Was Orgon in den Ruin treibt

von Ute Nyssen

Paris, Januar 2011. Gibt es ein dem deutschen vergleichbares französisches "Regietheater"? Nein. Gibt es keine eigenwilligen Regisseure mit überzeugendem Zugriff auf den Text? Doch. Aber sie repräsentieren keine Strömung, müssen sich als Einzelkämpfer durchschlagen. Ich möchte auf drei aufmerksam machen: Gwénaël Morin und Francois Orsoni, die sich schon einiger Erfolge erfreuen und Thomas Jolly als Beginner. Ihre Ästhetik lässt sich nur individuell beschreiben.

Gwénaël Morin: Der Bau von Bedeutungsebenen

Gwénaël Morin, 41, studierte zunächst Architektur und arbeitet seit zehn Jahren als Regisseur. Sein Blick ist der eines Quereinsteigers, ihn beschäftigen die grundlegenden Wirkungsmechanismen des Theaters. 2009 erhielt er Mittel für das Projekt "Théâtre Permanent" (unter diesem Titel auch als Buch dokumentiert). Ein Jahr lang erarbeitete er mit seiner Truppe fünf Stücke. Proben, Aufführungen, Diskussionen fanden öffentlich statt, und 2010 zeigte das sehr agile Pariser Théâtre de la Bastille die Ergebnisse dieses Experiments.

Morin will Texte weder historistisch aufblättern noch aktualisieren, verweigert sich jeder Musik- oder Videounterstützung, jedem Kostüm. Seine Bühnenausstattung beschränkt sich auf wenige Gegenstände, in "Tartuffe" auf einen Tisch. Manchmal wählt er ein sprechendes Bildelement, in "Bérénice nach Bérénice von Racine" zum Beispiel eine große Tafel mit Pfeilen, die wie ein Notausgangsschild den engen Aktionsraum der Figuren abstecken: Kaiser Titus Richtung Rom, Königin Bérénice Richtung Palästina.

Morin betont, wie wichtig der Beginn einer Aufführung ist. Der erste Auftritt einer Figur bündelt bereits die zentralen formalen Elemente. In "Tartuffe" schafft das ein riesiger schwarzer Sack, unter dem eine Frau steckt, die zwar spricht, aber nichts sehen, dennoch schnell gehen will. Im Fortgang versinkt die ganze Bühne in Schwarz, wenn Molières Regieanweisung "Noir" (Dunkel) ertönt, eine Kerze wird angezündet bei "Lumière" (Licht) und da Lumière auch "Aufklärung" heißt, schafft die Regie gleich eine zweite Bedeutungsebene, und oft erzielt er damit witzige Effekte. In "Berenice" tritt als Erster Antiochus auf, in Jogginghose, hoffnungslos nämlich läuft er der Königin nach. Auf seinem nackten Oberkörper steht groß: "Hélàs". "Helas" - mit "leider" oder "ach" nicht adäquat zu übersetzen - ist d i e Pathosformel der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts (aber auch von Roland Barthes gern benutzt). Insgesamt 17 mal hier mit Gongschlag ausgestellt, referiert sie lakonisch die emotionale Sackgasse der drei Protagonisten.

Andere Blickwinkel schaffen, Enden offen lassen

Morins Fähigkeit zur Knappheit wäre nichts ohne seinen Überschuss an szenischen Einfällen. In "Woyzeck" existiert Maries Baby nur als Kalenderbild an der Wand. Die Mutter zerknüllt ein Blatt und hat bei Woyzecks Stippvisiten schnell das nächste zur Hand. Die Ärztin wäscht sich die Hände, bevor sie Woyzeck abtastet, danach macht sich der Hahn im Waschbecken selbständig, beginnt zu laufen und äfft Woyzecks unbeherrschbares Pissen nach. Und wenn Woyzeck Marie ersticht, dann sinkt im Dämmerlicht ein Schatten nieder, eine schwarze Gestalt schleicht sich weg. Die Leiche von Marie wird entdeckt im hellen Licht, aber Marie erhebt sich und geht Richtung Publikum davon. Die Szene wiederholt sich. Eine Rekapitulation aus anderem Blickwinkel? Vielleicht ist sie nicht tot? Büchners Stück ist Fragment, Morin unterstreicht das offene Ende.

