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Im Theater-Psycho-Zauberwald

von Daniela Barth

Hamburg, 4. März 2011. Ohrstöpsel: Auf Kampnagel werden Ohrstöpsel verteilt und eine ältere Dame greift auch beherzt zu, denn schließlich seien die "beim Schwimmen ganz hilfreich". Dies gebiert die erste Form der Verstörung – gleich nach dem drohend orakelnden Stücktitel "This is how you will disappear"... Werden wir beim Seniorenschwimmen für immer und ewig abtauchen? Insbesondere an einem frostigen Märzabend macht diese Vorstellung mehr als Gänsehaut. Brr. Gut, dass sich jene Befürchtung als unbegründet herausstellt. Dafür: Flugzeugmotorentinitus. Krachend, hämmernd , pfeifend: Ein blechern monotoner Rhythmus regiert ab jetzt den Pulsschlag – ob Ohrstöpsel oder nicht. Dieser eindringliche Klang ist die ohrenbetäubende wiewohl höchst antagonistische Hauptschlagader eines herbstlich entblätterten Waldes, der solcherart naturalistisch im Theater dargestellt quasi den Atem raubt. Gespenstisch wabert über dem Waldboden Nebel, von dem ein diffuses, bedrohliches Leuchten ausgeht.

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©Sebastien Durand

Wundervoll, grauenerregende Nebellandschaft

Die Theatermacherin, Puppenspielerin und Bildende Künstlerin Gisèle Vienne hat sich mit ihren irritierenden Bildklangwelten auf internationalen Theaterbühnen schon einen Namen gemacht. Die junge Französin gilt als eine Meisterin des Unheimlichen in der zeitgenössischen Performance. "This is how you will disappear" ist ihre dritte Arbeit nach "Jerk" und "Kindertotenlieder" auf Kampnagel und eine erneute Zusammenarbeit mit dem Musiker Stephen O'Malley, der weltweit als 'Drone Doom Metal'-Künstler gefeiert wird. Gemeinsam mit dem Experimental-Musiker Peter Rehberg entwickelte er die Musik zum Stück, das im vergangenen Sommer beim Festival d'Avignon uraufgeführt wurde.

Die japanische Nebelskulpturen-Künstlerin Fujiko Nakaya, deren Werke unter anderem im Guggenheim-Museum in Bilbao ausgestellt sind, ist eine der renommiertesten bildenden Künstlerinnen ihrer Heimat. Die Tochter eines Eis- und Schneeforschers, der sogar die künstliche Schneeflocke erfand, komponiert im kongenialen Zusammenspiel mit Musik und Lichdesign (Patrick Riou) eine faszinierende und zum Teil wundervoll grauenerregende Nebellandschaft. Zudem liefert Viennes langjähriger Arbeitspartner Dennis Cooper die subversiven Textversatzstücke, die dem Ganzen einen zusätzlichen Nervenkitzel verleihen sollen.

Der Mensch verliert sich – in seiner Angst

Da sitzt man nun, fast taub und schnappatmend. Das Nebelgrauen tastet langsam mit klammen, eisigen Fingern nach einem und man genießt vielleicht sogar den Horror, der einen erfasst: 'Angstlust' nennen das die Psychologen. Damit spielt Gisèle Vienne äußerst geschickt. Sie interessiert sich fürs Archetypische: Weit verbreitet ist die Angst, nachts in den dunklen Wald zu gehen.

Denn hier spiegelt sich die Urangst vor dem, was im Dunklen lauert. Das Unbewusste, Unbekannte, Unterdrückte? Angst vor Verirrung? Ein russisches Sprichwort sagt: "Im Wald verwaldern die Menschen, unter Menschen vermenschlichen sie." Will wohl nichts anderes heißen als: Meide diesen einsamen Ort, Mensch: ein Spaziergang, ja; ein tagelanges Turntraining, nein. Denn der Mensch verliert sich - in seiner Angst. Dies suggerieren denn auch die absurden Vorgänge in jenem ominösen naturalistischen Theaterzauberwald. "Be perfect today / or I kill you", motiviert ein Trainer (Jonathan Carpdevielle) seine Turnerin (Margrét Sara Gudjónsdóttir), die eine "fast" perfekte Performance bietet.

Es ist die beklemmende visuelle Verarbeitung psychosexueller Momente – der Trainer dehnt und dehnt und dehnt einen perfekten, angespannten Frauenkörper. (Meine Güte!). Die Psychoanalyse postuliert die Psychosexualität als komplexes Spiel zwischen Natur und Kultur, zwischen Sehnsucht und Triebunterdrückung. Dieser Kontrast wird hier tatsächlich Schauder erregend und dämonisch demonstriert. Wie auch die Psychose(n) der Turnerin, die gefangen scheint in ihrem eigenen Körper wie in einem Spinnennetz. Da hilft alles Kotzen nix – und sie verschwindet im eiskalten Nebel...

