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Aus dem Nähkästchen weiblicher Subjektkonstruktion

von Elena Philipp

Berlin, 19. Februar 2011. Inmitten eines riesig aufgebauschten, rot-schwarzen Tüllbergs von einem Kleid sinkt Emma (Julischka Eichel) auf den Bühnenboden. "Da bleibt jetzt nichts von Wert nix was man retten müsste an dieser Person", spricht die gescheiterte Glückssüchtige. Sie hat vergeblich alle möglichen Rollen und Gefühlsregungen anprobiert, die einer Bürgersfrau Mitte des 19. Jahrhunderts zur Verfügung stehen – Ehefrau, Mutter, Geliebte, keusche Gläubige und hemmungslose Hure –, und für sich keine passende Haltung gefunden. Schulden hat sie gemacht, sich vor ihren Liebhabern gedemütigt, ganz unten ist sie angekommen. Selbstmord sieht sie als letzten Ausweg. Mit dem Skalpell ihres Arztgatten schneidet sie sich zu Tode, und das gibt "eine riesige Schweinerei", wie Julischka Eichel mit schwankendem Blick und fester Stimme über ihre Figur erzählt, der man drei Stunden lang zusehen konnte, wie sie sich konsequent ruinierte.

Aus feministischer Perspektive

Autorin Tine Rahel Völcker und Regisseurin Nora Schlocker folgen in ihrer Inszenierung der Eskalations-Dramaturgie von Gustave Flauberts Romanklassiker "Madame Bovary". Flaubert ließ seine Protagonistin zum Schluss qualvoll langsam an Arsen eingehen, doch das erschien dem inszenierenden Frauenteam ein Tod "auf weibische Art". Bei ihnen zerstört Emma mit dem Messer ihre Schönheit, und das interpretieren Völcker und Schlocker als einen Akt der Freiheit. Sie lesen "Madame Bovary" aus feministischer Perspektive und finden im Roman laut Programmheft die heute noch gültigen, sexistischen Geschlechterbilder, die einer Frau für die Gestaltung der eigenen Identität zur Verfügung stehen.

Emma kann tanzen, Klavier spielen, sticken, zeichnen, nähen, und mithin alles, was es braucht, "um einen Mann von Stellung zu kriegen". Der blass stammelnde Landarzt Charles Bovary (Alexander Fehling) hat sich haltlos in Emma verliebt, und hoffnungsfroh tritt sie in weißem Kleid und Schleier zur Eheschließung an. Wie die Trophäe ihres Mannes steht Julischka Eichel zwischen den zentralperspektivisch auf sie zulaufenden Wänden, am obersten Punkt der abschüssigen Bühnenschräge. Das Licht malt romantisch sehnsuchtsferne Bläue. Kurz nur verharrt sie als starres Bild, dann stürzt sich Emma in ihr neues Leben. Feiern sollen die Gäste! "Wie sich die Leute auf deine Kosten besaufen, Charles", mahnt Mutter Bovary (Sabine Waibel), die Gegenspielerin der lebensgierigen jungen Frau. Pikiert mustert sie ihre Nachfolgerin. Die steht aber schon an der Rampe und verkündet das nächste Gelüst: "Ich will auf der Stelle sterben in diesem Licht unter der Berührung des Mannes dort am Buffet."

Reigen der Verlogenen

Nuanciert spielt Julischka Eichel die maßlosen Gefühlsumschwünge ihrer Protagonistin, ist mal die liebend-anhängliche Mustergattin, die ihrem Charles den Arm streichelt, dann die unkomplizierte Arztfrau, die im Kreis der Dorfbürger mit ihrem künftigen Geliebten Leon (Albrecht Abraham Schuch) Smalltalk betreibt. Sie kann aber auch übergangslos einen giftigen Streit vom Zaun brechen, wenn Charles auf fehlende Finanzmittel hinweist, und ist wieder eine schale Hoffnung enttäuscht, treten ihr Tränen in die Augen. Gegen Ende ist sie die schamlose Kokotte, die sich ihrem Geliebten hechelnd auf allen Vieren andient wie eine läufige Hündin. Ihre Haltungswechsel wirken recht bald vorhersehbar, aber das liegt nicht an Eichels Spiel, sondern an der Dramatisierung des Romanstoffs.

Über drei Stunden trägt Julischka Eichel die Inszenierung beinahe allein, denn bis auf Sabine Waibel in der vortrefflich durchgeführten Doppelrolle der alten Bovary und der Luxus-Krämerin Lheureuse, die Emma in die Schuldenfalle lockt, ist die Personnage recht simpel gestrickt. Charles starrt teigig in die Ferne, knetet seine Hände und presst sich seine Sätze ab, der erfolgreiche Apotheker Homais (Wilhelm Eilers) ist ein veritabler Bramarbas und Spießbürger, und Rodolphe, Emmas erster Geliebter, ist bei Ronald Kukulies ein aasig-arroganter Verführer, dessen unverfrorene Offenheit in diesem Reigen verlogener, illusionstrunkener Bürger geradezu erfrischend wirkt: "Vielleicht fehlt dir zum Glücklichsein nicht ein besser Ehemann sondern ein eigener Verstand", gibt er Emma mit.

