiten aus dem Mund der Mutter, Anschuldigungen auf beiden Seiten und besinnungslosem Geschrei, bleibt den beiden aber leider immer noch genug Zeit, gegen die bunten Tasch zu treten oder sich gleich mit ihnen zu verprügeln.Weder Stück noch Spiel jedoch hätten Taschengewalt und Spezialeffekte nötig gehabt."

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