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Schweigen für die Welt

von Ralf-Carl Langhals

Heidelberg, 4. März 2011. Kennen Sie den: "Lesen Sie mehr Ibsen!", rät der Intendant dem aufstrebenden Jungautor und wünscht sich dann ein spielbares und gut verkäufliches Drama mit Globalisierungswahnsinn, Sprengstoffanschlägen, Kindesmissbrauch, Nahostkonflikt und Rechtsradikalismus. Erfolgsdramatiker Nis-Momme Stockmann hat die Not des Auftragsdichters für Stuttgart erfolgreich mit Kein Schiff wird kommen dramatisiert. Das darin vom Intendanten bestellte Stück zum Wendejubiläum 2009 ist es absichtlich nicht geworden, dafür aber eine tiefgründige wie anrührende Begegnung zwischen und Vater und Sohn. Desgleichen bot Stockmann nicht minder eindrücklich schon in seinem Erstling Der Mann der die Welt aß. Darin konfrontierte er einen am Kapitalismus verzweifelten Egoisten mit seinem dementen Vater und gewann damit 2009 den Preis des Heidelberger Stückemarkts. Zurück in Heidelberg, experimentiert Stockmann in seiner Auftragsarbeit "Expedition und Psychiatrie" nun mit all seinen Themen.

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©Markus Kaesler

"Es kommt ein Schiff an mit einer neuen Ware" lässt er den Chor anspielungsreich sagen – und eine alle Grenzen sprengende Kapitalismuskritik zusammengeklaubtester Güte vom Stapel. Ein Mund frisst nun hier die ganze Welt, Gott ist Scheiße, aber nicht tot, überhaupt alles "Kot, Kacki, A-A". Na bravo, das hebt die Stimmung im Saal und am Schreibtisch. Es folgt eine aneinandergereihte Thesentirade, die förmlich, formell und formal zu schreien scheint: bitte verreiß' mich, ich will keine Uraufführung mehr machen. Aber so einfach will man es dem geschätzten Autor und sich nicht machen.

Höhere Welterforschung

Also der Reihe nach. Den Stücktitel widmet er den "zwei großen menschlichen Suchbewegungen" "Expedition und Psychiatrie". Versucht die erstere mit Karten und Technik die Außenwelt zu erforschen, forscht die andere im Inneren der menschlichen Welt. Gemein ist beiden Bemühungen die Reglementierung der Welt, die dem Chaos entgegenwirken soll. Soweit, so vielversprechend.

Menschlichen "Erschließungsbewegungen" bringt dieser Abend aber nicht weiter, weil "alles bla bla ist". Über die ausdifferenzierten Grenzen und Definitionen von Geisteskrankheit und Moral erfahren wir wenig, allenfalls, dass innerhalb einer Kultur festgelegte Standardwerte schlecht sind und das Glücksversprechen des Kapitalismus hohl wie auch überholt ist. Dem ließe sich zustimmen, müsste man nicht ständig friesisch-herb denken: "Momme, mach hinne!"

Stockmann schickt zum höheren Zwecke der Welterforschung einen ge- und überforderten Zauberkünstler, also – der Text verrät es uns – den Dichter selbst über "Das blaue blaue Meer" des bereits Gesagten, Wiederholten und ewig Gleichen, das per Videoprojektion (Christian Prasno) kantig über die Leinwand flimmert. Eine Hafensituation zeigt uns die Bühne von Yassa Yabara, wo Pyramiden mannigfach und recht altbacken als Götzen und göttlicher Funke fungieren und von links sanfte Elektrorhythmen (Les Trucs) auf die Reise geschickt werden.

Goethe, Brecht und die Bibel winken

Dieser quasifaustische Künstler (Ana Berkenhoff), der gerne begreifen würde, was diese kotige Welt in ihrem Innersten zusammenhält, schockiert sein bezaubertes Publikum mit Frevel: "Eure Augen sind nutzlos, denn sie geben nur noch das Bild des Bekannten wieder". Danach redet er wenig. Das tun nun andere. Der Zauberkünstler mit pflegebedürftiger Mutter (Nathalie Mukherjee) wird von Verwaltung, Admiralität, Agenten und Hohepriestern ignoriert, verhört, benutzt und gedemütigt, bis er nur noch schweigen kann. Au weia, das klingt nicht gut für des Dichters berufliche Verve. "Wild zu sein, heißt Schweigen für die Welt" lautet die finale Botschaft dann auch.

Doch warum muss jemand, der gut im Geschäft ist und mit seiner Betriebs- und Berufsmüdigkeit so offen kokettiert, ein so geschwätziges Stück schreiben? Pascal, Goethe, Brecht und Bibel winken mit dem Holzhammer an der Ecke und wo "Sinn keinen Sinn mehr macht", bleibt eine angestrengt launige wie pubertäre Revue übrig, die ein wütendes Verständnis-Oratorium sein möchte.

Über alle Meere

Streckenweise hat das auf der Bühne durchaus den Charme anarchischen Schülertheaters, und das sehr jugendliche Ensemble (Tobias Gralke, Tim Kalkhof, David Müller, Florian Stamm) spielt ihn mit sichtlicher Begeisterung, wenn auch Überforderung voll aus. Ein typischer Heidelberger Kindergeburtstag eben. Doch als genüge der textuelle Mangel an Form nicht, tut sich der inszenierende Autor auch handwerklich schwer. Eine Dramaturgie des Raumes vermisst man ebenso wie einen wie auch immer gearteten Figurenentwurf.

