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Sterne der Erinnerung

von Esther Slevogt

Berlin, 12. März 2011. Beim Ankommen im Theatersaal laufen über einen kleinen Fernseher auf der Bühne Bilder der Ereignisse, die einen im Augenblick deutlich mehr beschäftigen als eine Reise, die die Schriftstellerin Christa Wolf vor vierzig Jahren mit ihrer Familie in ihre Geburtsstadt unternahm: Bilder von der verheerenden Katastrophe in Japan, eine sie einrahmende Nachrichtensendung. Später werden es Bilder alberner Showsendungen aus den Siebziger Jahren sein, mit denen in diesem Theaterabend der vage Versuch unternommen wird, Zeit- und Reflexionsebenen zu vermischen, Vergangenheit und Gegenwart einander durchdringen zu lassen, um sich der Fragestellung Christa Wolfs anzunähern, die sie in ihrem berühmten Roman von 1976 "Kindheitsmuster" zu untersuchen unternahm: Wie sind wir die geworden, die wir sind?

Was im Fall der 1929 geborenen Wolf auch eine Auseinandersetzung mit dem im Nationalsozialismus aufgewachsenen Kind bedeutete, das sie einmal gewesen ist. Und damit der ungemütlichen Frage: Inwiefern hat der Nationalsozialismus die eigene Persönlichkeit geformt? Das war damals in der DDR, wo die Nazis immer die anderen waren, man selbst sich auf der Seite der Guten wähnte und so tat, als hätte man mit dem Deutschland zwischen 1933 und 1945 nichts zu tun, ein mutiger Ansatz.

Das Totalitäre, das Böse, die Angst

So treten, kurz nach dem das Licht (und auch die Nachrichtensendung) mit einsetzender Primetime, also um 20.15 Uhr, im Studio des Maxim Gorki Theaters erloschen ist, die Schauspieler Ruth Reinecke, Ninja Stangenberg und Gunnar Teuber auf. Vorne an der Rampe sagen sie den Text aus der Romanexposition, der in die Geschichte einführt: wie eine Frau mit ihrem Bruder und ihrer 15jährigen Tochter eines Tages mit dem Auto aufbricht, um in die Stadt ihrer Kindheit zu fahren, die nun auf polnischem Staatsgebiet liegt. In der Inszenierung des dreißigjährigen Regisseurs Johann Kuithan werden die drei Schauspieler im Laufe der nächsten 100 Minuten immer wieder in die verschiedensten Rollen schlüpfen – gemäß dem elliptischen Erzählprinzip des Romans dabei zwischen den 1970er und den 1930er und -40er Jahren hin- und herswitchen.

In einem Kasten mit Panoramafenster an der Bühnenhinterseite gibt es Bilder der kleinen Stadt, aber auch stumme wilde Szenen, die das auf der Bühne Erzählte ins szenisch Skizzierte grell übersteigern: der Selbstmord eines Lehrers und seiner Gefährtin, ein Disco-Ausflug der Tochter, Schwester und Bruder, die verträumt das Dach ihres einstigen Elternhauses erklimmen und nach den Sternen ihrer Erinnerungen zu greifen versuchen. In ganz bösen Momenten der Erzählung werden schwarz-weiße Videobilder einer riesigen Blindschleiche auf den Kasten projeziert: als Bild für die Versuchungen des Totalitären, das Böse, die Angst.

Merkwürdig entrückte Nazizeit

Ninja Stangenberg ist mal die trotzig-verträumte Tochter der Erzählerin, dann wieder die Erzählerin als Kind; Ruth Reinecke die abgeklärte Mutter, deren lakonischer Pragmatismus immer wieder von melancholischen Reflexionsschatten verdüstert wird. Gunnar Teuber ist Vater, Bruder und multiples Nazi-Männerabziehbild. Dabei greift er einmal zu einem Hitlerbild an der Wand, wo unter der Nase des Führers ein echtes Bärtchen klebt und pappt es sich selber an. Im Schnelldurchlauf fahren durch seinen Körper allerlei mediale Hitlerklischees, die vom Hitler der letzten Tage mit Parkinson-zitternder Hand im Führerbunker bis zu einem kurzen Chaplin-Zitat aus "Der große Diktator" reichen. Später ist dann auf der Rückseite des Hitlerbildes Genosse Stalin zu sehen, der nach 1945 die emotionale Leerestelle füllt, die Hitlers Tod 1945 hinterlassen hat. Ein Grab für Stalin gibt es auch.

Allerdings wagt sich die Inszenierung nicht wirklich an tiefere Fragen über die Verdrängungszusammenhänge der Diktaturen. Spannend wäre in diesem Kontext gewesen, den Ansatz von Christa Wolfs "Kindheitsmuster" mit dem ihres letzten Buches "Stadt der Engel" zu konfrontieren, wo Wolf noch mal nach der DDR in sich selbst und der Legitimation dieses untergegangenen Staates fragt. So, wie sie in "Kindheitsmuster" die Muster der Verdrängung freizulegen versucht und ihre Finger in viele offene Wunden des notdürftig konstruierten DDR-Selbstbildes legte, läuft Wolf in ihrem letzten Buch vor einer Dekonstruktion dieses Selbstbildes davon.

Doch wagt der Abend keinen Blick über den Rand seines leicht verblichenen Stoffes hinaus und dreht sich am Ende immer leerlaufender um eine merkwürdig entrückte Nazizeit und die Frage, warum man sich damit eigentlich immer noch beschäftigen muss. Plausible Antworten gibt es keine.


