Frieren fürs Migrantenprojekt?

von Jürgen Reuß

Freiburg, 31. Januar 2011. Der Blick von der Galerie hinunter aufs dicht besetzte Winterer-Foyer des Theaters Freiburg, Gastgeber der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft, gibt auf die Mottofrage "Wer ist WIR?" zumindest eine, nun ja, Antwort wäre wohl zu viel, sagen wir mal, beschwört eine Art Gemeinschaftssound, so ein "I see those dramaturges and all are dressed in black". Das wäre im Prinzip keiner Erwähnung wert, wenn nicht die Frage nach dem das Theater konstituierenden Wir im Zentrum des mehrtägigen Arbeitstreffens stünde. Ein gemeinsamer, unausgesprochener Dresscode kann da durchaus ebenso von Belang sein, wie die bisweilen in den Vordergrund rückende Redekunst, vor allem das eigene Anliegen ins Zentrum zu stellen. Das ist ein oberflächlicher Eindruck von außen, der sich bei längerer teilnehmender Beobachtung differenzierter gestaltet, aber dazu muss man erst mal reinkommen. Und damit ist man beim Kern des Problems.

Demografischer Wandel

Ausgangspunkt ist der demografische Wandel. Heute haben im Schnitt 30 Prozent der Bevölkerung Migrationshintergrund, in den Grundschulen sind es 60 Prozent. Und in den Theatern? Da sieht es überwiegend so aus, wie es Shermin Langhoff, Leiterin des "postmigrantischen" Kleintheaters Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg, auf dem Abschlusspodium formulieren wird: Das Stadttheater ist eine der deutschesten Institutionen überhaupt. Deutsch in diesem Zusammenhang natürlich sehr altmodisch exkludierend verstanden. Die Frage, die Dramaturgen und Intendantinnen nun umtreibt, ist die, wie man das Theater für anderes Publikum öffnen, Partizipation auf breiterer Basis erreichen, dem demografischen Wandel und damit dem Anspruch, Theater für alle zu sein, gerecht werden kann.

Dass man das möchte, ist eine Zielvorgabe, die auf wahrgenommene 100 Prozent Zustimmung trifft – in der Theorie. Doch schon in der wird es problematisch. Wie beschreibt man eigentlich das, was man erreichen möchte? Integration? Nein, Integration ist schlecht, diskriminiert andere dazu, sich an etwas anzupassen, womöglich auch noch an eine Leitkultur. Multikulti? Was soll man da machen? Etwa Zielgruppentheater? Othello mit einem Schwarzen besetzen und Pizza vom Italiener backen lassen? Acht Inszenierungen zu Ehrenmord pro Stadt ansetzen?

Mark Terkessidis' Interkultur

Als für die Tagung konsensfähig zeichnete sich der von Mark Terkessidis nicht erfundene, aber stark gemachte Begriff "Interkultur". Terkessidis durfte seine Idee als Gastredner auch selbst erläutern (hier der Vortrag im Originalton). Die zielt nicht unbedingt auf ein theoretisch trennscharfes Gedankengebäude, im Grunde ist ein Beispiel für gelungene Interkultur auch sprechender. Demnach muss man sich Interkultur ungefähr so vorstellen wie Fatih Akins "Gegen die Wand" oder so, dass eine als ureigen griechisch empfundene Volksmusik ebenso aus Bollywood stammt wie die der türkischen Nachbarn.

Ob das dann Interkultur, Multikulti, gelungene Integration oder sonst wie heißt, ist Schlusspodiumsgast Klaus Theweleit ziemlich egal. Seiner Meinung nach gibt es überall da, wo Verschiedenes aufeinandertrifft, Mischungen. Leitkulturen gibt es nicht. Wer sich auf Deutsch-, Türkisch- oder Sonst-wie-Sein beruft, macht das in demagogischer, machtlüsterner Absicht. Shermin Langhoff erinnert daran, dass auch Multikulti schon mal Erfolge aufzuweisen hatte, als Ausländer es fast zu Mitbürgern gebracht hatten. Doch dann fiel die Mauer, und die "Deutschen" versanken in Selbsterforschung.

Weiter so geht nicht mehr

Wenn diese These von Langhoff stimmt, war die Selbsterforschung insofern produktiv, als sie offenbar eine stark spürbare Verunsicherung über die Rolle des öffentlich subventionierten Theaterbetriebs und das Selbstverständnis der Theaterschaffenden hervorbrachte. Einfach so weiter machen, wie gewohnt, schien für die überwiegende Mehrheit der Tagungsteilnehmer nicht mehr denkbar. Was aber tun?

Auf der organisatorischen Ebene haben sich die Tagungsveranstalter Mühe gegeben, partizipative Kommunikationsformen intern schon mal praktisch umzusetzen. Nach Impulsreferaten und Podiumsdiskussion durfte man sich im World Café in wie beim Speeddating durchwechselnden Kleinstgrüppchen mischen, um mögliche Themen anzudiskutieren. Auffällige Beobachtung: Vertreter der östlichen Bundesländer verstanden zwar die prinzipielle Notwendigkeit, auf eine Migrationsgesellschaft zu reagieren, sahen aber in ihren Städten keinen solchen demografischen Handlungsdruck. Wurde es konkret, etwa bei der Überlegung wie man zum Beispiel Russlanddeutsche ans Theater bekommt, ging begrifflich von Integration bis Interkultur wieder alles durcheinander.