Wie auch? Längst ist Nis-Momme Stockmann über alle Meere, will offensichtlich zu neuen Ufern und das Sprechtheater hinter sich lassen. Zur Musik, zum Gesamtkunstwerk zur multimedialen Wortlosigkeit? Die Kunst habe sich dem Regelgeflecht des Kapitalismus geopfert, befand der Autor unlängst im Radio. Doch dass er mit den Regeln der Kunst besser zurechtkam als mit deren Opferung, hat er jetzt in Heidelberg bewiesen.

Schade, wir hätten ihn gerne hier behalten.

 

Expedition und Psychiatrie (UA)
von Nis-Momme Stockmann
Regie: Nis-Momme Stockmann, Bühne: Yassu Yabara, Kostüme: Lea Sovso, Musik: Les Trucs, Video: Christian Prasno. Dramaturgie: Julia Reichert und Michael Nijs.
Mit: Ana Berkenhoff, Natalie Mukherjee, Tobias Gralke, Tim Kalkhof, David Müller, Florian Stamm.

www.theaterheidelberg.de


Alles über Nis-Momme Stockmann auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Stockmanns neues Stück biete "ziemlich viele diskursiv kreisende krause Gedanken", vermeldet Christian Gampert im Deutschlandfunk (5.3.2011). Es nehme "aparterweise auf die Psychiatrie Bezug" und sei selbst "nur unter Einnahme von Sedativa auszuhalten". Insgesamt hatte der Kritiker den Eindruck, "hier habe jemand zu viel poststrukturalistische Prosa konsumiert und noch nicht verdaut". Offenbar unter Auftrags-bedingtem Schreibzwang bringe Stockmann nun "all das zu Papier, was man in postpubertärer Emphase immer schon mal sagen wollte, aber lieber in der Schublade ließ. Also Dinge wie: Gott ist tot - oder vielleicht doch nicht? Auf 'tot' reimt sich 'Kot', woraus der Mensch ja wesentlich besteht, und aus 'Kacki' wiederum könne man Gott machen. Das Individuum aber sei am Ende. Und die Worte, o Lord Chandos, hätten ihre Bedeutung längst verloren, weshalb Stockmanns Figuren mit Hingabe die Vokale A E I O U ausstoßen. Der böse Kapitalismus drangsaliert uns alle, aber Hoffnung besteht nicht." Während der zwei Stunden im Heidelberger Theater weiß der Kritiker nie so recht, "ob dieser neue Jargon der Eigentlichkeit nun Karikatur ist oder ernst gemeint."

Eine "ganz eigene Kant-Krise“ diagnostiziert Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (7.3.2011) bei diesem Neulingswerk von Nis-Momme Stockmann, denn der Jungdramatiker "mute dem Theater einen Text zu, vor dem manch ein Praktiker erst einmal in Deckung gehen dürfte." An "Peer Gynt" fühlt sich der Kritiker erinnert, manche Szene gemahne an Endzeitszenarien, "für die Andrej Tarkowski Pate gestanden haben könnte. Da kommt einiges zusammen, und es sieht zunächst so aus, als träfe es sich ganz gut, dass Stockmann auch noch gleich mit seinem Regiedebüt aufwartet und als erster seinen Text vermisst." Figuren oder Erzählstränge schäle er als Regisseur nicht aus seinem Text; er begnüge sich damit "wie ein DJ Passagen zu sampeln und die Darsteller wie Teilnehmer einer esoterischen Messe zu arrangieren." Aber im Verbund mit den Schauspielschülern will das Ergebnis den Kritiker nicht recht überzeugen: "Es ist offensichtlich, dass die Debütanten einen Regisseur gebraucht hätten, und nicht einen seinen Text bewundernden Autor, der, würde er seine steilen Denkfiguren ernst nehmen, eigentlich dem Wort und dem Theater entsagen müsste."

Es sieht "so aus, als habe Stockmann nach seinem verblüffend reifen Start als Dramatiker das dringende Bedürfnis, seine theatrale Pubertät nachzuholen – jene Lebensphase, in der man gern mit markigen Worten alles Althergebrachte attackiert und die große Geste dabei wichtiger ist als Stringenz", schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neusten Nachrichten ( 7.3.2011). "Stockmann, erklärter Gegner des kapitalistischen Vermarktungsprinzips, erzählt in märchenhaft-surrealem Tonfall, wie einer Welt der Sinn abhanden kommt und den Menschen nichts anderes einfällt, als in Büßerprozessionen um den Fortbestand des Mehr-Prinzips zu flehen oder einfach 'noch mehr Rücksichtslosigkeit' zu fordern." Allerdings seien die "vorgeblich neuen Szenen (…) kaum mehr als ein Kessel Buntes aus Altbekanntem" von Kafka bis Hugo von Hofmannsthal und Christoph Marthaler. So lautet denn die aktuelle Wasserstandsmeldung vom Jungdramatiker des vergangenen Jahres: "Einst hat Stockmann im Kleinen die Welt entdeckt und so die alten Theaterwege neu belebt. Auf der Suche nach neuen Wegen ist er hier leider nur auf ausgelatschte Befindlichkeits-Routen gestoßen."

Wesentlich wohler fühlte sich Volker Oesterreich von der Rhein-/Neckar-Zeitung (7.3.2011) in dieser "surrealistischen Messe, in der es Prozessionen genauso gibt wie geheimnisvolle rituelle Handlungen und pseudoreligiöse Symbole." An Pantheismus und Alfred Jarry fühlt sich der Kritiker erinnert und macht auch etwas "Anti-Nietzsche" aus. Jedoch: "Das heillose Durcheinander entwickelt eine sprachmusikalische Kraft", der Text bekomme eine "meditative Sogwirkung". "Mal wirkt die Performance wie eine Sprechoper, mal wie ein absurdes Oratorium", heißt es. Fazit: "Wer ein Faible für den Dadaismus hat, wird an dem Spektakel seine Freude haben."



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