Zum Kornsuff verdonnert

von Esther Slevogt

Berlin, 20. Januar 2011. "Bin ich denn ein Menschenschinder?" fragt sich der Fabrikant Dreißiger am Ende und sinkt in seinem hellen Sommeroutfit verzweifelt auf die große Treppe nieder. Dabei hat er doch bloß ein guter Mensch zu sein versucht. Aber jetzt stürmt der Mob die Villa und seine Frau klammert sich hysterisch ans Bein des Prokuristen: "Retten Sie meine Kinder!"

Slapstick am Rande der Revolte

Die Szene ist am Rande des Slapsticks. Dabei haben wir es mit einer Art Revolte zu tun. Blutige Revoluzzer erscheinen alsbald marodierend oben auf der Riesentreppe, die mit etwas gutem Willen an Eisensteins berühmten Revolutionsfilm "Panzerkreuzer Potemkin" erinnern könnte. Wäre sie nicht als Theaterbild inzwischen längst eine Art Gemeinplatz geworden für Gesellschaftstableaus aller Art – samt ihrer rasanten Aufstiege und Abstürze, die sich hier mit akrobatischem Körpereinsatz auch immer so schön vorführen lassen. Da ist zum Beispiel die hysterische Fabrikantengattin, die im rosa Schlauchkleid zappelnd an den Stufen klebt, als der Mob dabei ist, das Haus zu stürmen.

Und während der Bühnenbildner Olaf Altmann für Michael Thalheimers letzten Gerhart Hauptmann am Deutschen Theater eine Art Menschenpresse als Bild für die Verhältnisse entworfen hatte, an denen Menschen zu Grunde gehen, ist es nun diese Treppe geworden: Unten lässt sich als Prolet trefflich hocken und barmend ins Publikum blicken, in der Mitte können wackere Weber sich mit Kornflaschen bewaffnet dem Suff ergeben und blindwütige Aufstände aushecken. Aber auch deftige Revolutionsszenarien mit blutüberströmten Kämpfern lassen sich auf der in schwindelerregende Höhen führenden Treppe arrangieren.

Ändere die Welt, sie braucht es – oder?

Jetzt also Hauptmanns "Weber". Schließlich herrscht immer noch Krise allenthalben. Da machen sich Stücke wie diese auch auf Staatstheaterspielplänen nicht schlecht. Hauptmann beschreibt hier eine Gesellschaft am Anfang des Kapitalismus', als Maschinen aus Handwerkern Proletarier machten und die Menschen von der Entwicklung noch so überfordert waren, dass die Revolte eher wie eine Naturgewalt aufkam, eine Zeit, in der die Herrschenden die Ordnung noch ebenso für gottgewollt hielten wie die Ausgebeuteten. Der alte Hilse zum Beispiel, der sich nicht am Weberaufstand beteiligen will, weil er an die göttliche Gerechtigkeit glaubt und am Ende in seinem Haus von einer verirrten Kugel getroffen wird.

"Ändere die Welt, sie braucht es", schrien spätere Generationen. Aber geändert hat sich wenig. Das hat auch Michael Thalheimer festgestellt, der nun im Deutschen Theater das Bild einer Gesellschaft zeichnet, die irgendwie stumpf und schicksalsergeben lebt, oben und unten gleichermaßen, und von der Eruption der Revolte eher zufällig erfasst wird. Bloß kann das eben so nichts werden mit der Verbesserung der Welt. Und mit der Verbesserung des Theaters leider auch nicht.

Prügelknabe und Lohnstammler

Am Anfang baut sich ganz oben an der Spitze der Sozialpyramide Fabrikant Dreißiger auf. Unten hocken seine Arbeiter in devoter Ergebenheit und stammeln um mehr Lohn, über das ganze Elend ihrer Existenz. Auch hier geht der Trend zur Karikatur, zum Slapstick. Freiwilllig oder unfreiwilig bleibt allerdings die Frage. Und je tiefer Dreißiger dann seinen Webern entgegensteigt, desto herzzerreißender werden auch seine Klagen über das erbarmungslose System, in dem er sich ebenfalls als Opfer fühlt: Er trägt das unternehmerische Risiko allein, jammert er, und steht trotzdem als Prügelknabe da. Die Verfasstheit des Wirtschaftssystems an sich lässt ihm keinen Handlungsspielraum. Und weil der Schauspieler Ingo Hülsmann das spielt, der so virtuos ironisch-surreale Zwischentöne beherrscht und sich dabei gleichzeitig mit entwaffnender Treuherzigkeit über seine Figuren lustig machen kann, entsteht in diesem Moment fast eine Art Einverständnis mit diesem Mann, der uns ganz heutig entgegen tritt.