Kindheitsmuster
nach dem Roman von Christa Wolf
Für die Bühne bearbeitet von Johann Kuithan und Barbara Falter
Regie: Johann Kuithan, Ausstattung: Karla Fehlenberg, Video: Mareike Trillhaas, Dramaturgie: Barbara Falter.
Mit: Ruth Reinecke, Ninja Stangenberg, Gunnar Teuber.

www.gorki.de

Kritikenrundschau

"Gedächtnisarbeit ist Schwerstarbeit", schreibt Doris Meierhenrich für die Berliner Zeitung (14.3.2011), und diese Arbeit habe Christa Wolf mit ihrem Roman "Kindheitsmuster" in der Hinwendung an die NS-Vergangenheit, durch "eine unerbittliche Selbstprüfung des eigenen Denkens und Schreibens" geleistet. Doch: "Wo setzte man heute an?" So "ehrenwert es von dem jungen Regisseur Johann Kuithan ist, mit seiner Bühnenfassung den Roman aus dem Vergessen zu reißen", so deutlich werde schon beim Einlass, "dass die essenzielle, analytische Denkbewegung der Vorlage, ihre immer auch gegenwärtig zu haltende Konsequenz unterwegs verloren gegangen ist." Kuithan begreife "sein Regiehandwerk so bunt und breit wie möglich", das heißt alles "ist hier samt cooler Soundtrack-Rahmung vor allem in gefällige, aktuellen Regiemoden frönende Bilder illustriert". Das lasse diesen "munteren Bühnengang" entsprechend "zu bequem" ausfallen.

Reinhard Wengierek findet den Roman in der Welt (15.3.2011) nicht ideal für eine Bühnenfassung. "Und überhaupt nicht ideal für einen Anfänger-Regisseur, der seine Laufbahn besser mit einem soliden Drama hätte beginnen sollen statt mit einem essayistischen Denkstück. Ausgerechnet daran allerdings demonstriert Johann Kuithan als Regisseur seine von Ehrgeiz gepeitschte Phantasie. Und die nun jagt im Wahn theatralischer Total-Verkunstung drei Darsteller durch einen Wust von Episoden in eine performative Materialschlacht hinein. In einen Aktionismus, der dann am Ende alle Inhalte überschwemmt hat."

Kommentare  
Kindheitsmuster, Berlin: Wie überlebt man in einer Diktatur?
@ Esther Slevogt
Wovor soll bitte Christa Wolf davongelaufen sein? Eine Schriftstellerin die sich völlig nackt macht, was Ihre Person, Gedanken und Gefühle betrifft, läuft doch nicht davon. Das sich bestimmte Sachen in der Vergangenheit bisweilen etwas verklären, sollte doch wohl jedem schon irgendwie aufgefallen sein. Und bedarf es denn tatsächlich der ständigen Selbstkasteiung, um sich von seiner Vergangenheit befreien zu können? Man kann nicht für alles eine Antwort haben, aber der Versuch nach der Wahrheit zu suchen, auch wenn es schmerzt, das können Sie aus der Lebensbeichte Christa Wolfs mehr als deutliche vernehmen. „Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht?“ So schließt Christa Wolf in Stadt der Engel, woher sie kommt, das kann man in ihren Werken lesen. Und Frau Slevogt, das mit den Fragen an die Diktatur, auch die kommunistische, können Sie schon in „Kindheitsmuster“ erkennen. Wie überlebt man in einer Diktatur, wenn man nicht unbedingt mitmachen will? „Und das scheint uns leicht zufallen. Überhören, übersehen, vernachlässigen, verleugnen, verlernen, verschwitzen, vergessen". Das scheint das Kindheitsmuster der ganzen Nachkriegs-Generation zu sein, das sich auch weiterhin vererbt hat und das nicht nur im Osten.
„Der rasende blanke Schmerz hatte von mir Besitz ergriffen, sich in mir eingenistet und ein anderes Wesen aus mir gemacht.“ Christa Wolf aus „Was bleibt“
Kindheitsmuster, Berlin: worum es vielleicht gar nicht ging
Sowohl die Rezension von Frau Slevogt wie auch die anderen Rezensenten scheinen mir einen wichtigen Punkt zu übersehen: Dass ein junger Regisseur sich seine Inszenierungen aussucht, schon gar nicht, wenn er am gleichen Haus als Regieassitent ist. Die Wahl des Stoffes kann man dem Regisseur wohl also nur schwerlich vorwerfen.
Auch der Vorschlag, dies mit einem weiteren Christa-Wolf-Buch zu kombinieren, scheint mir sehr gewagt, denn dann hätte man noch mehr Stoff in einen kurzen Abend packen müssen und es wäre vielleicht noch assoziativer geworden.
Am schlimmsten jedoch finde ich, dass das große Gedankengebäude von Christa Wolf bei allen drei Rezensenten vermisst wird. Vielleicht ging es der Inszenierung ja gar nicht darum, die Zwänge und Einflüsse von Diktaturen abzubilden, sondern den Umgang, den Christa Wolf literarisch mit "Erinnerung" pflegt. Die vielen überlappenden Geschichten, Schnipsel, Fetzen und subjektiven Erinnerungsbilder in eine Form zu bringen, aus der doch keine richtige Form wird. Das, finde ich, hat die Inszenierung von Johann Kuithan absolut geleistet, denn sie verwandelt diese Erinnerungen und Schnipsel in assoziative Bilder und drückt damit theaterformal den Vorgang der Verknüpfung und Assoziierung aus, den Wolf literarisch-formal ausdrückt.
Vielleicht würde es helfen, nicht gleich jedes Bild als postdramatischen Inszenierungsquatsch abzulehnen, sondern sich zu überlegen, wieviel mit dem Bild des Astronauten (gerade mit diesem Bild!) gesagt wird...
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