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Reden ist Silber, Schwadronieren ist Gold

von Harald Raab

Mannheim, 6. Februar 2010. Wir bleiben im Gespräch. Wir sprechen uns noch. Wir dürfen den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen: Das Gespräch als manisches Grundrauschen aller menschlichen Beziehungen, besonders als hohles Gedöns in den Sphären der Politik. Die Kommunikationsmisere in der babylonischen Sprachverwirrung unserer Zeit hat sich die österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla als Generalthema vorgenommen. Nach Büchern wie "die alarmbereiten" und Stücken wie "draußen tobt die dunkelziffer" oder "worst case" jetzt ihre neue Theaterarbeit: "die unvermeidlichen".

Die Uraufführung am Mannheimer Nationaltheater ist ein Glücksfall, weil Marcus Lobbes die Regiearbeit übertragen wurde. Er hat die Phantasie und die Sensibilität, aus der zum Komischen tendierenden Logorrhöe von Simultandolmetschern unaufdringlich, aber konsequent ein Drama der inneren Sprach- und Hilflosigkeit zu formen. Ich rede, also bin ich; auch wenn Schweigen Gold wäre. Aber dafür wird man ja nicht bezahlt.

"Ich muss im Flow bleiben"

Zuschauerraum und Bühne sind eine Einheit im nüchternen Neonlicht, das während der Vorstellung nicht heruntergedimmt wird. Weiß gestrichen der Boden, voluminöse sandfarbene Sitzkissen darauf verstreut. Die Zuschauer sind eingeladen, es sich bequem zu machen. Chill-out nennt man derartige Relax-Angebote, die mittlerweile auch in den Kunstbetrieb Eingang gefunden haben. Wer Platz genommen hat, kann auf einen von sechs Monitoren blicken und sich aus dem realen Bühnengeschehen ausklinken.

 

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In der babylonischen Sprachbox: Kathrin Rögglas Simultandolmetscherstück "die unvermeidlichen"
© Christian Kleiner

Die ganze Rückwand nimmt ein bräunlicher Container ein. Zwei Bühnenarbeiter mit Akkuschrauber treten auf. Sie demontieren die Vorderseite. Zum Vorschein kommt ein presspanplattenöder Raum. Wie zu einer Familienkonferenz aufgestellt sechs Figuren: drei Damen, Typ überständige Mädchen mit Strickjacke oder Bubikragenkleid, und drei Herren, graumäusige Anzugträger vom Schlag des namenlosen Heers der subalternen Angestellten, die gerade deswegen ihre ganz persönliche Bedeutung für das Gelingen eines großen Werks herausstreichen müssen (Bühne und Kostüme: Christoph Ernst).

Im Ankurbelungsfuror

Die zur Hysterie neigende Chinesin (Isabelle Barth), die herbe Russin (Sabine Fürst), die plappermäulige Französin (Jenny König), der sich wichtig aufgockelnde Spanier (Jacques Malan), der coole Engländer (Sven Prietz), der hypernervös-spleenige Franzose (Sascha Tuxhorn): Erst stehen sie nur da, schauen und reden aneinander vorbei, die Arme vor der Brust verschränkt, wahlweise in den Hosentaschen vergraben. Nur nicht aus dem Redefluss geworfen werden. Nur nicht nachdenken. Wer stockt, ist draußen. Das Mantra der Simultandolmetscher: "Die Übersetzung muss laufen, ich muss im Flow bleiben." Egal, ob es Sinn macht oder Null-Information dabei herauskommt.

Dazu noch die Fährnisse im Jonglieren zwischen den Sprachkulturen: Im Deutschen kommt das Verb ganz hinten. Im Englischen führt es den Satz an. Da muss man tricksen und sich aus der Affäre mogeln, wenn man falsch geraten hat. Minister in Endlossätzen unterwegs, aus denen sie keinen Ausgang finden. Wo bleibt die Logik? Die Grammatik hat sich gegen den Redner verschworen. Zu allem Übel Neologismen im Politikerkauderwelsch: Bankenabgabe, Transfersteuer, Generationengerechtigkeit, oder noch schlimmer: Ankurbelungsfuror.