Das aber ist die einzige Figur des Abends, die noch so etwas wie eine Plausibilität besitzt. Zwar könnten auch die Weber gesellschaftlichen Backstage-Szenarien von heute entstammen: schmuddelige Penner, mit blassen Gesichtern. Allerdings sprechen sie ein merkwürdiges Theaterschlesisch, das sie sofort zu Kunstfiguren macht, zu Bewohnern eines Theatermuseumsdorfes, in dem das Soziale reine Behauptung bleibt. Eine fürs bürgerliche Theater geschminkte Armut. So wird an und für sich nebenan im BE Brecht gespielt.

Grölend dumpfe Unterschicht

Da schnarrt Sven Lehmann als alter Weber Baumert in gewohnter Sven-Lehmann-Manier seinen Text, in dem er zunächst erzählt, wie er aus Not seinen Hund geschlachtet hat. Gabriele Heinz mit schwarz unterlaufenen Augen ist zum Elendsklischee an sich verdonnert. Spitzenkräfte wie Norman Hacker (Moritz Jäger), Peter Moltzen (Bäcker) oder Elias Arens (Reimann) werden zu korntrinkenden Prekariatsabziehbildern degradiert und müssen grölend dumpfe Unterschicht mimen.

Immer wieder gibt es Ausbrüche aus dem System, die dann auch die unglaublich plastische und poetische Wucht der Hauptmann'schen Sprache hörbar werden lassen: Katrin Wichmann als Luise Hilse, die angesichts der Handlungsunfähigkeit der Männer ihrer Familie ausbricht und sich in die Revolte stürzt. Aber das sind die Ausnahmen an diesem Abend, der viel will und Wesentliches schuldig bleibt. Auch weil er in seinen ästhetischen Mitteln merkwürdig vorrevolutionär wirkt.

 

Die Weber
von Gerhart Hauptmann
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Michaela Barth, Musik: Bert Wrede, Dramaturgie: Sonja Anders, Licht: Thomas Langguth.
Mit: Peter Moltzen, Norman Hacker, Sven Lehmann, Katrin Wichmann, Claudia Eisinger, Michael Gerber, Gabriele Heinz, Jürgen Huth, Christoph Franken, Elias Arens, Markus Graf, Ingo Hülsmann, Isabel Schosnig, Moritz Grove, Horst Lebinsky, Bernd Stempel, Michael Schweighöfer, Friedrich Fuchs, Maurice Milcke.

www.deutschestheater.de

 

Mit den Hauptmann'schen Ratten war Michael Thalheimer 2008 zum Theatertreffen eingeladen.

 


Kritikenrundschau

"Fünf Akte in 100 packenden Minuten", staunt Ulrich Weinzierl in der Welt (21.1.2011). Die Methode absoluter Verdichtung funktioniere nicht immer, in Fall der "Weber" jedoch auf überwältigende Weise: "Reduktion und betonte Künstlichkeit führen auf Umwegen zum selben Ziel: Empathie, die durch einen Denkprozess gegangen ist." In einem faszinierende Crescendo führe Thalheimer das Entstehen eines Gruppenwillens vor Augen und Ohren: "Den Aufschrei der Geknechteten vergisst man nicht."

Thalheimers "Weber" sind ganz von heute, findet Tobi Müller in der Frankfurter Rundschau (21.1.2011). Olaf Altmanns Treppe streife die Gegenwart, denn der Weg gehe in beide Richtungen: "steil nach oben, steil nach unten. Es ist schon fast eine Kletterstange." Richtig stark und gut verständlich und schön künstlich sprechgeformt erschienen allerdings nur jene Figuren, die etwas über den Zweifel erzählen. "Es sind die älteren und die Alten. Die Weber, und es sind wahrlich nicht die schlechtesten Schauspieler dabei, kläffen und trinken in der Regel. Am Anfang, in der Mitte, und am Ende noch ein bisschen mehr. Der Abend hat Verständnis für die Herrschenden und Angst vor der Unterschicht. Als wäre es Thalheimers Eingeständnis, mittlerweile selbst in der besitzenden Klasse angekommen zu sein."

"Aus dem Geiste seiner Urwucht" habe Thalheimer hier das Hauptmann-Drama erzählt, schreibt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.1.2011). "Gespenster aus der Existenzhölle" seien die Weber: "Sie reden in einer tollen, fremden Sprache, die sie schnell und hart und atemlos, aber wie in Granit gehauen von sich stoßen. Es ist Hauptmanns Schlesisch, das hier nicht lächerlich, nicht verniedlicht wirkt, sondern: wie aus einer anderen Welt." Nur einen Einwand hat Stadelmaier: "Der Schluss verlärmt. Das Übrige aber hat, was heute im Theater das Wenigste hat: Größe."