Er entkernt den Text im historischen Verstand total, auch weil er als Schauspieldirektor den Besetzungsmöglichkeiten der Truppe gerecht werden muss. Alle spielen alles, Frauen Männer, Junge Alte. Ob im Falle von "Tartuffe" seine genialen Doppelbesetzungen nur der praktischen Notwendigkeit entspringen oder diese nicht umgekehrt der Lust am analytischen Spiel mit Rollen: sie decken jedenfalls zwingend den Charakter des bürgerlichen Selbstbetrügers Orgon auf, der eigentlichen Rätselfigur des Stücks.

Augen öffnen über den finanziellen Ruin

In neuer, moderner Akzentuierung verlagern sich politische Schuld und Verantwortung für die Zerstörung der Familie von Tartuffe auf Orgon. Weitere Doppelbesetzungen sind geschickt eingesetzt, und am Ende steckt hinter Orgon noch eine andere Person: Morin ließ Orgon unterm schwarzen Sack die eigene Mutter spielen, sie, die am blindesten Tartuffe verfallen ist. Und es bleibt offen: Waren es Orgons Gene, die Tradition, seine Sozialisation oder sein Fleisch, die ihn ins Elend trieben? Wenn zum bösen Schluss Tartuffe ihm die Augen über seinen finanziellen Ruin öffnet, so verfolgt er in aller Unschuld die Interessen der Macht, die er repräsentiert. Er kassierte nur ein Vermögen, das Orgon selbst ihm - nebst Tochter - gierig aufdrängte.

Gwénaël Morins Beitrag zum heutigen Theater lässt sich mit "Die Kunst des Zergliederns und Gliederns" überschreiben, schon immer eine spezifisch französische Fertigkeit des kritischen Ergründens.

Thomas Jolly: Fragen nach Schein, Lüge, Wahrheit

Thomas Jolly, Schauspieler und Regisseur, ist 28 Jahre alt. 2009 erhielt seine Inszenierung von Sacha Guitrys "Toâ" den Publikumspreis des Festivals junger Truppen im Pariser Théâtre Odéon. 2010 stand sie auf dem Programm des Théâtre Gérard Philipe. Mit der Wahl von "Toâ" einerseits und seiner Regiehandschrift andererseits, fiel er gleich zweimal aus dem Rahmen.

Um seine Unangepasstheit zu würdigen, ein paar Worte zu dem im deutschsprachigen Theater inzwischen namenlosen Guitry. Hierzulande ist er ein Klassiker des gehobenen Boulevards. Godard und Truffaut bewunderten ihn als Filmemacher. 2010 lobte ihn die New York Times anlässlich einiger auf DVD erschienenen Filme über den grünen Klee. Guitry bezeichnete "Toâ" (1949) als sein "pièce bilan". Bei Kriegsende hatte man ihn unter dem Vorwurf der Kollaboration verhaftet. In seinem Stück ist aber weder von Krieg noch von Politik die Rede, noch von der für ihn bittersten Erfahrung, trotz mangelnder Zeugen für die Anklage niemals offiziell freigesprochen worden zu sein. Vielmehr setzt es sich nur mit Fragen nach Themenwahl, Dramaturgie und Handwerk eines Dramatikers auseinander.

Perspektive bestimmt Wahrnehmung

Michel Desnoyers, Doppelgänger Guitrys (den Regisseur Thomas Jolly in seiner Inszenierung selbst spielt), begibt sich auf die Suche nach den Widersprüchen einer Figur, die hin und her pendelt zwischen den Interessen eines professionellen Starautors und denen eines Seelenexhibitionisten, der sein Privatleben nicht ausschlachten möchte. Da jedoch seine Frau ihn verlassen hat, kommt das Unglück wie gerufen als Story und Möglichkeit zur Selbsterforschung zugleich. Sein Bett wird zum Theater.

Thomas Jolly erfand ebenfalls die Bühneneinrichtung: unterschiedlich große goldene Rahmen werden von vorne nach hinten und wieder zurück geschoben, vermitteln in glitzerndem Licht den Eindruck von immer neuen Rahmenhandlungen und perspektivischem Wandel der Wahrnehmung. Was ist Schein, was Lüge, was Wahrheit? Die alte Theaterfrage kommt verblüffend einfach ins Bild. Jollys Einfall fegt jede im Boulevard tradierte Nostalgie nach bürgerlichem Interieur hinweg.

