Die Marktwirtschaft? Ein Sadomaso-Trip!

von Otto Paul Burkhardt

Stuttgart, 15. Januar 2011. Überall Absperrgitter. Wie bei einer Massenveranstaltung, bei der Ausschreitungen befürchtet werden. Irgendwo hinten in der weitläufigen Arena, einer der Ausweichspielstätten des Stuttgarter Schauspiels, wird denn auch ein Stoßtrupp Gewalttätiger in einen Käfig gesperrt. Und während Wang, der Wasserverkäufer aus "Der gute Mensch von Sezuan", seinen Prolog in einem Boxring beginnt, johlt und tobt die Bande hinter Gittern wie eine Horde Affen im Zoo. Oder lacht höhnisch, wenn Wang von "unvorstellbarer Armut" zu erzählen beginnt.

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© Matthias Dreher

So lässt Regisseur Thomas Dannemann seine Brecht-Inszenierung beginnen - in einer Kampfarena, in einer vibrierenden Sphäre roher Gewalt, in der vorwiegend geprügelt, gequält, gelogen, geschachert, betrogen und verraten wird. Drei Götter im Anzug gerieren sich wie besorgte Reise-Inspektoren, denen angesichts ihrer Schöpfung - sie geraten an ein paar sinistre Schlägertypen - der Schrecken in die Glieder fährt. Bis doch noch ein guter Mensch auf Erden auftaucht: die Prostituierte Shen Te, bei Inga Busch eine unkomplizierte Milieu-Göre. Sie gibt den geschockten Inspektoren Obdach - in ihrem unterirdischen Eros-Center. Was da geschieht, kriegt man nur per Video mit: Buschs Shen Te geht seelenruhig ihrem Job nach - Live-Räkeln für einen Sex-Shopping-Kanal nebst Anpreisung von Weingummi-Dildos mit und ohne Noppen. Und die Götter schauen zu - schwer traumatisiert von dieser schlechten Welt.

Brecht ist für alle da

Kein schlechter Einstieg ins Thema. In Zeiten, da Gutmensch als Schimpfwort und Helfersyndrom als Krankheit gilt, wird Brechts Parabel über die herzensgute Shen Te, die nur überlebt, weil sie sich zeitweise in ihren hartherzigen Vetter Shui Ta verwandelt, neuerdings wieder öfter gespielt. Helfen oder sich durchboxen - das ist ein Zwiespalt, der alle betrifft.

Dannemann stopft die Arena voll mit Teilschauplätzen: Boxring, Tanzplattform, Bordelleingang, Bandpodium, Affenkäfig - die Bühne sieht aus wie ein riesiger, zirzensischer Vergnügungspark. Mehr noch: "Der Mensch" ist bei Dannemann sadomasomäßig drauf. Die Darsteller tragen Latex-Klamotten und manchmal schwarze Gummimasken. Irgendwann steht ein Dompteur mit Peitsche da und treibt die andern, die "Marktwirtschaft" brüllen und Waren vor sich her karren, im Zirkus-Rund herum - der Kapitalismus als ewiger, durchgeknallter Kreislauf dressierter Zirkustiere, passend zu Brechts "Lied vom achten Elefanten". Die einen quälen gerne, die anderen wollen gequält werden.

Gut, die suggestiv dozierende Art des Brechtschen Tonfalls kann nerven. Und Dannemanns pauschale Personenregie, die eh in der Weitläufigkeit der Spielstätte nicht mit Feinheiten glänzen kann, führt zu erheblichen Längen - es zieht sich, und das ständige Hin und Her der Milchmädchenrechnungen in Silberdollars kann auch nicht wirklich fesseln. Doch insgesamt schafft es Dannemann, das Stück relativ unverkopft rüberzubringen, ohne Brechts Differenzierungen gänzlich platt zu machen.

Gelackte unter Gelackmeierten

Inga Busch (wie übrigens das ganze Ensemble) spielt alles andere als verfremdend im Brechtschen Sinne. Ihre Shen Te im langen rosa Lackrock und mit Rose im Haar ist unprätentiös und mitleidensfähig, ihr Shui Ta in elegantem Schwarz tough und durchsetzungsstark. Vor allem: Inga Busch zeigt, dass sich beides nicht trennen lässt, zeigt, wie Shen Te existenziell erschrickt, als ihr Geliebter Sun (Florian von Manteuffel), der Shui Ta vor sich glaubt, schlecht über sie redet. Kein Zweifel, Inga Busch ist mit ihrer intensiven, direkten Spielweise das Kraftzentrum der Inszenierung.

Genauso wie sie sind auch alle andern mal die hochnäsig Gelackten, mal die armen Gelackmeierten. Brecht wird zudem leicht aktualisiert - über Wörter wie "bildungsfern", "Pizza", "Mallorca" und "Kernkompetenz". Wobei Dannemann die Brechtsche Parabel auch gerne ins Groteske verschärft: So misshandelt Jan Krauters cholerischer Polizist auch schon mal eine unschuldige Gummipuppe, und Rainer Philippis strapstragender Paradiesvogel Shu Fu fragt eitel ins Publikum: "Wie finden Sie mich, meine Damen und Herren? Kann man feinfühliger sein?"

Dass auch Dannemann den Epilog streicht ("den Vorhang zu und alle Fragen offen"): geschenkt. So endet das Stück im dunklen Brechtschen Niemandsland zwischen Ernst und bitterem Sarkasmus: Shui Ta/Shen Te hängt schwer geschädigt, misshandelt, halbtot in den Seilen. Und die Götter? Geben scheinheilige Tipps ("sei nur gut, und alles wird gut werden!"). Und verduften.


Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht
Musik von Paul Dessau, bearbeitet von Daniel Smutny und Bernd Settelmeyer
Regie: Thomas Dannemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Regine Standfuss, Dramaturgie: Jörg Bochow, Licht/Video: Stefan Bolliger/Rainer Schwarz.
Mit: Inga Busch, Boris Burgstaller, Lutz Salzmann, Sebastian Schwab, Florian von Manteuffel, Bijan Zamani, Anna Windmüller, Rainer Philippi, Rahel Ohm, Bernhard Baier, Dino Scandariato, Jan Krauter.

www.staatstheater.stuttgart.de


Mehr zu Thomas Dannemann: 2007 inzenierte der frühere Protagonist von Jürgen Gosch ebenfalls in Stuttgart eine Montage aus Thomas Braschs Vor den Vätern sterben die Söhne und Rainer Werner Fassbinders Warum läuft Herr R. Amok?. Ein Jahr darauf, wiederum in Stuttgart Tschechows Iwanow, und im Januar 2009 in Köln den Simplicissimus Teutsch nach Grimmelshausen und Soeren Voima.

 

Kritikenrundschau

Brechts "Guter Mensch" sei als Schulbuchklassiker "der steten Gefahr ausgesetzt, entschärft und rundgeschliffen zu werden", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (17.1.2011), "und vielleicht braucht man deshalb auch einen so entschiedenen Regisseur wie Thomas Dannemann, der gerade bei modernen Klassikern seine Vorlieben für Ecken und Kanten schon öfters bewiesen hat." Dannemann habe die Bühnenmetapher des Boxrings gewiss nicht erfunden, doch er nutze sein "alle Szenen umwölbendes, sehr aufwendiges Bildertheater geschickt, um Brecht anders als in Schulbüchern zu lesen, roher, unbehauener, gewalttätiger und - vor allem - unsentimentaler als in Tausenden von Deutschstunden." Wie schließlich Inga Busch Shen Te spiele, sei "bar jeglicher Sentimentalität und Gefühligkeit. Klar, die vom Dramaturgen Jörg Bochow bearbeitete Spielfassung des 'Guten Menschen' kommt dieser Entmoralisierung der Figur entgegen. (...) Trotzdem: die burschikose (...) Inga Busch zeichnet uns einen 'guten Menschen', der in seiner schillernden Vielfalt ganz im Hier und Heute lebt."

Thomas Dannemann habe "der als angestaubt verschrieenen und dennoch so aktuellen Brecht-Parabel in Stuttgart pralles, schrilles und lautes Leben eingehaucht, besser noch: eingehämmert", meint Wolfgang Bager im Südkurier (17.1.2011). Anfänglich übertöne sich die Regie zwar noch selbst: "Bei so viel Hektik, Gerenne und Geschrei ist es schwer, etwas zu erzählen. Doch nach dem ersten Drittel der dreistündigen Aufführung legt sich der nervige Lärm etwas, Text und Darsteller können sich entfalten." Im Mittelpunkt stehe Inga Busch als Shen Te. "Dieses Gesicht, das sich in so vielen Filmen in Szene gesetzt hat, verfehlt auch auf der großen Bühne seine Wirkung nicht. Wenn diese Augen leuchten, wenn dieser Mund lacht, dann reicht das Strahlen bis hinauf zu den obersten Tribünenplätzen. Doch Inga Busch verlässt sich nicht nur auf ihre bemerkenswerte Physiognomie. Anders als im Film kann sie auf der Bühne auch ihre körpersprachliche Eloquenz und ihre Variationsfähigkeit ausspielen. Diese Schauspielerin ist weit mehr als nur ein interessantes Gesicht."

Nicole Golombek identifiziert in den Stuttgarter Nachrichten (17.1.2011) die Bühne nicht als Box-Ring, sondern als "Show-Ring für Catcher. Catchen, Prollvariante des Boxens, lebt vom Posertum, gespielter Aggressivität, Gebrüll, Grimassen. Mit diesem Konzept des Nur-so-tun-als-ob (...) erfüllt der Regisseur musterschülerhaft Brechts Vorstellung des epischen Theaters. Kein Einfühltheater, sondern Verfremdung, Distanz und kühle Analyse." Allerdings bleibe "die interessante Idee einer künstlich kunstvollen Farce reine Äußerlichkeit, Ausstattung und Spielweise klaffen doch extrem auseinander." Inga Busch finde zwar "in ihrer Doppelrolle als Shen Te und Shui Ta eine gute Balance, keine der beiden Figuren tendiert zu stark ins Gute oder Schlechte." Ansonsten aber schwanke "das Spiel zwischen Krawalltheater und gefühlig psychologischer Konvention."

"Dannemann dreht schonungslos auf, die Bewohner von Sezuan sind bei ihm eine grell verzerrte Jahrmarktsgesellschaft in Lack und Latex, ausgestattet mit Fetischmasken, Lederriemen und aufblasbaren Sexpuppen", schreibt Adrienne Braun (Süddeutsche Zeitung, 4.2.2011). Es sei "eine drastische Vision, die Dannemann der Brecht'schen Parabel überstülpt, um sie in die Gegenwart zu holen". Diese Inszenierung ist "laut, penetrant und spielt Szenen quälend lang aus". Es ist, "als wolle Dannemann dem Publikum die Botschaft von der Schlechtigkeit einprügeln". Doch "hinter aller Grobschlächtigkeit wirkt sie umso zarter, verletzlicher, anrührender". Und "der Aufwand, den Dannemann betrieben hat, ist enorm, doch die Materialschlacht geht letztlich auf. Seine radikale Neuauflage befreit den Text von jeder moralinsauren Betulichkeit und legt die Abgründe wie mit dem Seziermesser frei".

 

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