Legitimationsdruck

Bei den nachfolgenden Tischgesprächen räumte Rolf Bolwin, geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins ein, dass aus der Politik ein Druck hin zur Öffnung deutlich zu spüren sei. Viele Städte, auch in Freiburg, haben Interkulturelles auch für die Theater auf die Agenda gesetzt. Es gibt einen spürbaren Legitimationsdruck. Aber was folgt daraus? Muss die öffentliche Hand mehr Geld geben, wenn sie eine Aufgabenerweiterung verlangt? Muss man die vorhandenen Mittel radikal umwidmen? Lässt sich "Migrantentheater" mit Abo- und Auslastungsansprüchen vereinbaren? Sollte man Quoten einführen? Wie kann man Quoten einführen, wenn die Zugangsvoraussetzung Deutsch oft Ausschlusskriterium ist? Darf die deutsche Sprache ein Kriterium sein? Ist das dann Leitkultur? Ist Migrationshintergrund ein künstlerisches Kriterium?

In der Theorie lässt sich dazu leicht eine Haltung finden, wenn zum Beispiel Shermin Langhoff dem Gros der Theatertreibenden überspitzt vorwirft, Partizipation nicht als künstlerisches Anliegen, sondern als Erfüllung von Förderkriterien zu betreiben. Was setzt man aber in der Praxis dagegen?

Soll man im Theater die Temperatur um zwei Grad senken, um die nächste partizipative Projektarbeit zu finanzieren, wie es die Freiburger Intendantin Barbara Mundel ernsthaft überlegt hatte, und die zugunsten der Projekte konkret den Bühnenetat schon soweit zusammengestrichen hat, dass die Oper mit dem Fundus auskommen muss. Schließlich muss sich ein Theater nicht nur mit den Künstlerverträgen arrangieren, sondern auch mit den Tarifverträgen der Techniker, gewerkschaftlichen Arbeitszeitforderungen etc.

Der Erlöser verweigerte sich

Wenn so viele Suchende, auch Verunsicherte zusammenkommen, wird auch gern der Platz des Erlösers besetzt. Der wurde in Freiburg dem belgischen Dramaturgen von der Koninklijk Vlaamse Schouwburg in Brüssel Ivo Kuyl aufgenötigt. An der KVS konnten die Arbeitsverträge projektkompatibel flexibilisiert werden. Freie Verfügbarkeit plus Entscheidungen im Konsens, dass schien eine ungeheure Attraktivität auszustrahlen.

Im nächsten partizipativen Tagungselement, dem Open Space nach den samstäglichen Impulsreferaten, unter anderen von Ivo Kuyl, wurde die Frage nach der Übertragbarkeit auf deutsche Verhältnisse für die folgenden Arbeitsgruppen generiert, und die Abstimmung mit den Füßen war deutlich. Der Zulauf sprengte jede vorgesehene Dimension, als wäre ein guter Teil der Teilnehmer bereit, die 19.-Jahrhundert-Musentempel zugunsten multifunktionaler Institutionen zu schleifen. Kuyl erwies sich als guter Messias und wies jegliche Nachfolge zurück. Jeder müsse vor Ort mit seinen Mitteln nach eigenen Lösungen suchen.

Mut haben, Fehler zu machen

Vor Ort wird dann auch viel experimentiert, und zum Experiment gehört auch der Mut zum Fehler, worauf der neu gewählte Vorsitzende der Dramaturgischen Gesellschaft, Christian Holtzhauer, zum Ende der Tagung hinwies. Dass dabei auch Ängste im Spiel sind, hatte er zuvor bei den Tischgesprächen erwähnt: vor den Abonnenten, der schwindenden Legitimation und der fehlenden Finanzierung.

Und noch einen Punkt hatte er angesprochen: Änderungen können auch Verzicht bedeuten. Partizipation bedeutet letztlich auch, dass ein Teil der Jobs von anderen erledigt wird, als denen die es heute tun. Bei der Abschlussdiskussion fiel der Vergleich mit dem Film: Wenn das Theater heute da ist, wo Faßbinder in den 70ern war, wird man das Erreichen der Fatih-Akin-Zeit auch an den Namen ablesen können, und zwar nicht aus Quote, sondern aus künstlerischer Notwendigkeit.

 

Originalton des Vortrages von Mark Terkessidis

Vortrag von Martina Löw

Das fremde Wir, Dirk Pilz in der Neuen Zürcher Zeitung, 29. Januar 2011


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Kommentare  
Tagung dramaturgische Gesellschaft: Prozess der Selbstveränderung
Lieber Jürgen Reuß,

vielen Dank (auch an nachtkritik.de) für diesen ausführlichen Bericht über den Jahreskongress der Dramaturgischen Gesellschaft. Ich möchte nur an einer Stelle mit einem ergänzenden Kommentar einhaken, wo Sie über das Referat von Ivo Kuyl berichten. Sein Arbeitsbericht aus Brüssel bekam in Freiburg nicht deshalb so starken Beifall, weil er uns irgend eine Art von Erlösung verheißen hätte. Sondern weil er mit analytischer Klarheit den Prozess der Selbstveränderung eines Theaters beschrieben hat, das im Vergleich zu unseren noch eher fragenden und tastenden Suchbewegungen bereits einen mutigen Schritt in die Umsetzung neuer künstlerischer Strategien erprobt.

