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Die Tragödie als Orgelspiel

von Simone Kaempf

Hamburg, 25. Februar 2011. Sand fliegt in die Höhe. Mit beiden Armen durchpflügt Antigone den schwarzen Erdhügel und stößt so markerschütternde wie fremdländische Klageschreie aus, deren Echohall effektvoll verstärkt ist. Ihre Knie rutschen im Sand, die Hände werfen den Sand, die Augen sind orangeschattig ummalt, und es ist nicht nur Trauer, es ist allem voran Wahnsinn, der ihr in den Glieder zu stecken scheint.

Schon zuvor, wenn diese Antigone (Patrycia Ziolkowska) ihre Schwester um Hilfe bei der Beerdigung des toten Bruders bittet, rundete sich ihr Körper, als müsste sich jedes Wort seinen Weg durch die Luftröhre nach oben bannen. Ging sie in die Hocke wie ein Primat im Angesichts drohender Gefahr. Sie, die aus moralischen Gründen gegen die Ordnung aufbegehrt, welche die Bestattung des getöteten Bruders verbietet, ist in Dimiter Gotscheffs Inszenierung von Bertolt Brechts "Antigone des Sophokles" vom Anfang an von einem Irrsinn ergriffen.

Retardierte Machtgesellschaft

Aber nicht nur sie. König Kreon sitzt debil grinsend an einem Harmonium, an dem er schräge Akkorde orgelt. Dazu zieht die Alte von Theben den Kopf tief zwischen die Schultern, der Wächter krümmt seinen Rücken bucklig, und es ist nicht die Maske des Wahnsinns, mithilfe der man die Konflikte zu zähmen versucht, Man sieht eine retardierte Machtgesellschaft, die ihre Duelle sprachgewaltig am Randes des Verstandes ausficht.

Ein wenig wirkt diese "Antigone" wie eine Fortschreibung von Heiner Müllers Sophokles-Bearbeitung Ödipus, Tyrann, die Gotscheff mit ähnlicher Besetzung vor einem Jahr am Thalia Theater inszeniert hat. Da tänzelte Bernd Grawerts Ödipus im Sirtaki als könne er das drohende Unheil bannen oder robbte sich wie verpuppende Larve über die Bühne. Blau war da die Farbe seines Pullovers. Und dieses blau hat nun auch das Pulloverkleid von Ziolkowskas Antigone, die nun um das Recht der Bestattung ihres Bruders kämpft. Doch allein mit der Botschaft der Bruderliebe lässt sich ihr Aufbegehren nicht erklären, eher mit der langen Vorgeschichte – den Einsichten des Orakelspruchs, der Pest, dem Krieg – , die ihre irren Spuren hinterlassen haben. Allen voran auch bei jenen, die im Pochen auf die Staatsräson taub für Argumente geworden sind.

Bernd Grawerts Kreon hat jedenfalls ganz unterschiedliche Mienen gegen die Vorhaltungen. Zieht die Mundwinkel nach unten, wirft ihm Teiresias vor, die Stadt vergiftet zu haben. Grinst blöd auf die Frage, was das für eine Kraft sei, die zum Töten führt. Hebt süffisant die Augenbraue auf die Warnung, Ärger sei im Haus. Einer, der mit den Gesten des Irren die Fassade der Macht zu schützen versucht und damit auch das eigentliche Zentrum des Abends ist. Bei der Konfrontation mit Antigone gehen beide in die Hocke, pochen scharf auf ihr Recht und beschnäbeln sich wie zwei aufeinanderhackende Vögel.

Somnambule Gleichförmigkeit

Wofür sie streiten, wirkt jedoch zweitrangig in dieser Inszenierung, die von Anfang an das Bild einer mitgenommenen Gesellschaft zeigt, dessen König eben einer ist, der mit einer Sammlung bunter Orden am Revers und zerrupftem Lorbeerkranz als Krone seinen Lieblingsplatz am Harmonium hat.

Und Katrin Bracks Bühnenbild? In somnambuler Gleichförmigkeit lässt sie mit Rauch gefüllte Seifenblasen vom Himmel schweben, die als kleine Schwaden am Boden zerpuffen. Mal bringt Bernd Grawerts Kreon mit kindlicher Spiellaune die Blasen zum Platzen wie ein kleiner Selbstkommentar der Natur seiner Entscheidungen.