Flauberts elegante Ironie und seine ätzende Satire sind in diesem sentimentalen Stationendrama einem aufklärerisch-politischen Gestus gewichen: Kritisiert werden soll die Stereotypisierung der Frau zwischen Heiliger und Hure, und angeprangert wird die "Selbstregulierung", mittels derer sich Frauen den männlich geprägten Rollenbildern ergeben. Die Geschlechtsumwandlung von Monsieur Lheureux zur ausgebufften Unternehmerin Lheureuse ist clever, ermöglicht sie doch eine neue Perspektive auf den Gender Trouble.

Frauenbild von gestern

Die intendierte Kritik verpufft jedoch, weil sich die Inszenierung mit der Vorlage auch deren zeitgenössisches Frauenbild einkauft. Sticken, Zeichnen, Nähen – das gehört nicht mehr zur Ausbildung einer Frau. Auch die totale finanzielle Abhängigkeit ist nicht mehr das vordringliche Thema im Ringen um Gleichberechtigung. Debattiert wird über die Frauenquote in Führungspositionen oder die eklatanten Lohnunterschiede. So bleibt vom Abend Ermüdung. Dem Ende mit Emma im Tüllberg folgt das Ende mit dem wahnsinnigen Charles in der Emma-Rolle und im blutroten Kleid.

Und dann gibt es noch das Ende, bei dem Baumwolle aus dem Schnürboden regnet und Julischka Eichel im blauen Putzkittel als Emmas Tochter Berthe auftritt: "Mama schnitt sich auf Papa wurde verrückt und ich erzeuge Garn."

Ein Königreich für eine Schere.

 

Madame Bovary
von Gustave Flaubert
Für die Bühne bearbeitet von Tine Rahel Völcker
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Marie Roth, Musik: Paul Lemp, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Joris Camlin, Julischka Eichel, Wilhelm Eilers, Alexander Fehling, Ronald Kukulies, Albrecht Abraham Schuch, Sabine Waibel sowie Josephien Barner /Helena von Mechow als Berthe.

www.gorki.de

 

Mehr zu Nora Schlocker gibt es im nachtkritik-Archiv.

 

Kritikenrundschau

Tine Rahel Völcker folge Flauberts Figurenerklärungen kaum, so Hartmut Krug vom Deutschlandfunk (Kultur heute, 20.2.2011), sie überschreibe den Roman "mit den Fragen eines modernen Feminismus nach gesellschaftlichen Frauenidentitäten und -rollen". Das Bühnengeschehen wirke dabei "so aufgesetzt wie abstrakt" und die Figuren bei Völcker "entweder wie Thesen oder sind schematisch gezeichnet". Wie sich die Hauptdarstellerin "verzweifelt durch alle Frauenrollen probt und in keiner Verwirklichung findet", wirke "trotz der wundervoll nuancenreichen Julischka Eichel doch arg gestrig". Nora Schlockers "durchaus elegante Inszenierung" sei "Gedanken- und Gefühlstheater", das statt Flauberts "Ironie und Satire" auf eine "kritisch heutig ausgestellte Überdeutlichkeit von Figuren" setze. Alexander Fehling verharre "völlig in der von Flaubert beschriebenen Gutmütigkeit und Geduld, die eintönig wirkt" und werde zur "unangemessen positiven Figur". Emmas Geliebte seien "nur als Wunschprojektionen ernst zu nehmen". Trotz Sabine Waibels schauspielerischer Brillanz leuchtet Krug auch die "Frauwerdung des Wucherers (...) weder inhaltlich noch dramaturgisch ein". Schlocker, Eichel und Waibel gelinge es immerhin, "dieser arg schematisch aktualisierten Bühnenversion (...) etliche sinnliche Spielmomente abzutrotzen".