Auf welchem Konferenzraumschiff ist man gerade? Atomendlagerkonferenz, Bildungsnotstandskonferenz, Migrationskonferenz, Konferenz für die erneuerbaren Energien, Sicherheitskonferenz? Oder ist es gar nur eine Wohlfühlkonferenz für die dringlichen Fragen der Zukunft? Konferenzen für alles und jedes. Aktionismus statt wirklicher Aktionen. Reden um des Redens willen.

Auf einer Konferenz der Halbtoten

Regisseur Lobbes lässt mit sicherem Gespür fürs Abgründige im Banalen die Szene ins Chaos schlittern. Alles gerät aus den Fugen und die Akteure aneinander. Draußen vor der Kabine ist die Hölle los, drinnen sind alle aus dem Häuschen, durchgedreht, halluzinierend, am Boden zerstört. Was ist Realität, was Fiktion? Um Inhalte kümmert sich längst keiner mehr. Demonstranten lassen die Konferenz platzen. Allgemeiner Kommunikationsgau. Abgeschaltet von der Welt dort draußen. Im Irrenhaus sind immer die anderen.

Spätestens hier wird den Zuschauern bewusst, dass es ja nicht nur um diese Schattenfiguren auf der Bühne gehen kann. Sie sind nur Stellvertreter für die Politakteure, denen sie ihre Stimme leihen und deren Agieren sie Zug um Zug übernehmen. Der Kommunikationsturmbau zu Babel ist gescheitert. Mission impossible.

Marcus Lobbes hat in der vergangenen Spielzeit das Mannheimer Publikum mit seiner schräg-schrillen Fiesco-Produktion irritiert. Er tut es auch dieses Mal: mit einem teils spröden, teils durchgeknallten, aber stets hoch differenzierten Reportagestil. Damit kommt er der Intention der Autorin Kathrin Röggla kongenial entgegen. Starkes Theater ist es allemal, das hier geboten wird. Nicht zuletzt deswegen, weil die Schauspieler diesen allmählichen Auflösungsprozess sehr intensiv gestalten. Flucht ins Irreale: Vielleicht kommunizieren wir bereits allesamt auf einer Konferenz der Halbtoten, zum Leben zu viel, zum Sterben zu wenig. Alles ein Gesprächsmissverständnis – oder was?


die unvermeidlichen (UA)
von Kathrin Röggla
Regie: Marcus Lobbes, Bühne und Kostüme: Christoph Ernst, Dramaturgie: Stefanie Gottfried
Mit: Isabelle Barth, Sabine Fürst, Jenny König, Jacques Malen, Sven Prietz, Sascha Tuxhorn

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Röggla habe ein schwirrendes Stück collagiert, in dem die Stimmen summen, fast wie bei einer Konferenz, "wo sie aber auch das Abgleiten ins Nichts dieser Existenzform, das Heißlaufen der Maschine, das Stottern des Getriebes, die Auflösung des Betriebs, das endlose Rauschen einer entkernten, veräußerten Sprache deutlich herausarbeitet", schreibt Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (11.2.2011). Und das Röggla sprechen lasse, das habe Regisseur Marcus Lobbes genau erspürt. "Er inszeniert einerseits die abstrakte Sprachmelodie, den rauschenden Singsang, andererseits entdeckt er in den Stimmen Restbestände des Persönlichen." Jeder Stimmwechsel und jeder Positionswechsel werden in der bewusst statischen Inszenierung zu einem starken Zeichen.

