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Die Spinne und ihr Exorzist

von Christoph Fellmann

Zürich, 20. Januar 2011. Also, es war so: Über die Bühne hob sich die Sonne, leuchtete in klarer Majestät in ein freundliches Land und weckte zu fröhlichem Leben die Schauspieler. In der Mitte der sonnenreichen Halde hatte die Natur eine fruchtbar beschirmte Bühne eingegraben, mittendrin stand stattlich und blank ein schönes Scheißhaus. Frank Castorf war nach Zürich gekommen, und der Gotthelf war nicht mehr ganz der Gotthelf.

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Schweiz mit Loch - in Frank Castorfs Zürcher Version der "Schwarzen Spinne" © Matthias Horn

Blocher, Sarrazin und Co.

Jeremias Gotthelf, Pfarrer und Dichter aus dem schönen Schweizer Emmental, hat 1842 eine alte Sage zu einer Lektion in rechter Gottesfurcht gemünzt. Und seither gehört seine "Schwarze Spinne" zum Grundbestand eidgenössischen Nervenkitzels – bis heute treiben die Tierchen immer wieder gern die Pestilenz durch Schulzimmer und über Theaterbühnen. Nur, dass sich das Bauernsterben in der Schweiz heute nicht mehr einem Pakt mit dem Teufel verdankt, sondern einem Pakt mit der EU. Entsprechend hat sich auch der Blick auf den Stoff verändert: Fremdeln vor Gott, das tut heute jeder; aber wie Gotthelf seinerzeit die Fremdenfeindlichkeit seiner Landsleute, wie soll man sagen: antizipierte, das ist für viele mittlerweile der wahre Thrill, den diese Geschichte zu bieten hat.

Auch Frank Castorf bedient diese neuere Lesart des Stoffes. Das Schweizerkreuz ist bei ihm nur noch ein Loch in der Fahne, und man bedenke die Symbolik, als die Spinne später aus einem, genau: Loch gekrabbelt. Bei Gotthelf ist es der Pfarrer, der es irgendwann über der Spinne mutig verstopft, bei Castorf wird am Abend eine Brandrede gehalten, die verdächtig nach dem Pfarrersohn Christoph Blocher klingt, dem Anleiter der Schweizerischen Volkspartei, die bekanntlich vor wenigen Wochen eine Volksabstimmung gewonnen hat, und jetzt werden kriminelle Ausländer im Handumdrehn aus der Schweiz ausgeschafft. Schließlich, ganz zum Schluss, sieht man das Emmental als Landstrich, wie er Thilo Sarrazin in seinen kühnsten Träumen erscheinen muss: nur noch Ausländer, schwangere Ausländerinnen, assimilierte Restschweizer sowie eine Sexpuppe.

Von Kreuzrittern zu Kreuzspinnen

Aber das ist nicht die einzige Assoziationskette, die an diesem vierstündigen Abend über die Pfauenbühne rasselt. Eine zweite führt mit Michail Bulgakow ("Der Meister und Margarita", 1940) an den Rand des römischen Reichs, wo Pontius Pilatus als amtsmüder Statthalter den fantasierenden Außenseiter Jesus zum Tod verurteilt – und so seinerseits das Loch öffnet, aus dem das Verderben kommt. So hangelt sich der Abend eine ganze Weile von Kreuz zu Kreuzritter zu Kreuzspinne und zurück. Hängt ja alles zusammen. Genauso wie die Pest mit dem Theater, die gemäß Antonin Artaud ja beide zur "kollektiven Entleerung von Abszessen" da sind. Und Entleerung gleich Scheißhaus gleich Loch gleich Freilassung.

Um das alles geht es in dieser "schwarzen Spinne", und das, ohne dass wir schon gesprochen haben von der Entleerung des Verstandes beim Maler und Dichter Friedrich Schröder-Sonnenstern (1892-1982), von Sigmund Freud und Walter Ulbricht, von René Pollesch und Matthias Hartmann, die alle auch vorkommen in diesem Stück – und natürlich vom Onkel aus Amerika, der zu den Bauern im Emmental kommt wie aus einer Boulevardkomödie.

Tatsächlich ist es aber kein besonders glücklicher Einfall, dass Castorf den Abend – von der lebendigen Sau auf der Bühne bis hin zum herzallerliebsten Jägerkostüm – über lange Strecken im Volkstheatermodus spielen lässt. Der Klamauk ist ihm damit sicher; aber alles Seuchenartige, mit dem diese Geschichte übers Parkett kommen könnte, entgleitet Castorf so zwischen den Knallchargen in Fellmänteln und Langhaarperücken (die der eigenen Folklore zudem besser abgeschaut scheinen als der auf dem Land tatsächlich existierenden).

Schießbudengrusel ohne Teufel

Das Bodenlose, das ja unter jedem Loch gähnt, ist fast ganz an Gottfried Breitfuss delegiert, der den Pontius Pilatus auf wunderbare Weise ganz und gar fertig gibt, fertig von seiner kleinen Macht am Ende der Provinz. Drüben im Emmental aber wird pittoresk an Babies gerissen und geröchelt und gestorben. Der Teufel jedenfalls ist dieser "Spinne" gründlich exorziert, und zurück bleibt Schießbudengrusel. Dick aufgetragen und doch so harmlos wie eine Geisterbahn.

