Böses Mädchen - Michael Lippold bringt Lothar Kittsteins Beziehungsstück zur Uraufführung
In dichten Gestrüppen
von Guido Rademachers
Bonn, 26. Januar 2011. Gepflegtes Wohnen sieht anders aus. Sessel und Stehlampe haben es offenbar nicht mehr auf den Sperrmüll geschafft. Regen tropft in Emailleschüsseln und -töpfe. Die Zimmerwand, die Ausstatterin Anne Brüssel in fünf Meter Rampenabstand quer über die "Werkstatt"-Bühne des Bonner Theaters gezogen hat, starrt vor Schmutz. Und vor dem grau verdreckten Sprossenfenster erklärt der einzig verbliebene Hausbewohner, was dahinter zu sehen wäre, könnte man noch durchsehen: "Ein Rest des alten mitteleuropäischen Urwalds." Aha, wie passend! Undurchdringliches Gestrüpp sind nämlich auch die Beziehungen der drei Figuren, die Lothar Kittstein in seinem Drama "Böses Mädchen" auftreten lässt.
Da mögen sie noch so knapp und unmissverständlich reden: Sätze, für die mehr als fünf Worte schon viel ist, und ein Relativsatz barocker Formulierlust gleichkommt - Licht in das Dunkel des Beziehungsgeflechts bringen sie nicht. Denn was eigentlich will die Frau von dem Mann, den sie in dem Haus besucht, und der ihr Vater zu sein scheint? Ihn pflegen? Sich wegen offenbar früher erlittener Gewalt an ihm rächen? Und wer ist das Mädchen, das mit ihr gekommen ist und von sich behauptet, böse zu sein?
Was im Haus verborgen ist
Kittstein zeigt die Familie als Ort des Unheimlichen. Einen mitteleuropäischen familiären Beziehungs-Urwald, auf dessen tiefenpsychologischen Boden kein Sonnenstrahl mehr fällt. In dem kunstvoll verrätselte Figuren traumverloren als Archetypen ("Mann", "Frau", "Mädchen") agieren. Und in dem Liebe, Gewalt, Inzest, Verführung, Zuneigung daueraktive Kraftfelder abgeben, ohne sich jemals eindeutig erkennen zu geben. Regisseur Michael Lippold wird da deutlicher. Er gibt seinen Schauspielern klare Haltungen und Kittsteins ambivalentem Ungefähr eine handfeste konkrete Geschichte. Das legt die Struktur des Textes frei, macht ihn banaler, vorhersehbarer. Aber den Abend zwingend. Mitreißender.
Birte Schrein als "Frau" zeigt, dass sie nichts anderes als Bilder aus ihrer Vergangenheit abruft. Etwas unsicher stöckelt sie auf hohen Pumps durch das Zimmer, stellt prüfend Fragen an den "Mann", ihren Vater, studiert die Hand, die ihren Arm greift, neigt den Kopf bei seinen unwirsch knarzigen, schnell aggressiv werdenden Bemerkungen, wie um sich zu erinnern. Wolfgang Rüters "Mann" wundert sich keinen Deut über den Besuch: Ein großer knochig-knorriger Alter, der hüftsteif in seinem Sessel hängt, mit einem Messer an einem Apfel herumschnippelt und gelegentlich in Warteschleife unter buschigen Augenbrauen vor sich hinstarrt.
Rollen tauschen, Rätsel lösen
Kaum hat die "Frau" eine alte Spieluhr in Gang gesetzt, erscheint als zweites Ich das "Mädchen" (Philine Bührer) tanzend im Türrahmen. Zärtlich setzt sie sich auf die Knie des Mannes, entsetzt versucht die "Frau", sie von dort wegzuziehen. Beide klammern sich weiter aneinander, nehmen die "Frau" nicht zur Kenntnis. Es ist das Ankämpfen gegen ein Bild.
Dann tauschen "Mädchen" und "Frau" plötzlich die Rollen. Birte Schrein steht nun in einer überragend gespielten Szene leise weinend, hin und hergerissen, nach Zuneigung flehend und mit kleinen Schritten weg wollend, vor dem Vater, wird schließlich weich, kost dessen Bartstoppel, ein kurzer Moment der Erlösung... und wird gleich darauf zum Kuss gezwungen, auf den Boden geworfen und vergewaltigt. Mit "Du Mistvieh" verabschiedet sich der Vater und spuckt aus. Das Unheimliche bleibt ohne Geheimnistuerei. Der eher konventionelle, auf klare Figurenpsychologie drängende Regie-Ansatz ist möglicherweise nicht die einzige Möglichkeit, mit Kittsteins familiärem Beziehungsgestrüpp fertig zu werden. So konsequent und präzise, wie Lippold dies durchexerziert, aber durchaus eine gültige.
Böses Mädchen (UA)
von Lothar Kittstein
Regie: Michael Lippold, Ausstattung: Anne Brüssel, Dramaturgie: Christopher Hanf.
Mit: Philine Bührer, Birte Schrein, Wolfgang Rüter.
www.theater-bonn.de
Mehr zu Lothar Kittstein: wie besprachen im Dezember 2009 Bernhard Mikeskas Remake::Rosemarie, für das Kittsetin den Text schrieb.
Lothar Kittstein habe ein spannungsvolles Stück der Andeutungen, Rätsel und Fragen geschrieben, schreibt Dietmar Kanthak im Bonner Generalanziger (28.1.2011). "Es dreht sich um Macht und Missbrauch, körperliche und seelische Verletzungen und ihre Folgen. Regisseur Michael Lippold versteckt sich nun nicht verdruckst hinter der offenen Poesie der literarischen Vorlage. Er verortet die Figuren, die zwischen Traum und Trance agieren, in der Wirklichkeit." Regisseur Michael Lippold verstecke sich nicht hinter der offenen Poesie der literarischen Vorlage und verorte die Figuren, die zwischen Traum und Trance agieren, in der Wirklichkeit.
"Lothar Kittstein scheut die Untiefen des offensichtlichen Problemstücks. Deshalb löst er die Rätsel nicht auf, sondern verwirrt die Fäden immer mehr", findet dagegen Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (28.1.2011). Ist der Vater zum Beispiel ein Geist oder die Szene eine Rückblende? "Kittstein verrät es nicht." Die Aufführung hinterlasse Eindruck, der Text könnte noch einige Feinjustierungen vertragen. Denn wenn sich aus einem Rätsel immer nur das nächste ergebe, aber kein Erkenntnisfortschritt, erlahme irgendwann das Interesse. Fazit: "'Böses Mädchen' ist das Skelett eines Psychothrillers, der etwas mehr Fleisch und Blut vertragen könnte."
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Das Thema Mißbrauch wird leider auch in Zukunft nie an Aktualität verlieren - sich im Rahmen eines Theaterabends aber gleichzeitig vor Eindeutigkeit zu drücken (Text) und dann doch nur abgestandene Bilder zu bieten (Regie)finde ich ziemlich bitter. Denn unterm Strich - und das ist das wirklich Erschreckende bei diesem Thema - hat mich dieser Abend leider gar nicht berührt. Dabei hat Lothar Kittstein im letzten Jahr mit seinem Stück "Haus des Friedens" an gleicher Stelle bewiesen, dass er packende Texte zu aktuellen Themen schreiben kann.