alt

Sprung ins tiefe blaue Nass

von Marcus Hladek

Frankfurt am Main, 10. März 2011. Mit der täuschend echten Videoansicht eines Sportschwimmbeckens auf der Spielfläche und Kathleen Morgeneyer mitten darin beginnt es. Fast meint man den Chlorgeruch wahrzunehmen und wähnt die schmächtige Darstellerin, in schwarzer Cargohose und Pulli, im Lichtspot auf dem bläulichen Wasser stehend. Den Ausklang des Abends achtzig Minuten später begleitet dann im Off ein choralartiger Frauenchor, in den Morgeneyer, streng nach Partitur, mit der Bewegung je eines Fingers ihres Datenhandschuhs Geräusche einfügt, die sie zuvor eingesampelt hat. Zuletzt, als Coda, spricht sie lateinische Liturgiefetzen von Auferstehung und Ewigkeit.

So nüchtern und weihevoll, so physisch-metaphysisch sind die Extreme beschaffen, zwischen denen sich die neue Produktion von Stefanie Lorey und Bjoern Auftrag bewegt. Ihr Thema: das Nichts – als energieerfülltes Vakuum und als Dunkel des Todes.

253 Bühnentode und ein Datenhandschuh

Auftrag: Lorey haben die "atw"-Schule des Gießener Uni-Instituts für angewandte Theaterwissenschaft durchlaufen. Beide stehen dramatischen Strukturen eher distanziert gegenüber. Und doch wären die Dichte und Intensität, wenn schon nicht die starken, schlichten Bilder von "Horror Vacui", ohne die dramatisch klare Struktur des Projekts (und die kulinarische Komponente der Musik) kaum vorstellbar.

Dem technisch süßen Schwimmbad-Prolog folgend, ersteigt Morgeneyer eine steile Aluminiumleiter am Rand des projizierten Beckens und lässt sich von da ins "Nichts" fallen. Ein jäher Lichtwechsel im Moment des Falls erweist diesen als gut abgepolstert, das Schwimmbad endgültig als Illusion auf dem Kunststoffboden im großflächigen Rechteck. Da Morgeneyer bei Auftrag:Lorey natürlich keine fiktionale Rolle spielt, stellt sie sich nun, mitsamt Konfektionsgröße (34/36) und besonderen Fähigkeiten (Akrobatik, Taichi), persönlich vor. Und doch ist Fiktion nie ganz entschwunden. Ihre Lebensskizze führt ja zur Erwähnung der 253 Bühnentode, die sie bislang gestorben sei, verschmilzt also schnurstracks mit der Thematik.

horrorvacui_birgit_hupfeld
Kathleen Morgeneyer im Bockenheimer Depot
© Birgit Hupfeld

Geräuschbeseelung der Dinge

Im Fortgang des Stücks sampelt Morgeneyer mit Dingen aus einer weißen, leicht sargähnlichen Kiste (einem dicken Seil, einer Orange, einer knisternden Tüte Nudeln) zunächst Geräusche ein. Es folgt ein erster Katalog von Bühnentoden, sortiert, kommentiert und vorgeführt gemäß den suizidalen Methoden. Auch Anekdoten trägt sie vor, etwa aus Japan mit seiner Wertschätzung schöner Selbstmorde, zudem philosophische Marginalien: "In Frankfurt bieten sich Hochhäuser an... Man springt ins Unfertige, sozusagen ins Werden, das ist wie bei Heidegger... Der Sprung auf die Zeil wäre die konsumkritische Variante."

Wenn Morgeneyer physikalische Berechnungen zum Selbstmord durch Sturz hinzufügt, hat das kruden philosophischen Charakter, vielleicht, weil Physik und Naturwissenschaften philosophisch ja oft anregender sind als eine Philosophie, die sich auf Rhetorik und Jargon verengt. Gegen Schluss führt sie ihre Fähigkeit vor, willentlich ihren (ans Licht gekoppelten) Herzschlag zu lenken, und beginnt zu Videoprojektionen von Gesichtern Anekdoten vorzutragen. Während die Glastüren uns die Sicht vors Gebäude eröffnen, wo Statisten starr ausharren wie Jenseitsschatten, lässt Morgeneyer einen zweiten Katalog berühmter Bühnentode folgen. Ausklang wie oben.

Präsenz der Kathleen Morgeneyer

Auftrag: Lorey ergehen sich beim Heraufbeschwören immer neuer Figurenstimmen wie "Flatliners" im Unheimlichen zwischen Leben und Tod, Sein und Nichts. Ähnlich wie "Rimini Protokoll" gestalten sie ein Thementheater von diskursiven Zügen bei narrativer Grundstruktur. Kathleen Morgeneyer rückt in die Position der Priesterin eines Bühnenrituals, sofern sie nicht just die akustische Version eines Feuertodes durchspielt.

