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Im Herzen haust das Pathos

von Dirk Pilz

Weimar, 24. Februar 2011. Die Nachrichten an das All werden in ein eckiges Silberrohr hineingerufen. Die Discokugel dreht sich, aus dem Rohr strahlt warmes Licht. Dazu wird wimmernde Musik gegeben. Die Nachrichten lauten "Mama", "Bums" und "Unterhaltung". Es sind dies Auskünfte an das All, "damit man dort erfährt, was uns Menschen bewegt". "Mama" ist die Botschaft des Forschers Constantine Samuel Rafinesque, ein vielseitiger Mann des 19. Jahrhunderts, den es wirklich gegeben hat. "Bums" hat Ronald Pofalla mitzuteilen, ein Politiker, der tatsächlich existiert. Und "Unterhaltung" ist das, was der "Leiter des Fortgangs" (LdF) zu hinterlassen hat.

Gedankengehemmt ohne Regenüberwurf

Der LdF ist eine Figur, die in Szene III "mit einem roten Regenüberwurf begleitet" auftritt. Die Szene heißt "Eine Astronomie des Entsetzens". Dankenswerterweise verzichtet dieser Siebzigminutenabend darauf, den LdF (Xenia Noetzelmann) in einem roten Regenüberwurf auftreten zu lassen; er ist hier eine schlanke Dame mit Schnauzbart im blauen Kostüm. In die Realismusfalle tappt der Abend jedenfalls nicht. Dem Theatergott sei Dank. Rechts fläzt auf einem Hochhocker die Conférencieuse (Ulrike Knobloch), sie verkündet die Regieanweisungen, die von den Schauspielern nicht ausgeführt werden.

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© Stephan Walzl/ www.stephanwalzl.de

Dennoch ist dieser Abend keine Uraufführung, allenfalls eine Urlesung.

"Einige Nachrichten an das All" ist ein Stück Theater, das sich gegen ein Theater stemmt, das seine Aufgabe in der Umsetzung von Stücken sieht. Man kann dieses Drama nicht einfachhin auf die Bühne bringen, weil die Bühne mit ihm genötigt wird, gleichsam sich selbst neu zu erfinden. Das hat in Weimar nicht stattgefunden. Zu erleben waren Schauspieler, die brav und bieder Texte aufgesagt, Situationen, Figuren, Zustände angedeutet haben. Man sah, wie das Stückumseetzungstheater baden ging. Man sah also kleinmütiges, engherziges, fantasieloses, gedankengehemmtes Textverwursten.

Vermisste Dimensionen vier bis sechs

Die Regie, Annette Pullen, hat offenbar der Vorlage nicht getraut. Um gut die Hälfte wurde der Text zusammengestrichen, irritierenderweise mit Einwilligung des Autors, wie zu hören war. Gekürzt wurde beinahe alles, was dem Stück von Wolfram Lotz seine vierte, fünfte oder sechste Dimension verleiht. Die Fußnoten etwa: allesamt weg, komplett verguttenbergt.

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© Stephan Walzl/www.stephanwalzl.de

Viel geht damit verloren. "Das Laub wirbelt über die vergebliche Straße" ist, zum Beispiel, die Fußnote zu dem Satz "Sie wissen, Sie sind hier, um Ihr Anliegen vorzubringen!" Ohne Fußnote ist das ein banaler, blöder, langweiliger Satz. Und anders als bei Lotz wird mehrfach wiederholt: "Nur keine Leere aufkommen lassen!". Auch langweilig, weil aufdringlich zeitgeistkritisch und damit genau das, was Lotz' Stück nicht sein will: blöde, langweilige Zeitgeistkritik.

Ob sich Fußnoten im Theater überhaupt spielen lassen, ist eine ungeklärte Frage. Wahrscheinlich nur, wenn man formal, räumlich und schauspielerisch experimentiert. Ein Theater jenseits der Stückumsetzerei verhindert jedoch schon die Enge des Foyer III am Nationaltheater zu Weimar. Alles wirkt geduckt, eng, eingekästelt. Eine inszenatorische, also bildnerische, gedanken- und gefühlserweiternde Struktur hat der Abend sowieso nur im Behauptungsmodus. Und das Publikum sitzt auf Sesseln, Sofas, verschiedenen Stühlen – als ginge es nur um Scherz, Satire und Ironie.