Eine Tragödie steckt natürlich in diesem Narrenspiel, aber gefährlich wird sie an diesem Abend nicht.

 

Die Antigone des Sophokles
von Bertolt Brecht
Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ellen Hofmann, Dramaturgie: Beate Heine.
Mit: Bibiana Beglau, Christina Geiße, Bernd Grawert, Thomas Niehaus, Oda Thormeyer, Patrycia Ziolkowska.

www.thalia-theater.de

 

Über die Arbeit der Bühnenbildnerin Katrin Brack erschien vergangenes Jahr ein Bildband.

 

Kritikenrundschau

Von "Affenzirkus", der das Anliegen des Stücks ("Ruf nach Menschlichkeit") zum Brei "eitler Schausspielergrillen" als "psychiatrisches Duell" zerkaue, spricht Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (28.2.2011). Während Bernd Grawert den "mad dictator" Kreon für Brieglebs Geschmack "mit Ordensbrust, zerrupftem Efeukranz und Heimorgel noch konsequent skurril und damit halbwegs unterhaltend" ausmalt, müssten "die Damen Thebens übertreiben, was das Zeug hält", und Irrtum mit Irrsinn übertünchen. Besonders erregt als "Bote und Wächter Bibiana Beglau" den Kritikerunmut, da sie aus seiner Sicht "jeden Ernst mit epileptischer Fortbewegung" denunziert. Lediglich Bühnenbildnerin Katrin Brack habe einmal mehr "ihr Talent für das Genial-Schlichte bewiesen", schreibt der Kritiker. Geradezu schüchtern, "als wollten sie die Arbeit des Regisseurs nicht stören, erweitern Bracks atmosphärische Setzungen die Möglichkeiten des Spiels in ihrem subtilen philosophischen Minimalismus. Und manchmal ist dieser einfach feiner als die Mittel der Regie."

Antigones Tragödie finde nicht mehr statt oder interessiere nicht mehr, konstatiert Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.2.2011), die Gotscheffs "respektvoll beharrliche" Inszenierung gemeinsam mit Friederike Hellers "absonderlich überspannter" Berliner Antigone bespricht (und hier ebenfalls das Abhandengekommensein der Tragödie und vor allem einen "völligen Schiffbruch" zu Protokoll geben muss). Besonders Patrycia Ziolkowska beeindruckt die Kritikerin als "kraftvolle, fast unverschämt selbstbewusste Antigone." Meist in der Hocke, fühle sie "sich in Bodennähe wohler als auf Augenhöhe mit den anderen, die Gotscheff wie vergessene, seltsam verdrehte, in bizarre Zeremonien verstrickte Insassen einer Nervenklinik zeigt." Aber auch die Bühne der "meisterlichen" Katrin Brack verstärke die surreale Atmosphäre der Inszenierung.

Als einen, für Gotscheffs Verhältnisse "fast schon katholisch-komischen Wortgottesdienst" von alllerdings "eher mäßiger Aktualität" empfand Elmar Krekeler auf Welt-online (28.2.2011) die Inszenierung, die er ebenfalls gemeinsam mit Friederike Hellers "diskursgewaschener" Berliner Antigone bespricht. Dimiter Gotscheff habe seinen Figuren "Masken auf- und einen Sprechgesang eingestanzt. Man sieht sie einmal, hört sie und so bleiben sie. Es entwickelt sich nichts. Sie sind das seltsam halblebendig gewordene Inventar eines betörend simplen, betörend magischen Kunstraums, den Katrin Brack wieder einmal für Gotscheff gebaut hat."

Sperrig findet Anke Dürr in der Frankfurter Rundschau (28.2.2011) Text und Inzenierung. Man könne nicht sagen, dass es Spaß mache, den Schauspielern dabei zuzuschauen, "wie sie so vor sich hin grimassieren, tirilieren, manierieren." Gut und Böse seien hier keine Kategorien mehr, vielmehr habe sich Gotscheff wohl eine andere Frage aufgedrängt: "Sind die alle wahnsinnig? Antigone ist bei Patrycia Ziolkowska eine mal provokante, mal arrogante, borderline-gestörte Revoluzzerin im blauen, togaartig anmutenden Sackkleid. Krümmt sich am Boden wie ein Tier, singt archaische Töne wie eine Wilde. Schreit ihren Text, spuckt ihn aus, säuselt ihn, leiert ihn, zerdehnt ihn, artikuliert ihn überdeutlich. Eine Art antiker Kasper Hauser, eine Anti-Heldin, keine Identifikationsfigur, bloß das nicht." Was bleibe da also noch vom antiken Mythos? fragt sich die Kritikerin. "Nicht viel. Man könnte auch sagen: Er löst sich in Rauch auf. Womit wir beim Bühnenbild von Katrin Brack wären, dem Highlight des Abends, über das man in dieser Aufführung viel Zeit hat zu meditieren."

