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Hörbrillen in der Gartenidylle

von Ute Grundmann

Weimar, 5. März 2011. Es beginnt mit dem Ende. Mit dem Tod des Kindes, das Charlotte und Eduard bekommen, als sich ihre Wege eigentlich schon wieder getrennt haben. Wie ein Menetekel wird diese Kindpuppe im Matrosenanzug (bewegt von der Puppenspielerin Nicola Reinmöller) dann immer wieder auftauchen in Claudia Meyers Inszenierung von Goethes "Wahlverwandtschaften" am Deutschen Nationaltheater Weimar. Die Regisseurin hat sich aus Goethes Roman selbst eine Bühnenfassung geschrieben, mit der sie laut Programmheft eine "polykausale Rekonstruktion des Tathergangs" zeigen will, erzählt nach dem "Ermittlungsprinzip des aufklärerischen Detektivromans".

Anflug von Störkräften

Zugleich versetzt sie Goethes Versuchsanordnung der Gefühle, in der ein eigentlich glückliches Paar fremdliebt und damit alle unglücklich macht, in eine "ferne, undefinierte  Zukunft". Das führt zunächst mal zu einem etwas putzigen Bühnenbild. Denn über einer grünen, abschüssigen Hügellandschaft mit rotgestreiften Warnleuchten (Bühne: Alfons Flores) schwebt eine Art Wohnbox. Ein weißes, aufgeschnittenes Zimmer auf Füßen, das Charlotte (Irina Wrona) per Sender am Handgelenk herunterlässt, wenn es häuslich werden soll. Drinnen gibt es Massagestühle (auf denen die Schauspieler herumzappeln) und Briefe werden nicht mehr wie bei Goethe (vor-)gelesen, sondern mit einer Art Hörbrille zur Kenntnis genommen.

Wenn dann später weitere Wohnboxen für die Gäste auf Charlottes und Eduards Anwesen heruntergelassen werden, ähnelt die Szenerie endgültig und komisch ans "Raumschiff Orion" mit seinen seltsamen Gerätschaften. Kontrastierend lässt Meyer zwischen den Szenen immer mal wieder klassische, melancholische Streichertöne live spielen (musikalische Leitung: Michael Abramovich), die eher nach Goethezeit als nach Zukunft klingen. Und weil es ja ein Detektivroman sein soll, werden nach und nach die Bilder der vier Hauptbeteiligten wie Fahndungsfotos per Video eingespielt.

Die Kraft der Liebeswirren

Doch auch gegen solche aufgesetzt wirkenden Zutaten setzt sich Goethes Text, der auch in der Bühnenfassung seine Herkunft als Roman nicht ganz verleugnen kann, durch. Die Geschichte des eigentlich glücklichen Paares, das sich mit dem befreundeten Hauptmann und der Nichte Ottilie das Unglück des Neu-Verliebens selbst ins Haus holt, zieht einfach in den Bann.

Zwischen Ottilie (Nina Mariel Kohler) und Eduard (Thomas Büchel) funkt es hier sofort, bei der ersten Begegnung, beim ersten Blick, in den sich schon Erschrecken mischt. Irina Wronas Charlotte dagegen ist eine eher kühle Hausherrin, die schon einen Entschluß fordert, wo Eduard noch einen Aufschub will. Sie wird mit der Zeit härter, enttäuschter, auch höhnischer zu ihrem Mann, der eher wie ein großer Junge durch die Gefühlswirren geht. Er will die neue Liebe zu Ottilie ganz, bittet vor allem den Hauptmann (Hagen Ritschel) immer wieder, eine Entscheidung herbeizuführen, der jedoch, wie Charlotte, eher zögerlich an die neue Situation herangeht.

Psychogramm, nicht Detektivroman

Als Gegenpol zu diesen beiden, neu verbundenen und doch auseinanderstrebenden Paaren dienen der Graf (Johannes Schmidt) und die Baronesse (Petra Hartung): Laut, auftrumpfend und etwas prollig führen sie ihre Beziehung spazieren, auch wenn es da noch eine Gräfin gibt, deren Tod und die "schickliche Zeit" danach abgewartet werden muss.

Sie bringen die laute Fröhlichkeit von Kindergeburtstagen in die Hügellandschaft mit Teich, in dem Charlottes und Eduards Kind gleich zu Anfang und am Ende noch einmal ertrinkt. Nach drei Stunden ist aus Goethes "Wahlverwandtschaften" zwar kein Detektivroman geworden, aber ein einigermaßen überzeugendes Psychogramm.           


Die Wahlverwandtschaften
von Johann Wolfgang von Goethe, Bühnenfassung Claudia Meyer
Regie: Claudia Meyer, Bühne: Alfons Flores, Kostüme: Ingo Krügler, Dramaturgie: Daniel Richter.
Mit: Irnia Wrona, Thomas Büchel, Hagen Ritschel, Nina Mariel Kohler, Johannes Schmidt, Petra Hartung, Nico Delpy, Jeanne Devos, Nicola Reinmöller (Puppenspiel), Michael Abramovich (Musiker).

www.nationaltheater-weimar.de


Mehr zu Claudia Meyer: wir besprachen Kluck Labor I, das sie im Oktober 2010 und Gefährliche Menschen, das sie im Juni 2009 in Weimar inszeniert hat.

