Auf Schränken unter Schuften

von Willibald Spatz

Augsburg, 15. Januar 2011. Selbstmord ist natürlich immer eine Lösung. Wenn es einem zu viel oder zu blöd wird, dann kann man sich aus dem Weg räumen und die, die man zurücklässt haben ein Problem weniger, aber immer noch ein schweres Leben, so dass der Tod eigentlich auch für sie besser wäre - Hebbels "Maria Magdalena" ist unglaublich weit weg von der Jetztzeit.

Die Figuren in dem Stück haben Probleme, über die würde man sich heutzutage kaum noch den Kopf zerbrechen. Da gibt es zum Beispiel eine Klara, die will "lieber Selbst- und zugleich Kindsmörderin" werden als Vatermörderin. Denn sie hat ein Kind im Bauch von einem, der sie nicht liebt, und ein anderer verlobt sich nicht mit ihr, weil sie schwanger ist. Stattdessen schießt er den einen tot, ohne selbst zu wissen, was das bringen. Deshalb schießt er sich selbst auch noch in den Bauch.

Das alles wird verhandelt mit Sätzen wie "Ich danke Dir, wie ich einer Schlange danken würde, die mich umknotet hätte und mich von selbst wieder ließe und fort spränge, weil eine andere Beute sie lockte..." Bei so viel Wucht und Pathos darf man sich bei jeder Neuinszenierung des Dramas im Voraus fragen darf, wie schnell das wohl gebrochen wird.

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© Nik Schölzel

Absturzgefahr

Anne Lenk mutet ihrem Publikum wenig zu. Hier wird sofort klar, dass das bürgerliche Trauerspiel von einst inzwischen im Wesentlichen ein großes Kinderspiel geworden ist. Die Bühne von Judith Oswald besteht aus einer meterhohen Wand diverser Schränke - alte, neue, Wohnzimmer- und Kinderzimmerschränke. Darauf turnen die Akteure wie in ihrer Kindheit herum, auch wenn sie sich wie Erwachsene benehmen. Ganz ungefährlich ist das nie. Wenn man sich zu hoch wagt, kann man böse abstürzen.

Einmal tritt Roberto Martinez Martinez, wenn er den Gerichtsdiener Adam spielt, als Struwwelpeter verkleidet aus einem Schränkchen und mischt die Gesellschaft gehörig auf. Die Figur wurde von Heinrich Hoffmann übrigens 1845, zwei Jahre nach "Maria Magdalena" erfunden. Während seines Auftritts stirbt die Mutter. Im Text steht, dass sie "Jesus!" sagt, dann folgt kursiv "Fällt um und stirbt". Das will man nicht zeigen und wahrscheinlich auch nicht sehen. Die Regieanweisung wird eingeblendet und Eva Maria Keller geht in einen Schrank, auf dem der Vater noch ein Kreuz und eine Schraubklemme anbringt. Das war es und man kann normal weiter reden.

Generationenvertrag aufgekündigt

Hebbel hat selbst eine Zeit lang zur Untermiete bei einer ähnlichen Tischlerfamilie, wie er sie porträtiert, gewohnt und mit der Tochter ein beinahe brenzliges Verhältnis gehabt. Leonhard, das Arschloch im Stück, lässt er zu Klara sagen: "Tausende haben das vor Dir durchgemacht, und sie ergaben sich darein, Tausende werden nach Dir in den Fall kommen und sich in ihr Schicksal finden." Im Grunde ist klar, dass sich in dieser Gesellschaft nur der halbwegs retten kann, der der absolute Egoist ist und schaut, dass er die anderen möglichst weit hinter sich zurücklässt.

Der Generationenvertrag ist aufgekündigt. Der Vater (Martin Herrmann) ist furchtbar. Wenn er sich mit jemandem unterhalten soll, dann schaut er ihn nicht an, dann frisst er Nudelsuppe aus dem Topf oder, schlimmer noch, fährt er mit Schmirgelpapier über seine Möbel. Der hat nur noch seine Schufterei und seinen Zynismus.

