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Tragödie der Anpassung

von Marcus Hladek

Darmstadt, 5. März 2011. Darmstadts Hessische Staatsbühne reflektiert in dieser Inszenierung bewusst sein Verhältnis zum Dramatiker Paul Kornfeld. Anderswo ist der Stoff des Justizmords von 1738 nur ein heikler Fall, weil Veit Harlans NS-Propagandafilm von 1940 wie ein Alb auf der Stofftradition lastet, die nach Wilhelm Hauff (1827) und Lion Feuchtwanger (1925) zu Kornfelds Tragödie von 1930 führte. Darmstadt ehrt mit der Inszenierung, die alle Tugenden handwerklich soliden Theaters vereint und übersteigt, hingegen auch einen Kollegen. Kornfeld arbeitete 1927-28 als Dramaturg am Hause. 1942 kam er im Ghetto Łódź um. Erst 1987 tauchte sein verschollenes Stück wieder auf wie eine Flaschenpost.

Die einzige Anspielung auf all dies erlaubt sich die Regie Herrmann Scheins in den letzten Sekunden ihrer drei Stunden. Da leuchten über dem zum Gericht auf Burgzinnen gewordenen Himmel über einem Fachwerk-Stuttgart kurz gelbe Judensterne auf. Ein Jude habe für Christenschelme büßen müssen, kommentierten Zeitgenossen 1738 die Hinrichtung des Josef Süss Oppenheimer, der als Finanzberater des Herzogs von Württemberg dessen Auspressungspolitik betrieb und viel Unmut auf sich zog, der im Grunde dem Fürsten galt.

Dynamische Raumsymbolik

Von der Erlösungseuphorie der expressionistischen Anfänge Kornfelds scheint in "Jud Süss" nicht viel durch. Stefan Heyne stattet das Halbrund der Bühne mit nach oben verjüngten, hölzernen Kassettenwänden und Wappen als repräsentativen Raum der Macht aus. Statt absolutistischer Pracht, die der Herzog später anstrebt, strahlt es allerdings die provinzielle Behaglichkeit einer Nähe von Herrscher und Untertanen aus. Blaue Sessel im Rund dienen dem Fürsten, dem Kabinett, den Beratern und Parlamentären der Stände.

Von der Stadt sieht man anfangs nur einen kleinen Ausschnitt, doch hebt sich die Wand dann unmerklich. Zunächst wird eine Häuser- und Ladenfront, dann die räumlich wirkenden Häuser sichtbar. Erst der Gerichtsepilog nach dem Tod des Herzogs, der einem fehlgegangenen Attentat auf Oppenheimer entspringt, zeigt die Szenerie in ihrer Zuspitzung auf den Justizmord.

Immer lauert auch etwas Bedrohliches

Was Scheins Regie neben dieser dynamischen Raumsymbolik auszeichnet, ist eine exzellente Schauspielerführung. Heynes Kostüme setzen die Mächtigen in zeitlose schwarze Anzüge, in der ausgedehnten Festszene zur Hauseinweihung Oppenheimers in Fräcke, die Damen in bunte Abendkleider. Oppenheimer legt seine Kippa und den Hauch von Judenkaftan vom ersten Auftreten mit der Assimilierung ab und ist während des Fests nicht mehr zu unterscheiden. Schläfenlocken und jüdische Gewänder trägt nur sein Onkel Fränkel, dessen mahnende Rolle er zwei Mal zurückweist ("Sprich deutsch!"). Erst vor der Anklage stimmt er in dessen klagendes "Shma Israel!", das jüdische Glaubensbekenntnis "Höre Israel!" ein.

Andreas Manz gibt Jud Süss einen Stolz auf den Gebrauch seines Kopfes mit, der in aller Unschuld kulminiert, wenn er im Triumph "We are the champions" singt. Wie souverän Manz seinen Süss die Normalität erobern läßt, die ihm unter den Damen die Teilhabe am galanten Leben seines Fürstenfreundes erlaubt ("Ist das alles süß!"), begründet seine gleichzeitig Tragik und Tragödie dieser Figur.

Jesuitische Anmutung

Matthias Kleinert ist ihm als Herzog, der noch der Live-Musik vom Cembalo befiehlt ("Maestro: spielen!"), ein starkes Gegenüber in seiner körperlichen Art, wie er nach der anfänglichen Verwunderung über sein "erstes Exemplar" eines Juden seine wachsende Freundschaft ausspielt. Herrlich, wie ausgelassen sich die Zwei über die Bühne jagen, wie Kleinert Manz schubst und stößt, ihn gutmütig verspottet und ihm auf skurrile Art seine Lebenslust aufdrängt, um zuletzt beim Frauentausch am vermeintlichen Potenzmittel zu sterben. Immer lauert auch etwas Bedrohliches darin.

