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Der Mensch, das sich selbst re-programmierende Wesen

von Andreas Klaeui

Basel, 25. Februar 2011. Ich ist ein anderer. Nämlich jener Bioautomat, der immer schon den Bruchteil einer Sekunde vor Ihnen da ist. Es ist unausweichlich, und wie beim Hasen und dem Igel. "Ich heiße Malte und ich bin eine strukturdeterminierte Maschine." Im leichten Joggingschritt traben Malte Scholz, Beatrice Fleischlin und Jesse Inman über die Bühne, Diagonalen im lockeren Laufschritt, und die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Bewegung, frohes Wedeln, primatenhaftes Durchhängen, gestreckter Galopp – was wollen sie uns sagen? Zeigen sie Evolutionsstufen? Emotionen? Gar einen Alterungsprozess? Oder sind es frei gebündelte Stränge und Synapsen? Eine Recherche über das Gehirn und über Kommunikationsprozesse verspricht Beatrice Fleischlin mit so gewinnendem wie verdächtigem Lächeln. "Was befindet sich hinter meinem Gesicht?"

Die drei Schauspieler stellen sich frontal vors Publikum und geben sich gegenseitig das Stichwort: Erzähl doch mal was Persönliches. Dass sie hier eigentlich nur mitmachte, weil sie sich ein tolles Kostüm erhoffte, einen roten Teppich, ein Birkenwäldchen im Nebel und eine Sterbeszene zum Beispiel. Dass sie Floristin war und – "das sage ich zum ersten Mal öffentlich" – die heißeste Braut im Dorf. Handkehrum, dass die Person, die wir sehen, freilch eine Projektion ist – 120 Mal vervielfacht in den Zuschauerköpfen, jeder macht sich seine eigene in seinem Hirn, "und nachher gehen Sie nach Hause und nehmen mich mit!"

Plädoyer für die blinden Flecken

Und dann der Satz bei Tante Heidemarie auf dem Klo: Ich kann, weil ich will, was ich muss; wir versuchen zu folgen und sind schon mitten in der schönsten neuronalen Verwirrung. Suchen vergeblich Halt in diesem paradoxalen Prozessfeld zwischen freiem Willen und chemophysikalischer Determination. Die Wahrnehmungen sind fragil, leicht lassen sie sich manipulieren, schnell verschieben sich Zuschreibungen und Deutungen. "Was findet hier drin statt", unter der Schädeldecke? Das fragt auf die vergnüglichste Weise nach sich selbst, und das Theater stellt dazu die kommunikativen Zusammenhänge her. Alles andere als eindeutig, über mannigfache szenische Täuschungsmanöver, aber in jeder Minute absolut anschaulich.

Mit andern Worten: Auch dieser dichte, konzentriert nachforschende Abend wird am Ende wieder zum Ich führen müssen, wer immer dies sei. Zur – erdachten, erlebten – Biografie; mithin zum Theaterspiel: dem Ort, wo Geschichten erzählt werden. Er führt also zum flammenden Plädoyer für die blinden Flecken, die Löcher im System, für den Zweifel, die Frische, die sich in die vertrockneten Strukturen des Determinationssystems einpflanzen lässt: "Ja, wir sind Maschinen, aber wir sind keine trivialen Maschinen."

Nichts ist fassbar

Der Mensch ist das sich selbst re-programmierende Wesen: Mit geradezu übermenschlichem Furor redet sich Malte Scholz in seiner Schluss-Suada ins Feuer, schon applaudieren die ersten Zuschauer – doch so voluntaristisch beschwingt lässt der Regisseur des Abends, Boris Nikitin, uns dann doch nicht gehen. So einfach ist es dann doch nicht. Nun sprechen die neurologischen Experten, und zwar wild durcheinander. Tonbandzitate aus den Recherchen. Nichts ist fassbar. Und die Knobelaufgabe kann von neuem beginnen: Fünf Gehirne sehen Sie auf der Bühne. Drei der Schauspieler, so viel ist klar. Dazu mein eigenes Zuschauerhirn. Und das fünfte? Jenes Plastic-Modell? Oder vielleicht doch das kollektive des Theaters?

Es macht ziemlichen Spaß, wenn das neuronale System sich ein wenig mit sich selbst beschäftigt.

 

Universal Export. Eine Reise in unser Gehirn
von Boris Nikitin
Konzept und Regie: Boris Nikitin, Bühne: Carsten Schmidt, Licht/Technik: Matthias Meppelink, Dramaturgie: Kris Merken.
Mit: Beatrice Fleischlin, Jesse Inman, Malte Scholz.

www.kaserne-basel.ch
www.paraform.ch/borisnikin

 

Alles über den Regisseur Boris Nikitin auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Artistischen Mut bescheinigt Lukas Linder in der Baseler Zeitung (28.2.2011) Boris Nikitin bei seiner Suche nach einen authentischen Gefühl und einer Antwort auf die Frage, inwieweit der Mensch bloß eine Interpretation der Reize seines Hirns ist. Die mit höchster Präzision spielenden Darsteller werden ebenso gelobt, wie die suggestiven Bilder der Aufführung. Lediglich der Schluss erscheint dem Kritiker nicht schlüssig.

Als fesselnden "Ausflug an die Grenzen unserer Wahrnehmung" hat Andreas Tobler vom Zürcher Tagesanzeiger (28.2.2011) den Abend genossen, der Boris Nikitins "hochreflektierten Theaterarbeiten" auch grundsätzlich große Bewunderung zollt. Dem Baseler Theatermacher und seinen Schauspielern, die er mit ihrer Arbeit bei dieser Gelegenheit ausführlicher vorstellt, bescheinigt er darüber hinaus "Charme, Humor und Intelligenz". Bemerkenswert seien Nikitins Arbeiten aber vor allem, weil "in ihnen stets anschaulich und konkret erfahrbar gemacht wird, was seine Performer in diskursiver Abstarktion zum Vortrag bringen". Im vorliegenden Fall verdankt der Kritiker der Inszenierung ein gesteigertes Bewußtsein dafür, wie wenig es bedarf, um "unsere Wahrnehmung" zu lenken, ja aus den Fugen zu geraten zu lassen.

 

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