 

Kritikenrundschau

In der Ostthüringer Zeitung (7.3.2011) warnt Stefanie Grießbach: "Wer den Text von Goethes 'Wahlverwandtschaften' nicht kennt, ist verloren in Claudia Meyers Inszenierung des Romans". Meyer breche "die Chronologie der Geschehnisse komplett auf" und rolle "das Geschehen immer wieder neu auf. Die Idee ist nicht schlecht, bedeutet in der Konsequenz aber ein zähes Wiederholen von Text und Szenen. Die Umsetzung gerät aber dann fragwürdig, wenn die ausgewählten Textpassagen nicht immer plausibel erscheinen und wenn eine der Schlüsselszenen des Stücks, die Nacht, in der die Eheleute beim Liebesakt den jeweils anderen vor Augen haben und in der das Kind gezeugt wird, zum provokativen Reigen dreier Nackedeis wird". Die von Goethe in seinem Roman ruhig und subtil entwickelten Gefühle würden "in dieser Inszenierung mit Dopplung auf Kosten von Tiefgang nicht plastischer, nicht verständlicher, nicht ergreifender. Wenn dann auch noch die jungen Schauspieler an Goethes Sprache scheitern, ist die Verzweiflung groß."

Claudia Meyers Regel sei "die der so konsequenten wie rücksichtslosen Kunstanstrengung. Das macht ihre Arbeiten so artifiziell anspruchsvoll wie praktisch ermüdend", diagnostiziert Henryk Goldberg in der Thüringer Allgemeinen (7.3.2011). "Immer wieder wird, nein: soll die Geschichte aus einer anderen Perspektive erzählt werden. Soll, denn es funktioniert nicht, das bleibt eine Art von dramaturgischer Krafthuberei. Wir erkennen die jeweilige Hauptfigur an der Projektion ihres rotierenden gescannten Kopfes, doch ergibt das keine wirklich veränderte Perspektive, nur die Dominanz der jeweiligen Figur. Mit einer Ausnahme, die zeigt, was Claudia Meyer ästhetisch kann. Der Beischlaf der Eheleute, während dem jeder an den tatsächlich geliebten Menschen denkt. Meyer lässt das, sehr erotisch, sehr diskret, sehr überzeugend, als traumwandlerische Menage à trois spielen." Doch dann tue es "wieder weh zu sehen, wie eine Frau, die derlei inszenieren kann, einen Abend angestrengt zerquält."

"Die dreifache Wiederholung dessen, was man entweder schon beim ersten Mal oder gar nicht versteht, hat ihre Reize (…), doch macht sie auch Sinn?", fragt Frank Quilitzsch in der Thüringischen Landeszeitung (7.3.2011). "Beim besten Willen lässt sich in Goethes Roman keine 'Detektivstruktur' erkennen. Es gibt ja nicht mal ein Verbrechen. Lediglich Ottilie verwendet diesen Begriff, um sich für das kollektiv verursachte Unglück zu strafen. (…) weshalb alles verwirrend vierfach erzählen, wenn sich die Perspektiven nur minimal voneinander abheben, lediglich hier und da noch etwas ergänzt wird?" Ansonsten aber ist Quilitzsch durchaus angetan: "Trotz der genannten Einwände: Lange ist kein Goethe-Text so frisch und streitbar auf die Weimarer Bühne gebracht worden. Der Schluss markiert nicht nur das Scheitern einer Partner-Utopie, sondern auch die wachsende Entfremdung in einer immer stärker auf Technisierung und Rationalität ausgerichteten Gesellschaft."

Gleich drei Kardinalfehler der Stoff-Bearbeitung macht Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung (9.3.2011) aus: Erstens habe Claudia Meyer die lineare Abfolge der Erzählung durchbrochen "und ersetzte Goethes Grundmuster des Experiments durch das Muster der Ermittlung, den Krimi also". Zweitens wurde "die Nebenfigur des Mittler, der überall Frieden stiften will – eines Wesens der Synthese –, in einen Er-Mittler umgewandelt – ein Wesen der Analyse". Und drittens "hat sich die Inszenierung gegen das Kostüm der Entstehungszeit um 1810 und für die Tracht einer unbestimmt nahen Zukunft entschlossen. Aber das Kostüm der 'Wahlverwandtschaften' bedeutet weit mehr als zufällige Maskerade; in ihm bildet und bindet sich jene Grazie des Sozialen, die man Goethes eigentliche Protagonistin nennen darf." Nach so viel Schelte gibt's aber auch Lob, für die Schauspieler, die einen "Kampf bergauf" zu bestehen hätten, aber auch für dramaturgische Einfälle: "dass Ottilie, die sich bei Goethe, bühnenunwirksam, zu Tode hungert, stattdessen ertrinkt; dass das Feuerwerk zu ihrem Geburtstag durch eine einzelne Wunderkerze vertreten wird, die auf einem kleinen Drachenboot schwimmt – da kann man lernen, was ein Requisit ist!"

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