Remchingen, der Oppenheimer als "seinen" Juden an den Hof holte, ist in Uwe Zerwers Verkörperung ganz graue Eminenz, die lauernd zu schweigen weiß, bis sein Ehrgeiz sich Oppenheimer geschlagen gibt. Seine jesuitische Anmutung (das mit den Katholiken steht bei Kornfeld etwas auf dem Kopf), die betend gefalteten Hände und kurzen Haare über der kleinen Brille machen den Verschwörer aus, wie sie auch zur späten Reue passen, aus der er, in einer Art Zeitschleife, den General (Andreas Vögler) noch vom Mordplan abzubringen sucht. Lebendig und bereichernd auch die Darstellung der Herzogin (Christina Kühnreich), die mit Oppenheimer eine Szene nach dem Modell der Lady Milford in Schillers "Kabale" teilt, und, kürzer, jene der Prinzessin (Dagmar Poppy).

 

Jud Süss
Tragödie von Paul Kornfeld
Regie: Hermann Schein, Bühne und Kostüme: Stefan Heyne, Musik: Michael Erhard, Dramaturgie: Martin Apelt.
Mit: Matthias Kleinert, Christina Kühnreich, Uwe Zerwer, Andreas Vögler, Andreas Manz, Thomas Cermak, Tom Wild, Dagmar Poppy, Klaus Ziemann, Sonja Mustoff, Maika Troscheit, Achim Barrenstein, Aart Veder.

www.staatstheater-darmstadt.de


Die Tragödie Jud Süss von Paul Kornfeld wurde 1930 von Leopold Jessner im Berliner Theater am Schiffbauerdamm uraufgeführt. Der 1889 in Prag geborene Kornfeld war, bevor er ans Darmstädter Theater wechselte, Dramaturg an Max Reinhards Deutschem Theater.

Alles über den Regisseur Hermann Schein auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

Anders als Lion Feuchtwanger in seinem Roman sei es Paul Kornfeld "nicht um eine späte Rückkehr zu den Wurzeln zu tun, sondern um die ungeschönte Darstellung einer Gesellschaft, in der der Jude es unsinnig schwer hat", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (7.3.2011). In Darmstadt gestalte sich Kornfelds Tragödie "als üppiges Panoptikum und konzentriertes Kammerspiel". Andreas Manz als Oppenheimer und Matthias Kleinert als Herzog zeigten einen "darstellerisch beeindruckenden Pas de deux". Dafür sorge Regisseur Hermann Schein "mit einer intensiven, aber nicht aufdringlichen Personenführung".

Ein schwerwiegender Grund dafür, dass Paul Kornfelds Stück vergessen sei, sei "der viel zu weitschweifige Text selbst, der kaum einen historisch authentischen Ton findet und im Erklärenwollen stärker ist als im Talent zur dramatischen Formulierung", meint Johannes Breckner im Darmstädter Echo (7.3.2011). "Am Darmstädter Staatstheater wird trotzdem ein überzeugender und über weite Strecken sogar spannender Abend daraus. Der Regisseur Hermann Schein widersteht der Versuchung, die Geschichte von ihrem ungeschriebenen Ende her zu erzählen. Er überfrachtet das Stück nicht und erzählt es doch nicht unbefangen." Die Inszenierung schaffe "das Kunststück der dramatischen Konzentration, die der Autor dem Stoff schuldig geblieben war." Sie gebe "eine Lektion von zeitloser Deutlichkeit, die hier griffig formuliert wird. Deshalb eine Kornfeld-Renaissance auszurufen, wäre freilich übertrieben."

Hermann Schein habe "gut daran getan, das 140 engbedruckte Seiten umfassende Stück kräftig zu kürzen und vor allem die Massenszenen wegzulassen", schreibt Eva Maria Magel in der Rhein-Main-Zeitung der Frankfurter Allgemeinen (7.3.2011). "Er konzentriert sich auf die Figuren, die das Ensemble souverän entwickelt. So werden die Motive sichtbar, zumal in den raschen, schillernden Dialogen". Über drei Stunden könne allerdings nicht ganz verborgen werden, "dass das Stück, zumal in der zweiten Hälfte, noch Längen hat. Eine Entdeckung aber ist Kornfelds 'Jud Süss' in der Darmstädter Inszenierung durchaus, vor allem von den männlichen Darstellern auf Hochglanz poliert".

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