Zwar leisteten Autorin wie Regisseurin "solide Arbeit", findet der Tagesspiegel (21.2.2011), aber der "Ökonomisierungszwang" dampfe "Flauberts 450 Seiten auf eine dreieinhalbstündige Dialogmasse" ein und opfere "jede Atmosphäre, jeden begnadet verschwenderischen Mehrwert der profanen Bühnenfunktionalität". Hinzu komme eine "grundredliche Minimalaktualisierung, die den Anschluss an die tagesaktuelle Feuilleton-Debatte sucht und in den Weiblichkeitsvorstellungen der CDU/CSU ihr größtes Feindbild findet". Mit dieser "emanzipationsbewegten Lesart" bürdeten Völcker und Schlocker Emma Bovary jedoch "einen schwierigen Job auf: Sie ist die Einzige, für die der Abend so etwas wie Mehrdimensionalität vorsieht. In durchaus kritischer Absicht spielt Julischka Eichel zeitlose Weiblichkeits-Stereotypen durch (...). Wen wundert es da, dass sich Eichel (...) zusehends in Posen rettet!" Schließlich stehe sie ziemlich allein da, die Männer seien alles "eindimensionale hinterhältige Fieslinge, Grobmotoriker oder Würstchen, die der hochkomplexen Emma nicht das Wasser reichen können". Am härtesten treffe es Fehling, der "mit der schlichten Weichei-Rolle, die die Regie für ihn vorsieht, verständlicherweise seine Schwierigkeiten" habe.

Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (21.2.2011) hält Völckers Bearbeitung für eine "klare, straffe Fassung", die notgedrungen viel weglässt und Entscheidendes hinzufügt: Emmas Niedergang werde hier "nicht in den Koordinaten moralische Schuld und finanzielle Schulden verhandelt" und verliere dabei auch "jeden Verdacht der Schicksalhaftigkeit. Frau Bovary ist ein Mensch, der nicht weiß, in welche Rolle er gehört und darum verschiedene Schubladen als Selbstversteck probiert." Dieses "Rollenhopping" spiele Eichel als "Drama der Blicke". Ihre Bovary leide "an Seelennervosität" und sei "unser aller Schwester, ein gehetztes Subjekt, das sich im Überangebot der Rollen- und Ich-Vorlagen für keine zu entscheiden weiß". Soziologisch, philosophisch, mentalitäts- und rezeptionsgeschichtlich gäbe diese Flaubert-Fassung "reichlich zu denken"; dramaturgisch enthalte sie manche Hürde. So probiere sie sich im ersten Teil "als stolperiges Stationendrama", indem Figuren und Szenen wie konturlose Stichwortgeber auftreten. Da gibt es nur "einzelne, prägnante Momente in einer Szenenstoppelei, die kaum zu einer Spannungs-, Handlungs- oder Bildlinie findet". Wenn sich jedoch der Abend im zweiten Teil "von der Vorlage weiter entfernt und zum eigenen Rhythmus findet", wenn "alle in einen Existenzstrudel gerissen werden, wenn das Szenen-Tanderadei sich zu einem Gesellschaftsbild verdichtet, ist diese Inszenierung endlich dort, wo sie hinwill: ganz bei Flaubert, ganz in der Gegenwart".

Die "vielversprechende Regisseurin Nora Schlocker" zeige "drastisch, wie Emmas sprachlicher Absturz einherging mit ihrem sozialen und mentalen Zusammenbrechen", so Reinhard Wengierek in seiner Welt-Kurzkritik (21.2.2011). Eichel spiele "ruppig mit Restsüße", während Schlocker "die tolle Sucht nach vollkommener Lebenserfüllung als Diskurs über Sinnsuche, Chancen und Grenzen emanzipatorischer Lebensentwürfe" inszeniere. Völckers "gekonnte Kompakt-Adaption" passe zu diesem "demonstrativem Zugriff, dem viele packende Sinnbilder gelingen (...). Wäre da nicht Schlockers unnötiger Ehrgeiz, sauber Pointiertes noch idiotensicher aufzudonnern, theatralisch zu verschnörkeln und so das Ganze etwas oberlehrerhaft breit zu treten."

Federn müsse die auf "das Leben einer Stubenfliege" reduzierte Emma Bovary nicht nur an ihren kostbaren Hüten lassen, schreibt Irene Bazinger (FAZ, 22.2.2011): "Es spiegeln sich in ihr überdies Rollenbilder wie Ibsens und Jelineks Nora oder Wedekinds Lulu und Klischees aus der aktuellen Konsum- und Modewelt." Julischka Eichel zeige sie "als eine tagtraumhaft wache, leichtfüßige Grenzgängerin zwischen Aufbegehren und Gemütlichkeit, Offenheit und Gehorsam." In der "schnörkellos durchgehaltenen, knapp dreistündigen Inszenierung" werde Aufstieg und Fall der Familie Bovary "wie in einem Reagenzglas zu einem Experiment über die Verlaufsformen der Liebe im Spannungsfeld von Ökonomie und Politik". Und ohne sie "als bekanntes Opfer noch als verkannte Heldin darzustellen, gehen Tine Rahel Völcker und Nora Schlocker genau, geduldig und mutig dem Lebensweg Madame Bovarys nach". Eine "bemerkenswerten Aufführung".

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