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Gott ist nicht bloß fern, Gott ist gestrichen

von Petra Hallmayer

München, 25. Februar 2011. Was von dem letzten Toten übrig blieb, passt in einen Müllsack. In blauen Kittelschürzen räumen Mama und ihre Tochter Martha auf und beziehen das Bett für den nächsten Besucher. Ein Triptychon aus sterilen Allerweltshotelzimmern dient im Cuvilliés-Theater als Schauplatz für das verbrecherische Treiben der Beiden, die ihre Pensionsgäste umbringen und ausrauben, um sich anderswo eine bessere, sonnigere Zukunft zu erkaufen.

Hier mietet sich Jan unter falschem Namen ein, der nach Jahren in der Fremde heimkehrt, entschlossen, sich endlich um seine Mutter zu kümmern. Die aber schaut lieber nicht genauer hin, wem sie den Zimmerschlüssel reicht. "Was man nicht kennt", erklärt sie, "kann man leichter töten." Da er sich nicht zu erkennen gibt und nicht erkannt wird, fällt der verlorene Sohn dem Killerinnen-Duo zum Opfer.

Plot von antiker Wucht

Die finster absurde Geschichte taucht bei Albert Camus bereits als Zeitungsbericht in seinem Roman "Der Fremde" auf. In dem 1944 in Paris uraufgeführten Stück "Das Missverständnis" nutzte er sie als Plot für den Versuch, eine Tragödie von antiker Wucht in "eine zeitgenössische Fabel zu kleiden". Wirklich geglückt ist ihm dies nicht, und ob sich der an schwer bedeutungsbeladenen Sätzen reiche Text im modernen pathosscheuen Theater noch beheimaten lässt, daran kann man zweifeln.

Doch wer sich vorab gespannt fragte, was den Regisseur Jan Philipp Gloger bewogen hat, das schwierige Stück auf die Bühne zu bringen, der ist am Ende des Aufführung leider auch nicht schlauer. Warum sich die Frauen so verzweifelt nach einem anderen Leben sehnen, dass sie bereit sind, dafür zu morden, muss man sich schon selbst zusammenreimen. Camus` radikale Sinn- und Trostverweigerung blitzt kaum einmal auf. Dass Gott bei ihm unendlich fern und völlig taub ist für das himmelschreiende Elend hienieden, darauf lässt sich Gloger erst gar nicht ein. Gott und die symbolisch aufgeladene Figur des alten Knechtes, der böse Schicksal spielt und das letzte Wort hat, sind in seiner Inszenierung gestrichen. Das ist heute durchaus verständlich, nur gelingt es ihm nicht, die Kernthemen des Dramas auf neue Weise substanziell zu verhandeln.

Stattdessen reiht er biedere Hotelzimmer-Szenen aneinander und bricht den faden Fernsehrealismus zwischendrein mit abrupten Gefühlseruptionen und den obligatorischen Spielereien des Gegenwartstheaters auf. Allein wenn Martha Jan anspringt und gierig umklammert oder im Dialog mit ihrer Mutter ihren nie geliebten Körper bis auf die Unterwäsche entblößt, dann wirkt das bloß hilflos plump.

Zum Jungen ins Bett gekrochen

Einmal immerhin wagt Jan Philipp Gloger mehr und entwirft eine surreale Albtraumvision des zwischen Kindheitsheimweh und Fluchtimpulsen schwankenden Sohnes. Für einige Augenblicke sieht es aus, als würde die Inszenierung noch eine andere aufregendere Wendung nehmen. Tatsächlich allerdings schlittert sie in eine banale Psychologisierung, in der Jan zum Spielball weiblicher Besitzansprüche wird, seine Ehefrau Maria, seine Mutter und seine Schwester gleichzeitig an ihm zerren, ehe die siegreiche Mama sich auszieht und zu ihrem Jungen ins Bett kriecht. Sicher steckt in "Das Missverständnis" auch ein ganz klassisches Familien- und Geschlechterdrama, nur so schlicht und plakativ sollte man es denn doch nicht vorführen.

Die Schauspieler sind gegen das schwache Regiekonzept letztlich chancenlos. Felix Klare zeigt Jan als einen tastend nach Nähe suchenden, verunsicherten jungen Mann. Ulrike Arnold als von Skrupeln befallene, hochnervös aufbrausende Mutter und Katharina Hauter als durch ungestillten Glückshunger verhärtete Martha balancieren immer wieder am Rande der Hysterie. Einen überzeugenden Ton für Camus` Text finden sie dabei nicht, den sie abwechselnd ängstlich emotionslos kleinreden und herausschreien. Auch die Schlussszenen, in denen die Mutter sich endgültig von Martha abwendet und diese sich unbarmherzig zur Grausamkeit bekennt in einer unbarmherzig grausamen Welt, verplätschern schließlich wie der ganze Abend.

 

Das Missverständnis
von Albert Camus
Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
lRegie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Franziska Bornkamm, Kostüme: Karin Judd, Musik: Kostia Rapoport.
Mit: Ulrike Arnold, Katharina Hauter, Anne Schäfer, Felix Klare.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de

 

Albert Camus wird gar nicht selten auf deutschsprachigen Bühnen gespielt: Die Pest im Januar 2011 in Frankfurt am Main, Die Gerechten im März 2009 im Zürcher Schauspielhaus, Der Fremde im Dezember 2008 in Frankfurt am Main und Caligula im Deutschen Theater Berlin im September 2008.

