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Eskalation auf den Gefrierpunkt

von Christoph Fellmann

Zürich, 4. Februar 2011. Ach. Der Seufzer der Amme, der diese Geschichte eröffnet, ist klein und schmal. Man könnte meinen, in der Palastküche zu Korinth sei ein Sack Mehl umgefallen, ­ wäre da nicht dieser Anflug von Panik in ihrem Bericht, so leise, dass man ihn gerade noch wahrnimmt. Der Mann, Jason, hat die Frau, Medea, verlassen. So eine unbedeutende Bredouille wird in diesen Kreisen normalerweise mit der gebotenen Haltung gehandhabt und von den Bediensteten mit souveränem Fleiss wegmoderiert. Zumal es ja auch vernünftige Gründe gibt: Es gilt schließlich, den Stand der Familie (bzw. ihrer Stammhalter) nachzubessern ­ durch Einheirat ins Königshaus.

Diese selbstverständlich abschnurrende Staatsräson zeigt Barbara Frey sehr schön in ihrer Medea, die vier Jahre nach ihrer Premiere am Deutschen Theater Berlin jetzt am Zürcher Schauspielhaus wieder aufgenommen worden ist, wo Frey mittlerweile als Intendantin wirkt. Nur eben, dass sich in den beamtischen Tonfall von Anfang an ein leiser, aber prekärer Misston mischt. Etwas stimmt nicht.

Gesprengter Rahmen, flackernder Rand

Und was da nicht stimmt, das ist nicht Jason, der seine Frau und Kinder in die Verbannung schickt. Es ist Medea, und das spürt man schon, noch bevor in ihrem Wohnzimmer das Licht angeht und sie dasteht, leicht über den Küchentisch gebeugt, im engen schwarzen Kleid. Noch ist diese Frau gefasst. Aber Nina Hoss gibt dieser Gefasstheit einen flackernden Rand. Und so sprengt die Aura dieser Medea in Zehntelsekunden den Rahmen der kleinen Spießerstube aus Herd und Häkeldecken, die man für sie, die Fremde, eingerichtet hat.

Eineinhalb Meter über dem Boden hängt dieses viel zu kleine Puppenhaus in einem kahlen und kalten Bühnenraum, und bis kurz vor Schluss des Stücks wird hier noch die heftigste Raserei verpuffen, denn es ist Raserei in Isolationshaft. Hier zieht Medea ihren Kopf ein, und hier geht sie vor dem König auf die Knie. "Ich weiss, wer der Stärkere ist", sagt sie ihm, aber Nina Hoss macht das so eiskalt, dass es klingt wie: "Du weisst, dass der Schwächere der Gefährlichere ist." Die Szene eskaliert augenblicklich auf den Gefrierpunkt. So hart und konzentriert und atemlos ist diese ganze "Medea". Und das gilt nicht nur für Nina Hoss in der Titelrolle, für die sie sich schon in Berlin zu Recht viele Lorbeeren geholt hat.

Brütend, schwärend, grausig

Das ganze Ensemble spielt in dieser kühlen Präzision ­ selbst Michael Neuenschwander, dessen Jason in der Körpersprache wohl eine Spur zu pöbelhaft angelegt ist, der im Text aber einen gestochen scharfen Ton findet für die routinierte Gewohnheit, mit der er im Leben seiner Frau die Fäden zieht. Seine erste Begegnung mit Medea gehört zu den stärksten Szenen des Abends: Wie er sie aufs Bett setzt, wie er vernünftig auf sie einredet. Und wie sie reagiert: ­ nicht zynisch, nicht wütend. Wie sie, viel schlimmer, brütet und schwärt. Wie sie sich dann die Nase schneuzt, wie sie sich fasst und ein Glas Wein trinkt. Und wie sie dabei den Plan fasst, ihre Kinder umzubringen, und wie sie sagt: "Mir graust, wenn ich daran denke, was ich tun muss." Die Schauspielerin legt nicht den geringsten Graus in den Satz, und das macht ihn erst so richtig grausig. Und das Geschenkpapier, in das sie die vergifteten Kleider für Jasons neue Frau legt, hat die gleiche Farbe wie dessen Anzug.

