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Der Lockruf der Freiheit

von Dieter Stoll

Nürnberg, 27. Februar 2011. Auch so kann man sich Wiedergeburt vorstellen: Oliver und Philip, zwei leidlich sympathische junge Herren, sind ein Paar auf Zeit in zwei Existenzen und haben damit grundsätzliche Probleme. Erst im verklemmten 1958, dann ein halbes Jahrhundert später in der Trendy-Gegenwart des Mainstream-Hedonismus. Im ersten Leben ist ihre sexuelle Neigung im Schattenwurf der gesellschaftlichen Zwangsmoral von Verwirrung und Verdrängung umstellt. 2008 verrutscht der Konflikt in die Grauzone des Lustgewinns, denn nun ist ja fast alles erlaubt und man muss bei Bedarf um den Bestand einer Beziehung vor allem gegen den Lockruf der Freiheit kämpfen. Meint der Autor. Ein Modellfall zum Durchspielen – aber wovon genau soll er erzählen? Von der Entspannung in der öffentlichen Scheinheiligkeit oder der Emanzipation der Schwulen?

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© Marion Bührle

Zeugen für den Wandel der Gesellschaft

Alexi Kaye Campbell, der 45jährige Londoner Schauspieler, hat mit seinem ersten Stück "Pride", das den Stolz auf die offene sexuelle Identität denkbar knapp im Titel trägt und dann im Text fast dreistündig zweifelnd auswalzt, daheim einiges Aufsehen erregt. Dem Nürnberger Schauspieldirektor Klaus Kusenberg, der seine Schwäche fürs unverschlüsselte britische Problemumwälzungs-Theater seit Jahren pflegt, konnte das nicht entgehen.

Die Inszenierung der Deutschland-Premiere in den Kammerspielen hat er jedoch, zugunsten einer frei werdenden Produktion von Ibsens "Wildente", kurzfristig dem zuletzt mit Roland Schimmelpfennig und Felicia Zeller zwischen Kassel und Weimar erfolgreichen Maik Priebe übergeben. Der behandelte den Text jedenfalls als das, was er gern wäre: Anspruchsvolle Literatur. In solchem anspruchsvollen Rahmen darf es auch eine quälend lange, nah am Zuschauer gehechelte Fick-Szene sein. Da scheppert das Gitterwerk, das Susanne Maier-Staufen wie eine Gefängniswand hinter der Bank hochgezogen hat.

Mit der Frage nach Äußerlichkeiten befassen sich Autor und Regisseur beim dramatischen Pendelverkehr ansonsten gar nicht. Auf einer langen Bank, wie sie Johannes Schütz in den letzten Lebensjahren von Jürgen Gosch für dessen unvergleichliche Tschechow-Inszenierungen baute, sitzen nun vier abrufbare Zeugen für den Wandel der Gesellschaft.

Momente angenehm irritierender Verwirrung

Sylvia ist erst die betrogene Ehefrau und dann der weibliche Schwulen-Kumpel (Tanja Kübler spielt beides resolut), fürs SM-Intermezzo eines Internet-Escorts und ähnlich komische Zwischenspiele als Sex-Therapeut und aufklärerisch schwadronierender Verleger ("Ist 'schwul' okay oder ist das wie das N-Wort für die Schwarzen?") hat Stefan Lorch in jedem Fall das richtige Timing. Aber letztlich liegt auf dem Herren-Paar alle Last der Aufführung. Der verklemmte Ehemann im ersten Teil wird zum schwulen Treue-Softie im zweiten (Marco Steeger achtet sehr auf intakte Klischee-Abwehr) und der schon 1955 baggernde Homosexuelle kehrt mit noch mehr Offenheit in Hemd und Moral als Blowjob-Süchtiger zurück (Stefan Willi Wang will stärkeren Rollen-Kontrast und rutscht dabei ins Coolness-Abziehbild der "Queer as Folk"-Pointenschleuder).

Die Dialoge, denen Maik Priebe zu sehr vertraut, bohren 1958 wie 2008 spiralenförmig ins eher dünne Brett (von "einer Million drohenden Trommeln im Kopf" wird geraunt und von manch anderen "Dingen, die von vitaler Bedeutung sind"), während Kleidung und Frisur unangetastet alle Zeiten überdauern. Im harten Schnitt der immer wieder vor- und rückwärts springenden Szenen tauchen Momente angenehm irritierender Verwirrung auf, wenn der Zuschauer die Echt-Zeit erst wieder im eigenen Kopf herstellen und seinen Glauben an den sympathischen Optimismus des Autors überprüfen muss. Denn Campbell wedelt mit Sätzen wie "Wir leben eine Art Evolution" und beschließt als Herrscher der Dialoge die überraschende Versöhnung.

