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Verfluchte Liebe

von Petra Hallmayer

München, 12. März 2011. In leer gähnenden Türstöcken türmt sich der Sand, in dem ein gelber Kindereimer und eine Schaufel stecken. Neben einer auf dem Boden liegenden neuen Treppe ragt ein schräges Gerüst auf. Die Bühne ist eine Baustelle. Einen Übergangsraum zwischen Ab- und Aufbruch hat André Joosten in der Spielhalle der Kammerspiele eingerichtet, wo Marguerite Duras' "Agatha" Premiere feierte, die Geschichte der Liebe zwischen einem Bruder und seiner jüngeren Schwester, die sich in der verfallenen Villa ihrer Kindheit treffen und für immer voneinander Abschied nehmen.

Wie so viele der Texte der französischen Autorin ist auch dieser autobiographisch gefärbt. Verrückt vor Schmerz soll Marguerite Duras ihren Kopf gegen die Wand geschlagen haben, als sie 1943 die Nachricht vom Tod ihres Bruders Paul erhielt. Literarisch verarbeitet hat sie die Beziehung zu ihm erst im Alter, in der Zeit ihrer letzten, langen, unmöglichen Liebe zu Yann Andréa, der die Körper junger Männer dem ihren vorzog. In dem 1981 entstandenen und von ihr verfilmten Drehbuch "Agatha" beschwören zwei Geschwister ihre unerfüllbare Passion. Eine Liebe, die, wie Duras erklärte, "nie enden wird, die keine Lösung erfährt, die nicht gelebt wird, die unlebbar ist, die verflucht ist und die sich im Schutz des Fluches hält. Es ist eine Art tragisches Spiel, von dem ich sage, es ist das Glück."

Hüpfen über Himmel und Hölle

Auf den pathetisch hohen Ton, den der Text anschlägt, der auf das Inzestpaar in Musils "Der Mann ohne Eigenschaften" verweist und zwischen Schmerzensarie und weihrauchüberhauchter Hymne mäandert, lässt sich Julie Van den Berghe nicht ein. Ihre Inszenierung beginnt ohne Worte, mit einer Folge stummer Szenen. Eine Säge bricht durch eine Sperrholzwand, öffnet ein Loch, durch das Agatha hereinklettert, die entschlossen ist, sich von ihrem (namenlosen) Bruder zu trennen, um das Refugium der Erinnerung, das Band zwischen ihnen vor der Zerstörung zu bewahren. Sie wechselt die Kleider, zieht einen Schlüpfer über ihren Slip, hüpft wie ein kleines Mädchen durch imaginäre Himmel- und Hölle-Kästchen und legt irgendwann eine Kassette ein. Die Dialoge der Geschwister sind zunächst nur passagenweise vom Band zu hören.

Die 1981 in Gent geborene Regisseurin entfaltet ein Geflecht aus pantomimischen Aktionen und jazziger Live-Musik und beweist dabei ein feines Gespür für die Choreografie von Bewegungen und die Komposition symbolischer Bilder. Nur leider überstrapaziert sie einige davon grausam. Da wird geschraubt und gebastelt, scheinbar endlos jagen sich die beiden über die Bühne, einander suchend und fliehend, sie schaukeln, balancieren über die herumliegenden Holzbalken, verfangen sich in Spielereien, die in Wiederholungsschleifen kreisen. Die Differenz zwischen Bühnenaktionen und zeitgleich vom Band ertönenden Gesprächen zerstreut zudem immer wieder die Konzentration. Selbst wenn man Duras' Text kennt, erhascht man oft nur einzelne Sätze.

Im Reich verwirrender Gefühle

Doch gerade als man beginnt, auf die Uhr zu schielen, gewinnt die Inszenierung plötzlich an Dichte und emotionaler Kraft. Sensibel und frei von aller Peinlichkeit führt Julie Van den Berghe das Hinübergleiten von kindlichem Sichanschmiegen in Sexualität vor, öffnet ein Reich der verwirrenden Gefühle abseits unserer dogmatischen Missbrauchsschablonen. In einer der schönsten Szenen wiegt der Bruder seine bis auf den weißen Schlüpfer und ihre Knieschoner nackte Schwester sanft in einem aufrecht gekippten Badezuber. Embryogleich eingerollt hält sie still, schielt nach seinen Händen auf dem Rand der Wanne. Wie sich in ihrem Gesicht Verstörung und angstvolle Sehnsucht spiegeln, sich in wenigen zarten Momenten Unschuld, Begehren und Erschrecken paaren, das ist wunderbar.

Stefan Merki und Katja Bürkle gelingt es das Changieren zwischen Verführung, Hingabe, Abwehr, Schmerz und Aggression überzeugend auszuspielen und dabei die Behauptung einer großen unverbrüchlichen Liebe ohne zuckrige Sentimentalität aufrecht zu erhalten. Tastend stimmen sie ein Lied an, tanzen noch einmal eng umschlungen zu Gilbert Bécauds "Je reviens te chercher", ehe das wiederbeschworene Glück eines Sommers sich endgültig als nie mehr wiederholbar erweist. Am Ende basteln sie gemeinsam ein Papierschiffchen, das sie in einen klaffenden Spalt im Bühnenboden wirft und er im Fallen vergebens zu fangen versucht. So wird aus einer Aufführung, die mit quälenden Längen begann, schließlich doch noch ein starker Theaterabend.