Doch Jason ahnt nichts vom Unheil, als er sich von Medea auf dem kleinen Bettchen ein letztes Mal verwöhnen lässt. Da ist der Bote auf seinem knatternden Fahrrad schon unterwegs mit der schlimmen Botschaft, und Matthias Bundschuh schafft das Kunststück, diesen Beamten zugleich vollkommen gefasst und vollkommen fassungslos zu geben. "Ich habe heute gelernt, dass jedes Leben auf der Erde nur ein Schatten ist», schliesst er seinen Bericht, als handle es sich um einen Protokollbeschluss. Und eilt schneller davon, als er gekommen ist.

Und dann treffen sie sich noch einmal, Medea und Jason. Sie geht nach Athen, und er in die Knie.

 

Medea
von Euripides
Deutsch von Hubert Ortkemper
Regie: Barbara Frey, Bühne: Bettina Meyer, Video: Bert Zander, Kostüme: Gesine Völlm, Dramaturgie: Katja Hagedorn und Roland Koberg.
Mit: Iris Erdmann, Gabor Biedermann, Ursula Doll, Nina Hoss, Markus Scheumann, Michael Neuenschwander, Siggi Schwientek, Matthias Bundschuh.

www.schauspielhaus.ch

 

Mehr zu Barbara Frey gibt es im nachtkritik-Archiv.

 


Kritikenrundschau

Die "kluge Inszenierung" Freys vertraue der Macht der Sprache, schreibt Klara Obermüller in der Welt (8.2.2011). "Mit dem sicheren Gespür für dramatische Effekte weiß diese Regisseurin um die Wirkung der leisen Töne und der sparsamen Gesten. In ihrer Inszenierung werden die ungeheuerlichsten Dinge scheinbar unbeteiligt und fast tonlos erzählt." Nina Hoss führe uns eine Medea vor Augen, in der die Glut von Eifersucht, Schmerz und Verzweiflung längst erloschen ist: "Sie spricht zwar andauernd von Rache, doch auch diese Gelüste sind eiskalt und darum umso bedrohlicher." Obermüllers Fazit: "Moderner geht's nicht."

"Auf einmal weiss man wieder, was Theater kann" staunt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger aus Zürich (7.2.2011). Sie preist die Bühne: "Drinnen ist ein Albtraum, das Draussen ein Videotraum und das Drumherum gar kein Traum, sondern ein Krematorium: kühle, weisse Wände, düster gewandete Leute. Und bald wird dort masslose Leidenschaft zwei Familien verbrennen." Sie preist die Regisseurin, die "das Monströse und das Melancholische ins Minimale" packe. Und sie preist, natürlich, Nina Hoss: "Mal richtet sich die schlanke Frau hoch auf und speit ihrem ungetreuen Jason Verachtung entgegen, während ihre Arme und Hände 'Sehnsucht! Sehnsucht!' rufen. Mal krümmt sie sich auf dem Boden, flüchtet sich in die Embryonalhaltung, während ihr ein entsetzter Bote (Matthias Bundschuh) die Nachricht von ihrem Triumph bringt: vom grässlichen Sterben Glaukes und ihres Vaters. Der Körper weiss mehr als der verwirrte Kopf."

"Eine so kühle Medea war nie", befindet Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (7.2.2011). Auch sie ist beeindruckt: "Und wie Nina Hoss im schmalen schwarzen Kleid an die Einbauschränke gepresst steht, eine Riesin im Reich der Zwerge, da ist alles für ein Mal und immer sinnfällig: Diese Frau passt nicht in Kreons und Jasons mickrige Männerwelt – und wenn man sie darin einsperrt, wird sich das bitter rächen." Allerdings formuliert sie Einwände: "Wie sie, die schöne, kluge, souveräne Medea, überhaupt in Leidenschaft für diesen proletenhaften Macho entflammen konnte, der sich beim letzten Rendezvous noch einmal erotisch gütlich tut an der von ihm Verstoßenen und von Markus Scheuermanns blassem Politprofi Kreon aus Korinth Verbannten, ist das Rätsel von Barbara Freys Inszenierung. Da mögen der Regisseurin die feministischen Pferde – pardon: Stuten – durchgegangen sein."

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