Anstrengend, "weil vor allem und immerzu" nur erdacht und wenig erspielt findet Michael Laages in der Sendung Kultur Heute beim Deutschlandfunk (26.2.2011) Dimiter Gotscheffs Inszenierung. Der Regisseur zelebriere die Gedanken des Textes, kaum aber dessen Handlung. Folgerichtig seien die Figuren "(wie Bibiana Beglau in den zwei grandiosen Botenberichten) am stärksten, wenn sie ganz von Text durchdrungen sind, und die strapazierten Muskeln fast wie Worte, die nur mit viel Mühe aus dem Körper heraus wollen; wenn sie (wie Christina Geisse und Thomas Niehaus) mit wenigen Worten Haltung dokumentieren; Posen probieren, kein Spiel. Am allerwenigsten miteinander." Beeindruckend findet Laages jedoch die "Zauberkunststücke von Katrin Brack". Wieder verwandele diese Bühnenbildnerin die Bühne zum Raum der Magie. "Vom Himmel fallen abendfüllend (und aus etwa eineinhalb Dutzend Düsen über der Bühne) Seifen-, besser: Schaum oder Nebelblasen herab. Und mal zerplatzen sie erst am Boden, mal schon im Flug – und verwandeln sich in ein kleines Wölkchen aus nichts als Nichts. Wie schlussendlich der Mensch im Krieg, wie der Krieg selbst zu Nichts zerplatzt, wie letztlich auch der starrsinnigste Herrscher die eigene Macht sich auflösen sieht in Nichts."

"Etwas abstrakt" findet Frauke Hartmannn von Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (27.2.2011) die Inszenierung und möchte Regisseur Dimiter Gotscheff zurufen: "Gibt es denn gar keine Hoffnung?" In seinen besten Momenten gebe der "Dinosaurier unter den Regie-Radikalen", zwei Antworten: "Klingt die Sprache pathetisch und irre, liefern Kreon und Antigone den vernichtenden Subtext dazu in Zeichen- und Lautsprache und durchkreuzen so den hohen Ton. Am schönsten macht Grawert das im dramatischen Dialog mit dem Chor, der am Ende wie eine Slapsticknummer von Oliver Hardy und Stan Laurel gebaut ist: Oliver (der Chor / Oda Thormeyer) piekst Stan (Kreon) so lange in den Bauch, bis es nicht mehr zum Lachen ist. So treibt Gotscheff der Tragödie die Komödie wieder aus, die er in ihr gesucht und nicht wirklich gefunden hat." Die animalische Antigone erinnert die Kritikerin an Gollum aus dem "Herrn der Ringe".

Gotscheff, schreibt Franziska Bulban in der Zeit (3.3.2011), inszeniere das Stück als Fabel "zweier Fanatiker, die sich ineinander verbissen haben": Antigones "animalische Wut" treffe dabei auf Kreons "herablassende Suffisanz", "heiliger Ernst auf ketzerischen Spott". Aus dieser Spannung ergäben sich "durchaus komische Elemente". Gotscheff zeige die Engstirnigkeit der Radikalen, die nichts um sich herum wahrnehmen. Die übrigen vier Darsteller würden nichts "ins Geschehen eingebunden". Nach Antigones Tod fehle dem Kreon deshalb auch "ein Gegner". Der "lamentierende und mit seinem Schicksal hadernde Herrscher ohne Anspielpartner" werde schnell ermüdend. Hätte zuvor der "persönliche Konflikt im Fokus" gestanden, würden nun, "weitgehend emotionslos, politische Dilemmata ausgestellt". Kreon werde zum "Abziehbild eines Tyrannen, der sich an die Macht klammert". Die meisten "politischen Botschaften2 des brechtschen Textes gingen am Zuschauer vorbei, weil die verschachtelten Sätze "gebrüllt oder teilnahmslos gesprochen" würden.

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