Mit V-Effekt gegen das Illusionstheater

Die Inszenierung beginnt vorne auf der Bühne und in einem Conférencierton, mit dem eine der Schauspielerinnen die Bewunderung der ganzen Truppe für Guitry erklärt, den beispiellosen Schauspieler (das war er echt!). Wenn die Inszenierung Ton und Bewegung der Schauspieler überdreht, kommt gleichsam etwas von der nervösen Schnellfertigung der Handlungsmuster Guitrys zum Ausdruck.

Regieanweisungen lässt Jolly sprechen. "Es klingelt" sagt eine Freundin, die den Auftritt des Ehemanns fürchtet, sie zuckt in Zeitlupe zusammen. Das wird zum komischen Ritual. Auch dieser V-Effekt entspricht nicht dem Illusionstheater des Boulevard. Jollys hochstilierte Inszenierung brach mit vielen Konventionen (es gab auch die Kritik, er habe das Stück zerstört), ihr ungewöhnlicher Ansatz besteht darin, formal die analytischen Intentionen des Autors bloßzulegen. Per Tonband wird zum Schluss die brüchige Stimme des alten Guitry eingeblendet, ein Hauch schöner Patina.

Francois Orsoni: Helden jenseits fester Ordnungsschemata

Auch Francois Orsoni, 40, arbeitete zuvor in einem anderen Beruf, als Wirtschaftswissenschaftler an der Universität; er ist Korse. Seine Inszenierung von "Baal" startete 2010 in Avignon und machte in Paris, wie 2009 schon seine Inszenierung von Brechts Frühtext "Hans im Glück", im Théâtre de la Bastille Furore.

Als "Antihelden", die in kein Ordnungsschema passen, interessieren Orsoni die Protagonisten beider Texte. Wie lässt sich auf der Bühne ihre chaotische Existenz nacherzählen? In "Baal" landet er einen Treffer bei der Besetzung. Er wählte die Schauspielerin Clotilde Hesme als Person, ihrer oszillierenden Ausstrahlung wegen. Die Figur Baal entzog sich damit noch einmal der Vereinnahmung.

Lässig sitzt Baal im Sessel, erhebt sich wichtigtuerisch und trägt an der Rampe einen Erguss über sein Leben vor. Orsoni wechselt anhaltend in beiden Stücken zwischen Bühnenszenen und direkter Ansprache per Song (mit Brecht-Text) ans Publikum. Zu den feinsinnig bürgerlichen Gastgebern setzt Baal sich herablassend an den langen Tisch, im Verlauf Drehscheibe und einziger Treffpunkt seiner unterschiedlichen Kreise. Er fläzt sich, säuft aus der Flasche, attackiert aggressiv das Gedicht eines Konkurrenten.

Baals androgyne Natur

Die Szene kippt um, von live gespielter Punkrock-Musik begleitet. Die Musiker/Komponisten (auch Mitspieler) sind wie in "Hans im Glück" ein weiterer Trumpf der Energie dieser Inszenierung, und mit den wechselnden Songs vermittelt die rüde Melancholie der Schauspielerin fast rührend des Dichters Baal androgyne Natur. Im Hintergrund ziehen sich derweil die anderen Schauspieler um. Der bunte Wechsel von einem Fach zum anderen, auf offener Bühne, ist ein weiteres überzeugendes Stilmittel. Jetzt treffen sich die Anarcho-Kumpels, Baals schwuler Freund Eckart und einige zu vernaschenden Mädchen. Die Kostüme evozieren eine zeitlose Moderne, vom taillierten rosa Jackenkleid der Mutter aus den 50er Jahren bis zum lässigen Sportdress der siebziger. Baal selbst trägt weißes Hemd und dunkelgrau gestreiften Anzug. Sie unterstützen den Eindruck eines antillusionistischen Theaters. Man verkleidet sich und spielt gemeinsam.