Wo die einen verschwinden, tauchen andere auf

Aus dem er auftaucht: The King. Michael Jackson. Eigentlich müsste er jetzt "Thriller" singen. Tut er aber nicht Halt. Stop! Unfreiwillige Komik, die jene schaurige Performance bricht? Da ist zwar ein Rockstar ( Jonathan Schatz) in silberbeschlagener Lederkluft, der aber jault zugedröhnt mit Angst: "I've killed my girlfriend", weil er schon in seiner Jugend "den Kopf voll Tod" hatte und lässt sich vom Trainer erschlagen. Zwischenzeitlich installiert Gisèle Vienne eingefrorene Puppen, die plötzlich auftauchen und wieder verschwinden.

Und nach und nach erscheint einem dieser anfangs so bedeutungsschwere 75-minütige Bilderreigen fast beliebig, geradezu zusammenhangslos. Wie eine ins Leere gelaufene Psychoanalyse; der Spannungsbogen wird nach dem Höhepunkt schlaff und verliert sich in vermeintlicher Belanglosigkeit. Vom irritierenden Grusel bleibt jedenfalls kaum noch etwas übrig: Zwar flattern noch ein echter Bussard und eine echte Eule, die auf einen Bogenschützen trifft, durchs Bühnenbild. Aber die findet man irgendwie "süß" - womöglich auch verheißungsvoll, weil lebendig. Das Beängstigende hat der kalte Nebel, der kriechende Nebel, der geheimnisvolle Nebel verschluckt. Und das ist ja vielleicht auch ganz gut so, wenn man nächtens noch nach Hause muss.

 

This is how you will disappear
Konzept, Regie, Bühne und Choreografie: Gisèle Vienne, Musik: Stephen O’Malley and Peter Rehberg, Texte: Dennis Cooper, Licht: Patrick Riou, Nebelskulpturen: Fujiko Nakaya, Video: Shiro Takatani.
Mit: Jonathan Capdevielle, Margrét Sara Gudjónsdóttir, Jonathan Schatz.

www.g-v.fr
www.kampnagel.de


Gisèle Vienne, Regisseurin, Choreografin, Performerin und Bildende Künstlerin, wurde 1976 geboren und arbeitet in Grenoble. This is how you will disappear kam 2010 beim Festival d'Avignon heraus.

 

Kritikenrundschau

"Walderleben im Turbogang einer voll aktivierten Bühnenmaschinerie, feuchte Kälte, die den Zuschauern an den Beinen hoch kriecht, inbegriffen". So schildert Irmela Kästner den Auftakt von "This is how you will disappear" in der Welt (7.3.2011): "Mit dem sinfonischen Rausch, den Elektro-Klangkünstler Peter Rehberg und Metal-Musiker Stephen O'Malley hier geschaffen haben, ist eigentlich alles gesagt". Doch letztlich sei Gisèle Vienne " eine konventionelle Erzählerin", und mit "nekrophiler Kitschprosa des Autors Dennis Cooper" raube sie "schlussendlich dem ganzen Stück das Geheimnis. Am Ende: Romantik als Abziehbild einer selbstzerstörerisch verwirrten Jugend, bar jeder Ironie. Schade. Der Anfang hat mehr versprochen."

Gisèle Vienne spiele in ihrer Produktion "mit den Urängsten, die Städter überfallen, wenn sie auf unverstellte Natur blicken", meint Annette Stiekele im Hamburger Abendblatt (7.3.2011). Das Beziehungsgeflecht der Figuren bleibe "in dem wortkargen Text von Dennis Cooper so undurchsichtig und rätselhaft wie die jüngeren David-Lynch-Filme. Aber auch genauso magisch. Und wie dort lauert auch hier unter der scheinbaren Schönheit die Bestialität." "Die Wucht der Imagination in Verbindung mit dem Authentischen der Elemente" setze "bei diesem schön-schaurigen Gesamtkunstwerk aus bildender Kunst, Performance, Tanz und Musik die Fantasie in Gang". Fazit: "Eine Performance wie ein nachhaltiger Anschlag auf alle Sinne. Toll."

Kommentare  
Gisèle Vienne, HH: unheimliche tableaux vivants
habe "this is how you will disappear" beim steirischen herbst in graz gesehen und es ganz ähnlich empfunden. ein beeindruckendes bühnenbild, aber die hineingepflanzten figuren und "handlungen" schienen eher uninteressant, pseudo-psycho-bedeutungsschwanger und irgendwie beliebig. im zuschauergespräch erklärten die künstler (wenn ich's richtig erinnere), dass es ihnen um den kontrast ging zwischen dem rockstar mit einer 'krankheit zum tode', dem verfall, der selbstzerstörung einerseits, und der gymnastikgeschichte andererseits als sinnbild für jugend- und schönheitskult und -wahn. "cobain’s disease" und "bund deutscher mädchen" als zwei pole von aufstreben und selbstzerstörung. vielleicht hilft das als schlüssel? ändert wenig daran, dass die inszenierung wohl kaum durch ihre texte, charaktere und aktionen besticht (im gegensatz etwa zu gisele viennes "jerk"), sondern allein durch eindrucksvolle, schöne bzw. unheimliche tableaux vivants
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