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Hinter dem Spiegel

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 21. Januar 2011. Mit einem Fingerschnipser kann Werther Szenen, die ihm wichtig sind, wiederholen. Sie für sich noch einmal herbeizaubern. Das Erlebte gleichsam repetieren. Da verwandelt sich der vermeintliche Spiegel – neben einem Schreibtisch einziges Dekorationsstück dieser Aufführung – in eine durchsichtige Scheibe. Hinter dem Glas Lotte, die unerreichbare Angebetete. Sie tut eigentlich nichts, sie ist nur. Ein bodenlanges weißes Unterkleid trägt sie und ein weißes Mieder darüber. Eine pausbäckige junge blonde Dame, eigentlich ohne besondere Eigenschaften. Wenn sie Werther zuwinkt, dann freundschaftlich. Nicht mal schüchtern, aber ohne wirkliche Emotion meist. Wenn die beiden aufeinander zugehen, die Hände an den Spiegel legen, sind das von ihrer Seite zurückhaltende Gesten von Sympathie, nicht mehr. Und immer ist ja das Glas dazwischen, selbst in der hübschen (natürlich auch nur pantomimisch angedeuteten) Kanarienvogel-Szene.

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"Werther" vor dem Spiegel in Graz
© Lupi Spuma

Eine karge Inszenierung von Bastian Kraft? Ganz im Gegenteil. Das Spiegel-Offert von Bühnenbildner Peter Baur bietet viele poetische Möglichkeiten. Der Poesie arbeitet man mit ausgefeilter Technik zu: In der ersten Szene sitzt Werther an seinem Schreibtisch, auf der Glasplatte liegt transparentes Briefpapier. Von unten wird das mit Videokamera aufgenommen und wir können (auf dem Spiegelglas) Werther beim Schreiben beobachten, seine Hände, sein Gesicht studieren, während er zugleich mit dem Rücken zu uns sitzt. Ein junger Mann, schon mit leichtem Haarausfall. Keine der Figuren ist pubertär, auch Albert nicht, der "brave Mensch", mit dem Lotte "so gut als verlobt" ist. Solche Liebe, die unmäßige Projektion aufrichtiger Gefühle aufs falsche – und nicht minder ehrliche – Gegenüber, kann eben immer passieren.

Gedrehte Perspektive

Albert ist logischerweise auch Spieler hinter dem Spiegelglas, ist drinnen, darf als Verlobter Lotte nahe sein. Draußen lebt Werther die Berg- und Talbahn seines stürmisch-drängerischen Überschwangs. Leon Ullrich braucht und nutzt viel Auslauf, Liebesfreud- und Liebesleid setzt er in Wegstrecke um vor dem großen Spiegel, der auch Schreibfläche ist. Dort hält der nüchterne, beinah steife Albert Zahlenkolonnen fest, dort wird Werther bald ein kleines Porträt der Lotte zeichnen, aber später mit weißem Stift auch seinen Abschiedsbrief vom Leben schreiben.

Da hat sich die Perspektive bereits gedreht: Als Werther die vorweihnachtlich verordnete Besuchsabstinenz gebrochen hat und, von den Gefühlen überwältigt, hineingestürmt ist zu Lotte (es gibt ja doch eine Tür!), ist sie herausgeflohen. Von da ab steht Werther hinter dem Glas, ist er "Bild" derjenigen, die in den bürgerlichen Konventionen verharren...

Den PISA-Werten aufhelfen

Dichte anderthalb Stunden, die nicht nur dazu taugen, einem von nicht ganz so guten PISA-Werten angekränkelten jungen Publikum Goethes Briefroman nahe zu bringen. Es ist eine heutige Aufführung, die nicht modernistisch sein will, mit einer Musik, die illustrativ-dezent bleibt, auch wenn's kurzzeitig poppig wird. Nichts da mit den klassischen Werther-Farben (blauer Frack, gelbe Weste), sondern dezentes Schwarz-Weiß in Kostümschnitten der Zeit.

Die Kurve zu E-Mail ("Gut gegen Nordwind"?) und Facebook nimmt man sowieso in Gedanken. Der Text ist gut eingekürzt (die Berlin-Episode ganz rausgestrichen). Evi Kehrstephan als Lotte ist eine schlichte, unaffektierte Stichwortgeberin, Gustav Koenigs Albert schaut pessimistisch, fast grimmig drein. Leon Ullrich geht als Werther mit der auch in anderthalb Stunden-Komprimierung ansehnlichen Textmenge konzentriert um, lässt uns seine Emotionen unmittelbar fühlen, hat aber die Affekte im Griff. Wer wollte diesem Werther verargen, dass er zwei-, dreimal einen Stuhl gegen die vermaledeite Spiegelwand werfen möchte! Keine Angst. Es kommt nicht dazu.


Werther
von Johann Wolfgang Goethe, Fassung von Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft, Bühne und Kostüme: Peter Baur, Dramaturgie: Andreas Karlaganis.
Mit: Leon Ullrich, Evi Kehrstephan, Gustav Koenigs.

www.schauspielhaus-graz.com


Mehr Werther-Inszenierungen? Im Oktober 2009 holte Jan Neumann In Essen Goethes berühmten Selbstmörder ins Medienzeitalter, im April 2009 hat Anna Sophie Mahler in Zürich das Werk ironisch ans jugendliche Zielpublikum herangerückt, 2007 wurde Jan Bosse mit seiner Version zum Berliner Theatertreffen eingeladen, die er 2006 am Maxim Gorki Theater inszenierte.

 

Kritikenrundschau

Bastian Kraft säbele "aus der Geschichte von Werthers sentimentalem, sozialem und beruflichem Scheitern das Filetstück heraus und erzählt die Geschichte einer unglücklichen Liebe in kurzen, eindrücklichen, repetitiven Clips", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (online 22.1.2011). Getragen werde "der Abend von Leon Ullrich, der dem Werther als sehr gegenwärtigen Liebenden herzzerreißende, wenn auch nicht immer textverständliche Lebendigkeit verleiht. Dass zwischendurch auf der Bühne dann doch etwas viel geschrieen und gegen Wände geschlagen wird, gehört vermutlich zum Regiekonzept: Das Stück zielt auf das junge Publikum".

 

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