Baal und Eckart tanzen halbnackt herum, nur dieses eine mal, unschuldig noch gleichsam finden sie körperlich Freude aneinander. Ein schönes Bild verwunschener Erotik: sie ist größer als Eckart, er findet naiv Gefallen an ihrem Busen. Spätere Sexszenen sprechen eher von Frustration und Voluntarismus dieser Gesellschaft als von echten Sinnesfreuden. Denn Baal fingert zwar der weißgekleideten Freundin zwischen den Beinen herum und Eckart "fickt" auf einem Stuhl stehend einen Gefolgsmann Baals: ihr provokant "öffentlicher Verkehr" findet jedoch ausschließlich bekleidet statt.

Anstemmen gegen das zerstörerische Leben der Bühnenfiguren

Die Ausbrüche in die Rockekstase verdecken nicht Baals Verfall. Er verpulvert sich, in allenfalls lyrischer Opposition. Denn Liebe bringt nichts; so wenig wie die Ermahnungen der Mutter, die die Schauspielerin ohne Karikatur, im Lehrerinnenton jener Jahre vor dem antiautoritären Umschwung, herunterschnurrt. Allen Nebenfiguren verleiht die Präzision der Schauspieler Körperlichkeit und ein Gesicht.

Orsoni wollte die fragmentarische Strukur des Bilderbogens nicht verdecken, sondern im Gegenteil mit Nummern formal das Bild von einem nur brüchigen Zusammenhalt des Aufstands gegen alle Normen unterstreichen. Die in sich isolierten musikalischen Einlagen sind ein Mittel, ein anderes die Intermezzi des Clowns Eckart. Äußerlich ist er aufgemacht als Metrosexueller, mit Kette um den Hals und langem Haar. Wie ein Besessener springt er durch die Gegend, spricht sophisticated zum Publikum über die vierte Wand im Theater, fasst sich an den Kopf, um den Begriff "Konzept" für die Inszenierung zu verarschen. Mit dem Kopf nach unten und obszön gespreizten Beinen auf der Lehne wälzt er sich auf dem Sessel. Er ist Zwilling und Gegenspieler Baals zugleich, aber auch seine dionysischen Impulse verlaufen sich, im Sex.

Brecht hat bekanntlich der Spätfassung des Stücks stark moralisierende Korsettstangen eingezogen, Orsonis Inszenierung der Frühfassung verzichtet auf jeden Zeigefinger, spielt dagegen ausführlich eine vielsagende Szene aus: in ihr freut sich Baal naiv über die Veröffentlichung seines ersten Buches. Etwas von dieser jugendlichen Freude bringt auch die Aufführung rüber, als wolle sie mit ihrem Temperament sich anstemmen gegen das kaputte Leben der Bühnenfiguren.

Verteidigung einer Daseinsform

Morin, Jolly, Orsoni gründeten alle ihre eigene Schauspieltruppe. Mit ihr führen sie das bewegte, anstrengende Leben von Fahrenden, im Tourneetheater organisiert. Sie ist nicht allein existentiell Wesensmerkmal ihres (armen) Theaters, sondern neben der lustvollen Achtung vor der Sprache der Dramatiker ästhetisch Anfang und Endpunkt ihrer Arbeit. Claude Régy, neben Patrice Chéreau der wichtigste französische Kultregisseur, sprach jüngst in einem Interview ("Libération" vom 15.12.2010) davon, dass das Theater der "letzte Ort" sei, wo noch "lebende Menschen sich selbst als lebenden Menschen ins Gesicht" sähen. Die drei Regisseure (wie David Bobee, Sylvain Creuzevault, Joel Pommerat, um weitere Namen anzuführen) praktizieren ihr Metier in dem kämpferischen, vielleicht naiven Bewusstsein, mit diesem Ort eine schöne Daseinsform zu verteidigen. Das unterscheidet sie von der vergleichsweise ironischen Haltung des deutschsprachigen Regietheaters.

 

Ute Nyssen
Dr. phil., Bühnenverlegerin, mit Jürgen Bansemer Gründung eines eigenen Theaterverlags. Herausgeberin mehrerer Buchausgaben, u.a. mit Stücken von W. Bauer, E. Jelinek, B. Behan, Th. Jonigk. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Rundfunk.

 

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