"Marcus Lobbes hat Rögglas Stück regelrecht eingesargt", befindet Christian Gampert auf DeutschlandradioKultur (6.2.2011). Für Rögglas Vorlage hat Gampert durchaus etwas übrig. Aber Lobbe habe sich "eine pseudobetroffene, pseudokritische Versuchsanordnung ausgedacht und stellt die Figuren tumb in den leeren Raum, in eine braune Box, wo sie furchtbar allein und furchtbar unglücklich sein dürfen. Ja, natürlich, die wollen da raus - aber die hohldrehende Geschäftigkeit der simultan übersetzten Weltpolitik wird nun zur quälenden theatralischen Langeweile, und die komische Sprachlosigkeit des (allerdings auch sehr statischen) Röggla-Stücks wird bei Marcus Lobbes zu einem schwülstigen Unglück Ibsenscher Dimension."

"Der politische Erkenntnis- und poetische Mehrwert von Rögglas Reality-Theater mag begrenzt sein", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.2.2011). "Aber sie lauscht der politischen Klasse ihr Kauderwelsch, ihre Sprachhülsen und ihre Grammatik des Versagens sehr genau ab und montiert alles zu einer intelligenten, witzigen Farce." Zum Tanzen bringe die rhythmisierten O-Töne freilich erst der Regisseur Markus Lobbes: "Der Spezialist für Sprechopern deutet diese "Konferenz der Toten" als Verfallsprozess. Am Anfang stehen die Übersetzer brav im hell erleuchteten Raum herum; erst langsam entsteht aus Status- und Meinungsunterschieden, Eifersüchteleien und Privatgesprächen Bewegung. Die körperlosen Stimmen gehen sich stellvertretend für ihre Herren an die Wäsche, turnen Sprechblasen wie 'Minimalkonsens', 'Stresstest' oder 'Vorwärtsrolle der Wirtschaft', stoßen sich in exzentrischen Figuren und Sprachschleifen hart im Raum und gleiten hyperventilierend zu Boden."

Volker Oesterreich hingegen zeigt sich in der Rhein-Neckar-Zeitung (8.2.211) derart entgeistert, dass er sich weigert, die Namen der Autorin und des Regisseurs zu nennen. "Die Crux an dem Stück: Es entbehrt jeder Dramatik, selbst dann, wenn die Chinesin gemobbt wird oder sich der Spanier als alter Hase aufplustert. Bei der Lektüre glaubt man zunächst, es könnten sich Chor-Szenen entwickeln, aber dem ist nicht so. Jeder lamentiert für sich allein, bekommt aber trotzdem kein individuelles Profil. Der eigentliche dramatische Widerpart des Dolmetscher-Kollektivs – sprich: die Politiker, Referenten und Konferenz-Experten – bleibt unsichtbar wie Godot." Warum man diese Petitesse nach Mannheim geholt habe, werde nicht klar.

Wieder habe Röggla "bestens recherchiert", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (9.2.2011). Das Ergebnis sei eine "thematisch naturgemäß etwas spröde, aber doch recht interessante, rein aus Sprache bestehende Doku-Fiction". Die sei "ganz geschickt gemacht" und ziele "treffsicher auf den rasenden Stillstand einer Minimalkonsenspolitik, die sich redend immerfort ihrer selbst versichert, und wächst sich mit zunehmender Überreiztheit zu einem schier delirierenden, vage eine Katastrophe imaginierenden Sprechtanz aus". Es wäre nun Sache der Regie gewesen, "diesen bühnenwirksam rotieren zu lassen und in die Farce zu treiben". Bei Lobbes kündeten die 'Unvermeidlichen' aber nur von einem: "von der Langeweile und den Leerläufen eines Politbetriebs, der bei den schlecht gekleideten Titelhelden noch schlechtere Laune und seltsame Anwandlungen von Hospitalismus bewirkt". Lobbes finde "weder den Notenschlüssel noch den Komödien-Rhythmus noch die nötige Schärfe für Rögglas - zugegebenermaßen undramatischen - Text".


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