Oder um (fast) mit Gotthelf auch wieder zu enden: Und bald war es still um die Bühne, bald auch still auf derselben. Friedlich lag sie da, sorglich und freundlich barg sie brave Schauspieler in süßem Schlummer, wie die schlummern, welche nie die schwarze Spinne, sondern nur die freundliche Sonne aus dem Schlummer wecken wird.

 

Die schwarze Spinne. Pilatus' Traum
nach Jeremias Gotthelf und Michail Bulgakow
Regie: Frank Castorf, Bühne: Hartmut Meyer, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Roland Koberg. Mit: Franz Beil, Gottfried Breitfuss, Ursula Doll, Marc Hosemann, Irina Kastrinidis, Niklas Kohrt, Julia Kreusch, Aurel Manthei, Hans Schenker, Siggi Schwientek.

www.schauspielhaus.ch

 

Vor einem Jahr, im Januar 2009, inszenierte Castorf in Zürich den Lenz'schen Hofmeister. Eine andere Version der Schwarzen Spinne war im Oktober 2007 am Stadttheater Bern zu sehen, in der Regie von Erich Sidler.

 

Kritikenrundschau

Altermilde, ja altersmüde findet Alexandra Kedves im Zürcher Tagesanzeiger (22.1.2011) Frank Castorfs Inszenierung. "Zumindest zuckte es nur selten auf, dieses gewisse Etwas, das macht, dass wir uns in all den Jahren immer wieder neu verschaut haben ins knallige, kratzbürstige, kalauernde Castorf-Theater: dieses Wilde und Wahnsinnige, dieses Wehe und oft auch Wehmachende." Auch bedauert die Kritikerin, dass im ersten Teil so viel Kraft ins nationale Kräftemessen und seine abgenudelte Kritik gesteckt wird. Denn im zweiten Teil gewinne der Abend merklich an Sog. Doch da hätten sich die Reihen im Parkett schon arg gelichtet. Heimlicher Höhepunkt der "Soiree" ist für die Kritikerin "das Artaud-Intermezzo mit seinem intensiven Irrsinn": so viel Elektrizität versprühe das Assoziationsgewitter sonst nicht.

Frank Castorf erzähle die Novelle relativ linear und mit grosser Spiellust, schreibt Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (22.1.2011). An den Rändern allerdings franse die Inszenierung aus, "da verzetteln sich die Kalauer und finden die Assoziationsfelder nicht recht zueinander", wie Klaeui schreibt. Speziell am Anfang habe man es aber noch mit einem souveränen Gotthelf-Remix zu tun. "Da ist Castorf auf der Höhe seiner kalauernden Kunst, da ist nichts wie bei Gotthelf und hat doch alles eine Richtigkeit". Bald beginnt der Kritiker jedoch "selbstreferenziellen und affirmativen Hautgout" zu spüren, sieht er kein Klischee übergangen, kein aktuelles Extempore ausgelassen. Zwar betritt Castorf aus seiner Sicht mit der Einbeziehung eines Textes von Artaud ein Hochspannungsfeld: denn "Theater und Pest als existenzielle Krisen zueinander in Beziehung" zu setzen, das hat für Klaeui grundsätzlich knisternden Charme. "Aber es müsste doch auch, wenn schon, denn schon, eine wahrnehmbare Auswirkung auf den dramaturgischen Fortgang haben. Oder es bleibt Behauptung, eine halbe Sache."

Einen "lustvollen Abend" über Artauds Theater der Grausamkeit, serbischen Patriotismus und die Banalitäten der Berliner Kulturpolitik annonciert Ulrich Seidler in der Frankfurter Rundschau (22.1.2011). Irgendwann fliege man bei dieser Gespensterbahnfahrt zwar aus der Kurve, "aber sie hat es in sich". Nicht nur deshalb verdient Castorf aus Sicht dieses Kritikers "für seinen rätselhaft unermüdlichen Kampf gegen den Konsens und die Verdrängungsbehaglichkeit Respekt und Vertrauen."

Von "Debatten statt dramatischer Handlung" und "erklärtermaßen kaum nachvollziehbaren Situationen" spricht Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (21.1.2011) Die Texte würden überwiegend gebrüllt, "schließlich sind es Statements, keine Dialoge." Denn Castorf "will das Theater als Kampfwaffe statt als kulturelle Wohlfühl- und Konsens-Anstalt." In diesen Debatten bringe er auch noch Artaud unter und dessen Vorstellung von den Heilkräften der Pest - und des Theaters. So wachse und wuchere das Böse in Spinnengestalt. "Jeder Gag wird dankbar bekichert von denen, die nicht schon in der Pause scharenweise das Weite gesucht hatten. Und bis der Gottseibeiuns die letzte Zigarette raucht und auf dem Rauch-Verbots-Schild ausdrückt, ist es Mitternacht."