Alles entwickelt sich "zum Guten" – die Inszenierung versucht es zumindest und auch das preisgekrönte britische Theaterstück meint es ganz sicher so.

 

Pride (DSE)
von Alexi Kaye Campbell
Deutsch von Max Faber
Regie: Maik Priebe, Bühne: Susanne Maier-Staufen, Kostüme: Mareike Porschka, Dramaturgie: Maren Zimmermann.
Mit: Stefan Willi Wang, Marco Steeger, Tanja Kübler, Stefan Lorch.

www.staatstheater-nuernberg.de


Der Dramatiker Alexi Kaye Campbell, vor 45 Jahren als Alexi Komondouros in Athen geboren, ist Sohn einer britischen Mutter und eines griechischen Vaters, studierter Literaturwissenschaftler und Schauspieler. Sein preisgekrönter dramatischer Erstling Gay Pride wurde 2008 am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt.

 

Kritrikenrundschau

Mutig findet Barbara Bogen in der Sendung Die Kultur auf B5 Alexi Kaye Campbells Stück, das so divergente Topoi wie gesellschaftliche Utopie und antikes Orakel auf dem zeitgenössischen Theater unter einen Hut zu bringen verstehe. Darüber hinaus zeiche das Stück ein sehr widersprüchliches Gesellschaftsbild, dem sie Einblick speziell in die Situation der Homosexuellen in den 50er Jahren verdankt. Auch Regisseur Maik Priebes puristische Überhöhung des Stoffs auf einer "unerhört kargen Bühne" nimmt sie nicht unbeeindruckt auf. Allerdings scheint es dem Eindruck der Kritikerin zufolge im Eifer des Gefechts bei drastischeren Szenen mitunter zu unfreiwillig komischen Momenten zu kommen. "Hübsch heftig" sagt Barbara Bogen im Angesicht nackter Hinteransichten und ist dankba, dass die herausragenden Schauspieler den Abend schließlich doch zum Ereignis machen.

Nichts für Zartbesaitete ist das Stück aus Sicht von Monika Beer in der Zeitung Der fränkische Tag (28.2.2011) Bereits die die abgefuckte, prollige Gegenwartssprache dürfte manchen Bildungsbürger abschrecken, warnt sie vor. Gleichzeitig zwingt das Stück den Zuschauern zu krassen Erkenntnissen zur Lage der Homosexuellen, wie man der Kritik entnehmen kann. Die Stärke des Abends besteht für die Kritikerin in der Art, wie Autor und Regisseur die Zeitebenen ineinander verschränken. Hier sei man dann einerseits "froh zu sehen, dass dank der sexuellen Revolution sich niemand mehr selbst so verachten, verbiegen und verleugnen muss wie Philip anno 1958. Aber ist er ein halbes Jahrhundert später in einer nicht nur sprachlich vollkommen sexualisierten Welt, wo angeblich alles geht, also auch das, was nicht gehen sollte, glücklicher? Wohin kann diese Freiheit führen?" Die Schwäche des Stücks und der Inszenierung ist aus Kritikerinnensicht  seine Länge. "So authentisch und beiläufig die Dialoge klingen - auch in der deutschen Version von Max Faber -, fast drei Stunden Spieldauer sind des Guten einfach zuviel."

Von einer "dichten Inszenierung" berichtet Florian Welle in der Süddeutschen Zeitung (1.3.2011). Maik Priebe inszeniere diese deutsche Erstaufführung "so fesselnd, dass sich wohl weitere Häuser des wortgewaltigen Zweiakters annehmen werden." Das Stück "Pride“ sei nur "auf den ersten Blick" ein Drama "ausschließlich über Schwule. Und schon gar nicht thematisiert es längst vergangene Zeiten." Maik Priebe habe in seiner Umsetzung "ganz aufs Wort gesetzt, Requisiten gibt es keine. Das würde ohne gute Darsteller nicht funktionieren. Allen voran trägt Oliver-Darsteller Stefan Willi Wang mit seiner großen Wandlungsfähigkeit den Abend. Tanja Kübler als Sylvia hingegen kann viel schöner traurig als aufbrausend sein, während Marco Steeger als Philip teilweise doch etwas klobig wirkte."



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