Verwandter von Jarry und Borges

Wolfram Lotz ist ein 1981 geborener, mit dem diesjährigen Kleist-Förderpreis beehrter Lyriker, Erzähler und Dramatiker, der in ferner Verwandtschaft zu Alfred Jarry und Jorge Luis Borges steht. Er liebt es, sich an den Rändern der Logik zu tummeln, jenseits des Wirklichkeitssinns, diesseits des bloß Spinnerten. "Der große Marsch", sein erstes, noch nicht aufgeführtes Stück, mit dem er letztes Jahr zum Stückemarkt des Theatertreffens geladen wurde, wo es den Publikums- und Werkauftragspreis gewann, ist auch schon so. Aus diesem Auftrag ist "Einige Nachrichten an das All" entstanden, und Pullen durfte die erste Lotz-Uraufführung der Theatergeschichte bewerkstelligen.

Man weiß viel von diesem Stück, wenn man das Motto kennt. Es lautet: "Wir befinden uns in einer Explosion, ihr Ficker." Am letzten Wort braucht man sich nicht zu stören, entscheidend ist der Präsens: Lotz schreibt Sätze, Szenen und Verse, die aus dem Inneren einer Explosion kommen. Es ist eine Explosion der Wirklichkeit in Fiktion. Immer wenn man glaubt, etwas in den sieben Szenen verstanden zu haben, schlägt der Text eine unvermutete Sinn- und Richtungsänderung ein. Die Effekte sind so komisch wie todtraurig.

Der Tod ist überhaupt Lotz' Dauerthema. Der Tod, das Vergehen, das Sein. Im Grunde ist er Philosoph. Und wie alle ernstzunehmenden Philosophen ist er größenwahnsinnig: Er will die Welt als Ganzes erfassen. Im Herzen dieses Stückes haust also das Pathos, kein verbrämtes, hochtönendes Pathos, sondern das Pathos jener Größenwahnsinnigen, die gegen den Lauf der Welt anrennen.

Damit weiß diese Inszenierung nichts anzufangen. Sie denkt handwerkerisch, in Szenen und psychologisierten Figuren, wo Lotz es mit Daseins- und Weltumstülpungsdimensionen zu schaffen hat. Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist heißt eine seiner prismatischen Figuren. Sie sitzt bei Simon Zagermann als Trauertropf auf einem Plastikstuhl. Herrje.

P.S.: Vor der Uraufführung ist es im Intendantenzimmer von Stephan Märki zu einer interessanten Lesung gekommen. Wolfram Lotz trug einige seiner "kleinen Erzählungen" vor. Es sind Kostbarkeiten einer Ein- oder Zweiwortprosa. Eine trägt den Titel "Wissenschaften". Hier ihre ungekürzte Fassung: "Die Indianer probierten, ob die Spanier unsterblich sind, indem sie einen von ihnen im Meer ersäuften."

Im kurzen Gespräch mit Märki und den Zuhörern stotterte Lotz übrigens. Er stotterte aber nicht, wenn er seine Texte vorlas. Bei Einar Schleef war das einst auch so.

 

Einige Nachrichten an das All (UA)
von Wolfram Lotz
Regie: Annette Pullen, Bühne und Kostüme: Iris Kraft, Dramaturgie: Hans-Peter Frings, Elisa Liepsch.
Mit: Ulrike Knobloch, Elke Wieditz, Martin Andreas Greif, Markus Fennert, Simon Zagermann, Xenia Noetzelmann.

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

"Ein tragikomisch absurder Leckerbissen, ein Einstundendrama über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens und den Zweifel an allem," schreibt Frauke Adrians in der Thüringer Allgemeinen (26. Februar 2011). Annette Pullens gestraffte Spielfassung überzeugt die Kritikerin ebenso wie das Spiel der sechs Akteure. Lotz' Nachrichten an das All hätten wir alle schon vernommen, so Frauke Adrians, und zwar in der Medienkritik, auf dem Theater, in Büchern der Philosophen. "Aber so unterhaltsam wie in dieser Inszenierung klingen sie selten."

Weniger überzeugt klingt Hartmut Krug im der Sendung Kultur Heute beim Deutschlandfunk (25.2.2011), und zwar weder vom Stück selbst als auch von Annette Pullens "mächtig durchhängender" Inszenierung. Der Jungdramatiker habe zwar viel gelesen, entwickele aber kaum einen eigenen Ton. Während das Stück das Zusammenhanglose aller Erscheinung thematisiere, versuche die Regisseurin, dem Text als Medienparodie einen zeitkritischen Sinn zu geben. Doch auf der Bühne erkennt der Kritiker keine Figuren, sondern lediglich Textdemonstationen.

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