Sie, die oft auf hypersensible, elfenhaft verstörte Rollen festgelegt wird, behauptet sich (um das Physik-Paradigma zu strapazieren) wie in einem Doppelspaltexperiment als Person und Figur, Welle und Korpuskel, das heißt sie treibt die Stimmen dramatischer Literatur im non-dramatischen Vakuum zur Erscheinung wie virtuelle Teilchen von ultrakurzer Lebenszeit. Es sind kalte Tiraden von neusachlicher Zurückgenommenheit: eher angerissen als ausgespielt, wie es dem Projekt frommt. Wenn sie starr dasteht und den ganzen Ausdruck in die Mimik legt oder sich mit ironischer Kumpanei in den Modus der Anrede zurückzieht und sich doch als absolute Trägerin dieser Theaterform behauptet, zweifelt man keinen Augenblick, wie sehr ihre Präsenz "Horror Vacui" zugute kommt.


Horror Vacui
von Auftrag: Lorey
Konzept/Regie: Stefanie Lorey, Bjoern Auftrag, Bühne/Video: Marc Jungreithmeier, Kostüme: Lene Schwind, Licht: Alexander Kirpacz, Marc Jungreithmeier, Ton: Bjoern Auftrag, Joachim Schröder, Dramaturgie: Alexandra Althoff.
Mit: Kathleen Morgeneyer.

www.schauspielfrankfurt.de

Mehr zu Auftrag: Lorey im Lexikon. Hier besprochen wurde auch das Projekt Goethes Wunderkammer, im August 2008 zur Saisoneröffnung am Schauspiel Frankfurt entstanden.

 

Kritikenrundschau

Für Peter Michalzik von der Frankfurter Rundschau (12.3.2011) hat das Regie-Duo Björn Auftrag und Stephanie Lorey mit "Horror Vacui" eindrucksvoll bewiesen, "dass sie Spezialisten für den anderen Zustand sind". Ihr Abend über das Sterben steuere "direkt und schnörkellos auf die Essenz des Dramatischen zu". Für Michalzik ist es auch eine befreiende Idee, die Schauspielerin Kathleen Morgeneyer in ein starres Regie-Korsett zu stecken. "Nachdem sie vor ein paar Jahren die Nina in Jürgen Goschs Möwe umwerfend wie das Opfer an sich selbst eines Wesens aus einer anderen Welt gespielt hatte, wollten alle das wieder und wieder von ihr sehen, auch am Schauspiel Frankfurt." Das aber sei eine Falle, "in der Morgeneyer gnadenlos sich selbst ausgeliefert werde, in der Hoffnung auf eine große Emotion." Die Mischung aus serieller Narrationsstruktur und medial-technischer Situation, in die "Auftrag: Lorey" sie jetzt gesteckt hätten, sei dagegen ganz anders. "Sie ist trocken, blank und klar. So kann man wieder erleben, was für eine wesenhafte Schauspielerin Morgeneyer doch ist. Mit welchem nüchternen, quasi nackten Mut sie in jede Situation, auch den Tod hineingeht. Wie gut tut es dieser Schauspielerin, wenn sie eine strenge Form hat!"

Mit trockener Lust erzähle Kathleen Morgeneyer von ihren Bühnentoden, schreibt Esther Boldt in der tageszeitung (15.3.2011). Minutiös schildere sie "das Zersplittern des Körpers beim Aufprall und stellt dem Vorstellungsvermögen des Zuschauers ihren eigenen Leib zur Verfügung – für einen höchst brutalen, imaginären Zerstörungsakt der splitternden Knochen und durchbohrten Organe. In dieser Versuchsanordnung des Undarstellbaren spielt sie weniger, als dass sie handelt – blank und bedingungslos." Auch sonst könne man die zerbrechlich wirkende, bedingungslos spielende Schauspielerin hier neu entdecken: "In improvisierten Szenen kann man ihr beim hellwachen Denken zuschauen: Etwa wenn eine Infrarotkamera Gesichter einzelner Zuschauer erfasst und Morgeneyer anhand dieser Gesichter persönliche Erinnerungen wachruft - an die Schrebergartennachbarin oder den E-Gitarren-Lehrer. Das Hier und Jetzt wird zum Erinnerungsmoment, das Publikum spornstreichs eingemeindet in ihre Geschichte."

Kommentar schreiben