 

Kritikenrundschau

Teresa Grenzman wirft in der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (27.12.2011) Jan Philipp Gloger vor, in seiner Inszenierung von Albert Camus' finsterem, wortkühlem dramatischem "Modell über die Angst vor der Sprache, die Last der Existenz, die Fremdheit der Heimat, die vergebliche Suche nach Frieden und Entspannung" dem Zuschauer den gedanklichen Spielraum zu versperren. Wirklich aufmerksam werden lässt der Abend sie nur dort, "wo Gloger im monochromen Pensionszimmer-Puppenhaus von Bühnenbildnerin Franziska Bornkamm Bäumchentapetenmomente fabriziert; wo er allen albtraumhaften Mörtel weglässt und alltägliche Abgründe öffnet; wo er die Inszenierung in eine Komödie des absurden Lebens rutschen lässt und wo er sich traut, dem Drama der schwerlastigen Worte ein leichtgängiges Spiel ohne Worte zu entlocken."

In den "sehr langen eineinhalb Stunden" der Aufführung bleibe "Camus' elaborierte Rhetorik hart auf dem Bühnenboden kleben. Das ist kaum mehr Theater, das ist ein theoretischer Exkurs vor Publikum", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (28.2.2011). Die Camus'sche Sprache würfen "die Darsteller unwirsch von sich, als wollten sie jedes einzelne Wort schnell loswerden. Bei der Mutter, Ulrika Arnold, hat dieser Vorgang noch etwas rührend Schmerzliches, bei Katharina Hauter, der Tochter Martha, ist es ein grausig schlingernder Zustand zwischen Spiel und Behauptung." Der Regisseur Jan Philipp Gloger habe "in den vergangenen Jahren beharrlich am Bayerischen Staatsschauspiel im Schatten von Dieter Dorns Riesenstaatstheater immer wieder versucht, eine umfassende Theaterbehauptung aufzubrechen. In Gießen hat er studiert, er hat wiederholt viel Humor, auch Sinnlichkeit bewiesen. Nichts von dem ist an diesem staubtrockenen Abend spürbar."

Glogers Inszenierung setze Camus' Versuchsanordnung "mit geradezu wissenschaftlicher Strenge um", meint Michael Schleicher im Münchner Merkur (28.2.2011). Gloger inszeniere "wie auf einem Seziertisch. Seine Szenen sind von bestechender Klarheit - aber eben deshalb auch etwas steril. Gloger hätte sich mehr trauen dürfen. Dass er das kann, zeigt er in der Schilderung des Albtraums, der Jan plagt, der ihn in die Kindheit katapultiert und als Zankobjekt zwischen Mutter und Ehefrau zeigt." Mit seinen vier Darstellern habe Gloger immerhin "die ideale Besetzung für sein Kommunikations-Experiment", und schließlich zeige sich, dass es die "kleinen Ausbrüche des Menschlichen" seien, "die diese Versuchsanordnung spannend machen".

Camus' Stück sei "ein kopflastiger Diskurs über Heimat, Fremdheit und Familie", schreibt Gabriella Lorenz in der Münchner Abendzeitung (28.2.2011), und Jan Philipp Gloger inszeniere es als "ein brav herunterbuchstabiertes existenzialistisches Thesen-Drama". Dasjenige, "was daran unheimlich sein könnte", habe "auf Franziska Bornkamms langweiliger Bühne keinen Raum: Ein Triptychon dreier identischer Hotelzimmer, schick und steril. (…) In diesen Räumen wirkt alles banal. Und Glogers Regie befreit die Schauspieler nur selten aus dem blassen psychologischen Realismus." Frau Lorenz schildert dann immerhin noch zwei Szenen, die "ins Absurde und Existenzielle" wiesen: "Zwei schöne Momente eines Abends, der ansonsten langatmig und konventionell wenig Sonne ins Herz bringt."

Für Camus' Theater, schreibt Astrid Kaminski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.3.2011), sei "der Gottestod eine unabdingbare theoretische Voraussetzung". Erlösung sei für Camus "nur im eigenen moralischen Handeln möglich, nicht im Jenseits". Bei Gloger, der Gottes Stellvertreter im Stück, den Knecht, gestrichen hat, "versucht die verzweifelte Maria ihren toten Mann auf dem Mobiltelefon anzurufen". Dieses "Gotteshandy", die "zeitgenössische Anrufung des Erlösungsdenkens", hätte ein wirkungsvoller Regie-Griff sein können, schreibt Kaminski. Doch an einem Abend, dem sonst "jeglicher bemerkenswerter Einfall" fehle, wirke das bloß wie ein "Zufallsprodukt". Mit ein "paar Abstechern ins Hysterische" werde in "realistisch-psychologischer Spielweise abgekupfert", was die Handlungsebene so hergebe. "Fürs Dehnen der reibungslosen Kurztragödie" werde mit "sexuellen Sublimations- und Unterdrückungsphantasien hantiert". Doch bleibe die "psychoanalytische Entdeckerlust" des Regisseurs halbherzig.

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