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Fass mich nicht an!

von Guido Rademachers

Aachen, 4. März 2011. Von Uxbridge nach Stockport. 200 Meilen Einsamkeit und wieder zurück. Harper Regan hat sich auf den Weg gemacht, um den im Sterben liegenden Vater zu sehen, und kommt zu spät. In einer Bar rammt sie einem aufdringlichen Journalisten ein Bierglas in den Hals, dass er blutend zu Boden geht. Sie verabredet sich übers Internet zum Hotelzimmersex, besucht nach Jahren ihre Mutter und kehrt schließlich zur Tochter und ihrem der Kinderpornografie verdächtigten Mann zurück. Den Job ist die 41-Jährige wegen der nicht genehmigten Urlaubstage wohl los. Aber obwohl nach der Reise, die eine Reise ins Ich war, nichts mehr so ist wie vorher, hat sich doch eigentlich auch nichts verändert. Weggehen, um nach Hause zu finden. Harper Regans Rebellion inthronisiert das soeben Gestürzte auf wundersame Weise neu.

"Keine Reaktion"

Simon Stephens stammt wie seine Protagonistin Harper Regan aus Stockport. Seine Figuren liegen ihm offenbar am Herzen. Die Dialoge klingen banal und doch schwingt immer etwas Unausgesprochenes mit: ein verborgenes Sinn-Extra, das besonders in Stephens Lieblings-Regieanweisungen "Keine Reaktion" oder "Pause" nachhallt. Gleichwohl bezeichnet sich Stephens lieber als "playwright" denn als "dramatist". Es geht ihm nicht um Genie, sondern um Handwerk: die präzise dramatische Konstruktion. Und eine entsprechende inszenatorisch-handwerkliche Note ist auch der Aachener Aufführung anzumerken.

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©Ludwig Koerfer

Regisseur Ronny Jakubaschk hat sich in die Kammer des Aachener Theaters eine Art Spirale aus Metall-Kabelschächten bauen lassen, die sich zu vier großen Bühnenrahmen auffächert. Darin stehen meist parallel zum Rahmen angeordnet die Schauspieler: gefasst in einem gemeinsamen Bild – und mit den zwei Meter Normabstand voneinander, die ihnen die Inszenierung verordnet, zugleich jeder ein Bild für sich. Bewegungen gibt es kaum. Die Hände stecken in Hosen- und Jackentaschen oder sind vor der Brust verschränkt. Der Blick wandert vom Mitspieler nach vorne zum Publikum, als betrachte man durch eine Panoramascheibe eine Landschaft.

Scham vor dem Leben

Den Dialogen ist so auch immer ein zweifacher Monolog unterlegt: In dieser Fass-mich-nicht-an-Inszenierung agieren isolierte Solitäre, die schon bei einem "Wie geht's dir, Schatz?" unwillkürlich einen Schritt zurückweichen und, ist doch einmal eine Umarmung fällig, gleich einen Heulkrampf bekommen oder unbeholfen den Rücken des anderen betatschen.

Bettina Scheuritzel in Pünktchenbluse, mit markantem "S"-Fehler und Klämmerchen im sauber gescheitelten Haar ist eine herbe Harper Regan, in der es langsam aber unaufhaltsam mahlt. Zu welchem Entschluss eine Frau wie sie auch immer kommt, sie kann nicht anders. Schwer arbeitet es in ihr, beim Sprechen schüttelt sie beinahe unmerklich den Kopf, als könne sie das Gesagte noch nicht fassen.

Am Anfang, als ihr endlos herumschwadronierender Chef (Rainer Krause) sie plötzlich prüfend ansieht, senkt sie aus Scham vor ihrem Leben den Blick. Am Ende berichtet sie ihrem Mann (Joey Zimmermann) ungerührt von ihrer Affäre. Der steht wie Falschgeld mit süßsaurem Lächeln da, atmet einmal tief durch und benötigt jetzt auch die zweite Hand, um das Kaffeeglas zu halten.

Das ist nicht sonderlich viel. Aber mehr braucht die Aufführung auch nicht, um dem Text den Raum zu öffnen.

 

Harper Regan
von Simon Stephens
Übersetzung von Barbara Christ
Inszenierung: Ronny Jakubaschk, Bühne und Kostüme: Matthias Koch, Dramaturgie: Caroline Schlockwerder.
Mit: Bettina Scheuritzel, Emilia Rosa de Fries, Elisabeth Ebeling, Felix Strüven, Benedikt Voellmy, Philipp Manuel Rothkopf, Joey Zimmermann, Rainer Krause.

www.theater-aachen.de


Die deutschsprachige Erstaufführung von Harper Regan fand 2008 bei den Salzburger Festpielen statt, mit Martina Gedeck in der Titelrolle. Ronny Jakubaschk, 1979 in Guben geboren arbeitet u.a. auch am Berliner Maxim Gorki Theater.

 

Kritikenrundschau

Die Regie wirke etwas "zu statisch und in der Folge leider uninspiriert", befindet Grit Schorn (Aachener Zeitung/Aachener Nachrichten, 7.3.2011). Rainer Krause und Felix Strüven blieben "sichtbar unter ihren Möglichkeiten". Ein wahrer Glanzpunkt sei aber der Auftritt von Elisabeth Ebeling als Harpers Mutter: "Faszinierend echt zwischen egoistischem Lamento, weiblichen Allüren und Tragik brilliert die Schauspielerin im Duett mit einer (Bettina) Scheuritzel als Tochter." Eine typische "Mutter/Tochter-Konstellation" stelle sich da "berührend und spannend" dar.

Die szenischen Momentaufnahmen seien durch "schwermütige Gitarrenklänge" miteinander verbunden, meint Sibylle Offergeld (Grenzecho, 7.3.2011). Ein "kurzer sinnlicher Reiz" entstehe "beim Gluckern des Kaffeestrahls im Arsenal der Gläser." Im Übrigen zwinge "Abstraktion zum Einsatz der inneren Leinwand des Zuschauers". Dem Abend gelinge es, "Anstöße" zu vermitteln, "die zur eigenen Standortbestimmung führen". Die schauspielerische Leistung des Ensembles "führt zu einer Art inwendiger Perspektive". Alle Akteure "pendeln zwischen stiller Intensität und stimmiger Ausdrucksstärke". 

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