"Von Anfang an steht dieser Theaterabend wie ein geschlossener Kessel unter Hochdruck, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er überkocht und explodiert", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (21.1.2011): "Oben die Reichen, unten die Armen, dazwischen ein Riesengefälle: Die Treppe als Symbol der Sozialpyramide mag für Gerhart Hauptmanns Proletarier-Elends-Drama 'Die Weber' ein überdeutliches Bild sein - eindrucksvoll ist sie dennoch, und so kraftvoll und entschlossen, wie Michael Thalheimer sie in hundert beschleunigten Minuten Stufe für Stufe in Besitz nehmen und stürmen lässt, macht dieses abstrakte Symbol-Bühnenbild nicht nur viel her, sondern es ergibt auch Sinn. Es verkündet und vergrößert die Dinge wie auf einem Plakat, unterstützt Thalheimers kernenergetische Wirkungskraft." Wunderbare Schauspieler seien im Einsatz, mit einer Deutung allerdings halte sich Thalheimer zurück. "Dass der Aufstand ohne politisches Ziel bleibt und ins Chaos führt, steht schon so im Stück." Das Ende lasse Thalheimer unkommentiert stehen "und gibt uns diese Kugel wie einen Schuss vor den Bug. Seine Inszenierung knallt. Und auch wenn sie - anders als damals 'Die Ratten' - nicht ins Herz trifft, so trifft sie doch den Wutbürger in uns."

Die Bühne und der blaue Staub seien schön, ja, notiert Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (21.1.2011), aber "nichts als Beiwerk für eine Inszenierung in der Maske der Sozialkritik". Letztlich inszeniere Thalheimer einen "Mitleidszoo mit Figuren wie Affekttieren": "Er zielt, wie Hauptmann sein Frühwerk sich später selbst zurechtgelogen hat, auf eine 'reine' Kunst und die 'allgemein menschliche Empfindung'. Die Armut, das Leiden, der ausbeuterische Kapitalismus nimmt damit gespenstische, nicht fassliche Gestalt an: Gerade durch die Dialekt- und Einfühlungsspielweise wird die Sozialkritik hier zum bloß abstrakten Gegenstand einer schöngeistigen Kontemplation, einer Schwafelei von der Schlechtigkeit der Welt."

Schon bei Hauptmann war die Weber-Sprache ein Kunstprodukt, findet Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel (21.1.2011). Am DT rackerten sich die Schauspieler mit den sperrigen Wortbrocken ab, "als wär’s die Maul- und Klauenseuche aus dem Hessischen": "Sie brüllen sich um den Verstand, die Tröpfchen fliegen, die Treppe hat die armen Spucker fest im Griff. Da sitzen die Elendshäufchen, da stehen die Erniedrigten und Beleidigten wie angenagelt. Der Aufstand beginnt in den verrenkten Körpern. Wohnstube, Arbeitsplatz, Fabrikantenvilla, Straße: alles auf der Treppe." Thalheimer inszeniere keine Geschichte, zeige keine Entwicklung, vielmehr halte er den Moment der Empörung fest: "ein einziger Aufschrei." Doch was solle man anfangen mit den fürchterlichen Schreihälsen, denen die Augen aus dem Kopf herausquellen?, fragt Schaper. Wo in den "Ratten" jede Figur eine eigene Sprache hatte, einen individuellen Raum um sich, einen konfliktreichen Charakter, regiere hier die Uniformität, gebe es nur eine Tonlage: "lauthals bis zum Anschlag. Eine Ewigkeit vergeht, bis einmal der rasende Webstuhl angehalten wird. Dann aber ist es zu spät: für die Aufführung. Und für die Weberfamilie Hilse."

Nahezu alles, was seine "Ratten" ausgezeichnet hatte, wende sich nun gegen Thalheimer, meint Gerhard Jörder in der Zeit (3.2.2011). "Alles kommt wie erwartet, eine völlig überraschungsfreie Choreografie. Und während 'die da oben', der Fabrikherr und der Pfarrer mit ihrem Verantwortungsgerede, uns noch einigermaßen plausibel und vertraut vorkommen, lässt Thalheimer das Kostümproletariat zu einer dumpfen Masse in Dauererregung verkommen. Brüllendes, saufendes Elend, fernab aller Individualisierung und Mitgefühlstauglichkeit, die ihm Hauptmann doch so schmerzvoll eingeschrieben hatte." Von der Bühne schalle es immer nur:" Auf in den Kampf, auf in den Krampf."

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