Während die Dramaturgien in Deutschland, wie Sie zurecht schreiben, gerade erst beginnen, ihre Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität neu zu justieren und in einer größeren Breite ernsthaft sowohl über die Notwendigkeit wie über die Bedingung der Möglichkeit von Partizipation in den deutschen Stadttheatern nachdenken, haben sich die Kollegen des KVS in Brüssel bereits neue Arbeits- und Organisationsformen erarbeitet und können aus der Perspektive ihrer Erfahrungen die künstlerische Relevanz eines solchen Umbauprozesses reflektieren. Neben den Aspekten, die Sie in Ihrem Bericht erwähnen, fand ich besonders wichtig, dass Kuyl kein neues Zielgruppentheater propagiert, sondern Partizipation als prinzipielle Aufgabe für die gesamte Institution des Theaters und seiner künstlerischen Arbeit begreift. Und, noch wichtiger, dass er den künstlerischen Gewinn dieser Suchbewegung beschreiben kann.

Die Motivation für die anstehenden Umbauprozesse muss eine künstlerische sein (darauf insistiert Shermin Langhoff zu Recht!), wie umgekehrt der Ertrag jeder institutionellen und strukturellen Veränderung sich an den Folgen für die künstlerische Arbeit messen lassen muss. Beides ist zusammen zu denken, um einen neuen, positiven Begriff von Stadttheater zu erarbeiten, der sich wieder an die ganze Stadt adressiert, indem er Teilnahme und Teilhabe für alle ermöglicht. Vielleicht ein neu verstandenes Volkstheater?
Tagung Dramaturgische Gesellschaft: man muss sich entscheiden
Das deutsche Theater diskutiert am liebsten - über sich selbst und über die eigene Krise. Das ist mir als Nicht-Deutschem als erstes aufgefallen, seitdem ich mich mit deutschem Theater beschäftigte. Und wenn es keine Krisen gibt, müssen sie herbeigeredet werden.
Zum deutschen Stadttheater, noch eine sehr deutsche Einrichtung - und eine sehr lobenswerte, weil den kulturellen Mittelpunkt einer Stadt bildend: Verändert man dessen Strukturen und Ziele einschneidend, dann zerstört man es. Für irgendwelche "Projekte" braucht man wohl eine Bühne, aber sicher kein klassisches Stadttheater mit angestellten Mitarbeitern. Nein, dann hat man Theater wie in Italien, Frankreich oder den USA. Bloße Bühnen eben. Will man das? Jedenfalls muss man sich entscheiden, was man will.
Ich würde mir auch keine Illusionen machen: Wenn die deutsche Arbeiterschaft oder Unterschicht nicht zu den typischen Theaterbesuchern zählen, dann wird sich dies bei migrantischen Bevölkerungsgruppen nicht anders verhalten. Da werden die einen lieber fernsehen oder auf Facebook sein, als im Theater zu sitzen. Und die anderen wiederum sind an internationalem Theater, aber nicht an "Migrantentheater" interessiert, weil sie das als Ghettoisierung empfinden.
Wie in den USA, Australien oder anderen mit Migration erfahrenen Ländern wird Theater überleben, wenn es gut gemacht, gut gespielt und spannend ist. Und wenn es seine Zielgruppen findet. So etwas wie "Migrantentheater" gibt es dort nicht. Dagegen: Krampfhaft irgendwelchen Themen nachzulaufen, die gerade Boulevard-Schlagzeilen machen, wird ein vergeblicher Versuch sein, Zuschauer zu gewinnen. Das ist eine nette, naive Illusion.
Die Frage ist somit: Will man gutes, erfolgreiches, finanziell tragbares und ertragreiches Theater machen? Oder will man irgendwelche gerade modischen, bei Lokalpolitikern gerade hoch im Kurs stehenden "Projekten" durchführen - mit der Gefahr, dass am Ende die Theater geschlossen werden, weil das Geld und Zuschauer weg sind, und weil neue Politiker amtieren, die sich an die lieben Träume ihrer Vorgänger nicht gebunden fühlen?
Tagung Dramaturgische Gesellschaft: Bewegung ist gut
@Luchino Visconti - "interkultur" als modisches Projekt - finde ich gut! Stimmt! Aber ich glaube schon, dass man den Stadttheatern in Deutschland einen kräftigen Tritt in den Hintern verpassen muss, damit diese aufwachen. Das bedeutet: Subventionen nur, wenn auch "Interkulturelles" im Theaterapparat ist. Mitarbeiter und Künstler. Quote eben. Dann kommt Bewegung ins Spiel. Bewegung ist gut - immer.
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