Charles Linsmayer schreibt auf Welt Online (24.1.2011): Das Verhältnis von Deutschen und Schweizern sei "Generalthema der ersten halben Stunde." Abgesehen von einigen Zuspitzungen und einer Schar von Batman-Monstern habe Castorf Gotthelfs Novelle "nicht viel anders umgesetzt, als das mit weniger Drastik auch das Laiendialekttheater auf dem Ballenberg über dem Brienzersee hätte tun können". Aber Gotthelf habe Castorf nicht genügt. In den "postmodernen Ideenbrei", den er zu "Themenkomplexen wie Gut und Böse, Anarchie und Drama" zusammenmixe, habe er auch Bulgakows "Der Meister und Margarita" eingearbeitet. "Obendrein die surreale Weltsicht von Friedrich Schröder-Sonnenstern und Antonin Artaud". Dabei sei der Eindruck entstanden eines "bunten, sensationslüsternen Allerleis, mit dem die Welt erklärt, die kapitalistische Gesellschaft entlarvt und das Theater totgesagt, jedoch auch zur Wiederauferstehung aus Ruinen gebracht werden soll". "Bewegende, überzeugende Ansätze" hätten sich gegenseitig erdrückt. Die Zürcher Zuschauer hätten sich, soweit sie nicht schon vorher gegangen seien, mit "Buhrufen und Pfiffen" gegen das "Gift", das Castorf mit Artaud dem Theater als Wirksamkeit wünscht, zur Wehr gesetzt. "Umso befremdlicher", dass Frank Castorf darauf seinerseits "zu einer zornigen Publikumsbeschimpfung" angesetzt habe.

Martin Halter schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.1.2011): Castorf lasse "seine Spinne" auf "fremdelnde Eidgenossen und integrationsunfähige deutsche Gastarbeiter" los. Was die "Mondmastdarm-Gedichte des schizophrenen Malerpoeten Friedrich Schröder-Sonnenstern damit zu schaffen" hätten, bleibe unklar, ebenso "die Verbindung zur Passionsgeschichte Bulgakows". Wenigstens mache Gottfried Breitfuß aus "dem schwermütigen Träumer Pilatus" eine Figur, womit er sich von den übrigen "Pappmaché-Monstern" abhebe. Der Pfarrer sei bei Marc Hosemann ein "dämonischer Schreihals", Ursula Doll als Christine eine "rothaarige Spider-Woman", mal "Puffmutter", mal "Schneewittchen im Kreise der Schweizer Zwerge", Siggi Schwientek ein "sehr nettes Teufelchen". Bulgakows Passion werde in "Castorfs Oberammergau unfassbar langweilig deklamiert", Gotthelfs Novelle als "krachendes Bauerntheater exekutiert", und wenn der Teufel seine Hand im Spiel hat, komme noch das "schaurig hohltönende Gebrüll der Jahrmärkte dazu". Dazwischen gebe es "Kantinentratsch über René Pollesch, Matthias Hartmann und den Meister selber: 'Ich habe gehört, dass der Frank am Ende ist.' Deutsche Schauspieler, erklärt Unter-Hosemann seinen Entblößungszwang, seien 'immer nach zwei Minuten nackt; das ist so eine Art Marke'." Als am Ende Buhs und Pfiffe laut geworden seien, habe Castorf "geradezu mielkemäßig" gefleht: "Nicht pfeifen! Lacht doch! Wir wollen doch freundlich miteinander umgehen."

Zuvor habe Frank Castorf davon geschwärmt, "wie die Übergänge zwischen den Stoffen - auch Artaud würde wichtig sein - eben nicht subtil wären, sondern so richtig deftig wie von einem Klempner verschraubt, und so war's denn auch, und es war wie immer bei ihm eine kühne Anmaßung, aber eben auch vier Stunden Scheitern", schreibt Simone Meier (Süddeutsche Zeitung, 26.1.2011). Dabei habe es "außergewöhnlich kohärent" begonnen, "nämlich nach Castorfs neuem Lieblingskonzept, einem 'Volkstheater à la Millowitsch". Vieles sei "ein bisschen überflüssig, aber immerhin flüssig, man lacht – und wird dann vom Klempner Castorf mitten in den Bulgakow hineingeschraubt. Wo es nun überhaupt nicht mehr lustig ist, aber immer noch aussieht, als hätte Monty Python sich im Suff ein paar biblische Faschingskostüme ausgedacht". Wo man bis dahin noch "ein paar grob gestrickte Parallelen entdecken konnte, löst sich nun für den Rest des Abends alles auf". Was das alles mit der "Schwarzen Spinne" zu tun habe? "Das war an diesem Abend nicht zu erfahren. Dafür wieder einmal, wie konsequent und unbeugsam Castorf sein Anti-Konsens-Theater, sein Chaos-Theater auf die Pfauenbühne, diese bürgerlichste Bühne von Zürich, zu bringen weiß."

 

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