Klara bleibt dabei auf der Strecke: sie erträgt es nicht, dass die anderen so gemein sind, sie weint bittere Tränen, die ihren Lidschatten zerfließen lassen, sie frisst Waschpulver und kotzt es wieder aus, sie schiebt sich einen Gewehrlauf in den Mund. Sie probt den letzten Schritt, falls alles nichts mehr hilft, nicht einmal der Brautschleier, den sie sich aufsetzt, um Leonhard noch mal rumzukriegen in einem finalen Anlauf. Judith Bohle wurde ein blasses Gesicht geschminkt mit roten Bäckchen, ein Püppchen, das geschoben und gestoßen wird, das sein Schicksal zu erleiden hat und dem sie doch ein Leben einhaucht, um das man großes Mitleid hat, wenn es zu Ende ist.

Theaterfutter

Anne Lenks frühere Inszenierungen in der kleinen Komödie waren alle ebenso sperrig wie spannend. Die "Maria Magdalena" ist ihre erste Arbeit im Großen Haus und dennoch bleibt die Bühne klein. Die hohe Schrankwand verweigert den Blick in die Tiefe des Raums. Abgesehen von dem ungewöhnlichen Setting, mit dem Anne Lenk immer wieder starke Bilder entstehen lässt, dürfen Hebbels Worte stehen bleiben und wirken.

Hebbel selbst wollte mit der "Maria Magdalena" kein "Theater- oder Lesefutter" liefern. Wenn man sich das Stück jetzt in Augsburg anschaut, muss man sagen, dass er gegen seine Absicht vor allem großartiges Theaterfutter geliefert hat. Freilich gibt es immer noch solche Menschen wie diese, wenn auch ihre Schicksale anders sind. Gut, dass Anne Lenk nicht allzu deutlich darauf hinweist, sondern es ihrem Zuschauer überlässt, was er sich dabei denken will.

 

Maria Magdalena
von Friedrich Hebbel
Regie: Anne Lenk, Bühnenbild: Judith Oswald, Kostüme: Eva Martin, Dramaturgie: Roland Marzinowski.
Mit: Martin Herrmann, Eva Maria Keller, Judith Bohle, Ulrich Rechenbach, Nicholas Reinke, Daniel Flieger, Roberto Martinez Martinez.

www.theater1.augsburg.de

 

Kritikenrundschau

"Kraftvoll", nennt Michael Schreiner auf der Webseite der Augsburger Allgemeinen (16.1.2011) Anne Lenks Inszenierung. Sie lege die "Mechanismen einer von Männern gesetzten und dominierten Ordnung bloß". Der "äußere Anschein" sei wichtiger als "die innere Verfassung". Der Abend, während dem Klara und ihre Eltern "ständig zwanghaft die Möbel putzen und polieren" und aus den Schränken die Bierflaschen "kullern", sei "aus einem Guss", ein "packendes und einfallsreiches Theatererlebnis". Lenk finde "naheliegende und einprägsame Bilder" und wage es zugleich, "das Trauerspiel ins Lächerliche drehen zu lassen". Beeindruckend, wie die "eigentlich extrem statische" und wenig tiefe Bühne durch "das intelligente Spiel, durch Fassadenkletterei und Ortswechsel belebt" werde. Aus dem "überzeugend und präzis agierenden Ensemble" ragten Judith Bohle als Klara und Martin Herrmann als Meister Anton heraus.

In Die Augsburger Zeitung - Unabhängige Internetzeitung für Politik und Kultur (17.1.2011) findet Frank Heindl die Bühne sei ein "starkes, psychoanalytisch gedachtes Bild" nicht nur für "Kästchendenken, Abschottung, Angst vorm 'Anderen' und Klaustrophobie, sondern auch dafür, wie Individualität in zu enge Behältnisse gesperrt wird, wie Menschen sich, um eingebildeten Gefahren und unbewussten Ängsten zu entgehen, selbst verkleinern". Lenk finde Bilder, die im Gedächtnis "haften" bleiben, weil sie Hebbels Drama "genial illustrieren" und "gnadenlos deutlich" unser heutiges Leben "karikieren und beleuchten". Judith Bohles als Klara sei "noch in der Kapitulation vor den Verhältnissen ein Monument weiblichen Kampfes um Selbstbestimmung und ums pure Überleben". Martin Herrmanns Verdienst sei es, Vater Anton als Inbegriff der gefühlskalten bundesrepublikanischen Nachkriegsgeneration zu zeigen und zugleich die Schwäche des rigiden Mannes "durch vielerlei Ritzen scheinen zu lassen". Anne Lenks Regie ist "mitreißend-makellos"und verleiht Hebbels Drama "ohne Mühe und Verkrampfung brennende Aktualität und schmerzhafte Tiefe".

 

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