 

Agatha
von Marguerite Duras
Deutsch von Simon Werle
Regie: Julie Van den Berghe, Bühne: André Joosten, Kostüme: Greta Goiris, Musik: Ulrich Wangenheim, Harpo 't Hart, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Katja Bürkle, Stefan Merki.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr Inszenierungen mit Katja Bürkle? Nachdem die 1978 geborene Schauspielerin 2008 vom Schauspiel Stuttgart ins Ensemble der Münchner Kammerspiele wechselte, war sie dort in der Jelinek-UA Rechnitz (Der Würgeengel) von Jossi Wieler zu sehen, der sie auch in Stefan Zweigs Seelenpein-Novelle Angst inszenierte. Schon aus Stuttgart Pollesch-erfahren, spielte in den beiden Pollesch-Abenden Ping Pong D'Amour und XY Beat sowie in Lola Arias dokumentarischem Abend Familienbande. Außerdem war sie in Sebastian Nüblings Endstation Sehnsucht-Inszenierung die Stella, in Karin Henkels Doppelabend Sommergäste/Nachtasyl eine zornig-verzweifelte Warwara.

 

Kritikenrundschau

Erst nach 22 Minuten falle in dieser Inszenierung der erste Satz, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (14.3.2011). Und der komme auch noch vom Band. "Für einen Moment ist man sich nicht sicher, ob man überhaupt eine Sprache bräuchte in dieser Aufführung. Weil alles, was hier gesagt wird, nur ein Herantasten an die Erinnerung ist, an die eigenen Gefühle, an das, was nicht sein darf, aber doch so sehr danach drängt, Wirklichkeit zu werden." Das Motiv der Geschwisterliebe habe bei Duras vor allem die Funktion, "ein Verlangen aufzuzeigen, das nie zur Erfüllung gelangen kann". Julie van den Berghe verstärke "das Schwebende, Indirekte des Textes". So scheu Merki dabei "der Erotik gegenüber steht, so sehr ist diese mit Katja Bürkle präsent". Virtuos beherrsche diese "das Spiel von Annäherung und Distanz". Für den Kritiker ist das alles der "merkwürdig glitzernde, vollkommen jeder Realität enthobene Traum einer sanft schwebenden Aufführung".

"Der Applaus am Ende war tatsächlich heftig – aber wofür?", fragt sich hingegen Malve Gradinger im Münchner Merkur (14.3.2011). Ja, Katja Bürkle und Stefan Merki leisteten "harte physische Arbeit". Es gebe "Action ohne Ende, und nur in langen Abständen Dialog-Fetzen, und dann auch über die Weite der Halle geschrien". Die Regisseurin zerre das intime Seelengeflüster der Duras "in den banalen Sandkasten eines plakativen, eines falsch verstandenen Tanztheaters". Keine "Gefühls-Spannung", nicht einen "Hauch von Erotik" hat die Kritikerin "in diesem turnenden Körpertheater" gespürt. Die "Klavier-Saxophon-Jazzzimprovisationen (...), Bürkles nackter Busen, die lange, irgendwie unpassende Kussszene, das bleiben lediglich aufgesetzte Accessoires". Auch Stefan Merki habe man "mit dieser Rolle keinen Gefallen getan". Duras Sprache komme aus dem Kofferradio: (...) Worte, Sätze, musikalisch, sinnlich, die diese abgehoben intellektuell-emotionale Geschichte fühlbar machen. – Augen zu und sich aufs Mini-Hörspiel konzentrieren."

Gabriella Lorenz von der Abendzeitung (14.3.2011) war offen für die "flirrende Wehmuts-Stimmung, die allerdings erst im letzten Drittel überzeugt". Das Bühnenbild von André Joosten, diese "Ruinen-Baustelle" überzeugt sie hingegen von Anfang an. Van den Berghe kreiere "einen Schwebezustand zwischen Erinnerung und Heute", den die Jazzmusiker "live in Nostalgie einbetten". Die Texte kämen zunächst "wie von weither: Die Off-Stimmen (Hildegard Schmahl und Walter Hess) unterlaufen wie der Live-Ton der Schauspieler das elegische Schmerzpathos von Duras". Zu Beginn hersche jedoch "eine überlange Stunde nervtötender Aktionismus: Ständig rennen Bürkle und Merki hochleistungssportlich voreinander weg, erklettern Galerien, turnen irgendwo herum. Erst im letzen Drittel finden sich Bilder von poetischer Wucht." Die Regisseurin beweise "einen eigenwilligen Regie-Zugriff auf diese morbide Nabelschau". Und Stefan Merkis "selbstverständliche, nie auftrumpfende Präsenz fängt auch die anfänglichen Forciertheiten einer dann sehr starken Katja Bürkle auf".

"Dem autobiographisch gespickten Text, der eine Geschwisterbeziehung zwischen platonischer Liebe und erotischer Sehnsucht ambivalent in der Schwebe hält, traut die Regisseurin nicht", so Astrid Kaminski in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.3.2011), "sie lässt die Protagonisten eindeutig ihren Neigungen nachgehen." Dass Katja Bürkle und Stefan Merki auf "dieser auch im Bühnenbild angelegten Baustelle" gutwillig herumturnen, ehre sie. Andererseits würden sie ihr Niveau unterlaufen, "Professionalität kippt hier in Profillosigkeit. Da wird bei allen Regieplakatierungen freundlich mitgepappt: Infantiles Sandkastenspiel steht für Kindheitserinnerungen, heftiges Herumhecheln für Erregung, Nacktheit für Erotik."

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