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Wurf mit Hähnchenkeulen in Richtung Frau

von Sarah Heppekausen

Bochum, 19. Februar 2011. "Es geht immer besser", sagt Karoline am Ende. Einmal, zweimal, dreimal. "Immer besser" wiederholen auch die anderen Bierfestgesellen vor sich hin murmelnd. Und nicht einem von denen, die sie da verlassen und verletzt haben, betrunken und blutend auf der Bühne abhängen, glaubt man diese Worte.

Natürlich nicht. Horváth hat den Figuren seines Volksstücks aus dem Wirtschaftskrisenjahr 1931 eine Sprache aus Gemeinplätzen und Generalisierungen in den Mund gelegt. Da sprechen keine bürgerlichen Individuen, da spricht das kollektive Kleinbürgertum.

Aber zwischen all den Phrasen und Plappereien scheint immer wieder die Verlorenheit des Einzelnen in der Gesellschaftsmasse durch. Und Regisseurin Lisa Nielebock, bekannt für gründliche Arbeit am und mit dem Text, forscht genau nach, wann sich eine Figur der Bedeutung ihrer Worte bewusst ist oder wann sie ihr ausgeliefert hinterher läuft.

Innig sein und schon Lebwohl sagen

Karoline zum Beispiel, die Braut des Kasimir, der gestern seinen Job als Chauffeur verloren hat und sich heute mit ihr auf dem Oktoberfest vergnügen soll. Karoline muss die Liebe abhanden kommen, weil es heißt, dass eine Frau ihren Mann verlässt, wenn der abgebaut ist. Therese Dörrs Karoline schmiegt sich ihrem Kasimir aber noch innig an den Hals, während sie ihm "Lebe wohl" sagt, um ins Kabriolett des besser gestellten Rauch zu steigen. Sie heult Kasimir erst Entschuldigungen entgegen und erzählt gleich danach grinsend von ihrer neuen Bekanntschaft. Dörrs Karoline spielt mit Aussagen wie mit der pinkfarbenen Plastikrose in ihrer Hand. Aber sie ist keine raffinierte Zockerin. Sie wirft sich den Männern an den Hals und landet trotzdem auf dem Boden. Sie scheitert, weil die Worte immer einen Schritt zu schnell sind und längst ihre Bedeutung verloren haben, wenn die Handlung folgt.

Bei Kasimir ist das anders. Auf der schiefen Ebene, die Bühnenbildner Sascha Gross für den sozialen Abstieg ins große Haus gebaut hat, bewegt sich Florian Lange weniger leichtfüßig als all die anderen kuriosen Oktoberfest-Gestalten. In Horváths Rummelplatzballade ist Kasimir derjenige, der ein gewisses Bewusstsein für seine Situation entwickelt. In Lisa Nielebocks Inszenierung ist Kasimir eine deutliche Kontrastfigur.

Emotionen inmitten des Amüsiergeschäfts

Während die anderen sehnsuchtsvoll nach oben zum Zeppelin schauen, blickt der bodenständig geradeaus und in die Gegenwart der Krise. Stehen die anderen schunkelnd an der Rampe, um ihr Volkslied zu singen, sitzt er zusammengesackt dazwischen und bewegt bloß müde die Lippen. Zur finalen Trennungsansprache steigt er auf gestapelte Bierkästen, die schnell unter ihm zusammenstürzen. Dieser Kasimir ist nicht nur verbittert. Bei Florian Lange - in Jeans und Strickjacke - ist er ein Schwergewicht der Emotionen. Der schmeißt mit Hähnchenkeulen nach Frauen und berührt mit traurigen Augen. Seine verzweifelte Einsamkeit ist herzzerreißend.

Um ihn rum läuft das Amüsiergeschäft. Eis, die Maß Bier und Plüschtiere gibt's aus dem Automaten mit entsprechender Begleitmusik. Ein Zelt bietet Platz und Sichtschutz für erotische Vergnügen. Und ihre Achterbahnfahrt vollziehen Karoline und Zuschneider-Zuhälter Schürzinger (im rosa Anzug) kreischend vor einer Windmaschine auf Bierkästen sitzend.

Bitterkeit, fröhliche Lieder, weitere Kontraste

Nielebock genügt die Andeutung der Bühnen- und Budenzaubermaschinerie. Ausstaffiert mit präzise ausgearbeiteten Nebenrollen - wie etwa dem schmierigen Speer (Marco Massafra), der Gainsbourgs und Birkins "Je t'aime" verbal seziert und sich zur oralen Befriedigung mit Pralinen vollstopft, oder dem Merkel Franz (Michael Schütz), der Worte aus sich herausraunzt als hätte er sich und die Welt längst über, - das ist die Plattform für die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Kasimir und Karoline.

Darauf will sich der knapp zweistündige Abend konzentrieren und überfrachtet das durchaus heutige Dilemma von sozialer Unsicherheit und wahrer Liebe doch gelegentlich mit entzifferten Zweideutigkeiten und allzu großen Bildern.

Dabei ist das gar nicht nötig. Die Regisseurin setzt ausreichend Kontraste, um die Tragikomik des Horváthschen Wirtschaftskrisenstücks zu inszenieren. Lars Kuklinski spielt in Personalunion das Orchester, begleitet Gesang und ausgewählte Szenen mit Trompete und Klavier. Kasimirs ernste Bitterkeit wird also gebrochen von fröhlichen Liedern, eigenartigen Festbesuchern, von Hasenkostüm und Affenmaske (obwohl als eigentliche Protagonisten des Abnormitätenkabinetts hier Kasimir und Karoline genötigt auftreten). Nielebock lotet in Horváths kollektiver Phrasensprache die verdeckten individuellen Tieflagen aus. Das ist die Stärke dieses Abends, auch wenn sie die Gefahr der eindeutigen Zuschreibung mit sich bringt.


Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Lisa Nielebock, Bühne und Kostüme: Sascha Gross, Musik: Lars Kuklinski, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Florian Lange, Therese Dörr, Matthias Redlhammer, Michael Schütz, Veronika Nickl, Heiner Stadelmann, Marco Massafra, Barbara Hirt, Agnes Riegl, Lars Kuklinski.

www.schauspielhausbochum.de

 

Mehr zu Lisa Nielebock: wir besprachen ihre Inszenierung von Der elfte Gesang, die im Februar 2010 im Rahmen von Odyssee Europa stattfand. Roberto Zucco im Oktober 2008 und Macbeth im Juni 2008 jeweils in Bochum.

 

Kritikenrunschau

"So reizvoll, so federleicht und fast wie naturgegeben rutschte wohl selten ein Mädchen dem bitteren Finale entgegen wie Therese Dörr in der weiblichen Hauptrolle", schreibt Bettina Jäger auf Ruhrnachrichten.de (21.2.2011). Lisa Nielebock habe den Horváth-Klassiker "nach seiner Modernität gefragt", ihr Ausstatter Sascha Gross setze "auf den Charme des Unfertigen". "Das Ereignis des Abends" aber sei Therese Dörr, sie gebe "ein modernes Girlie in Lederstiefeln, macht Karoline ganz durchsichtig, zeigt ihre Sehnsucht nach Liebe und ihren fatalen Hang zur Berechnung. Im Sekundentakt huschen die widerstreitenden Gefühle über das Gesicht dieser tollen jungen Schauspielerin." Neben ihr sähe Florian Lange als Kasimir "leider blass aus". Wenig auch überzeugt die Kritikerin der Versuch, "den Kommerzienrat Rauch (Heiner Stadelmann) mal ganz menschlich zu präsentieren" - nehme man "dieser Karikatur eines Bierfest-Bayern das Fiese, zieht man dem Ende den Giftzahn". So sei die Interpretation der Figuren "unterschiedlich gelungen", und die zweite Hälfte ziehe sich "etwas lang hin".

 

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