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Es war einmal das erste Haus am Platz

von Andreas Schnell

Bremerhaven, 19. März 2011. Sie werden an eine Hotelzimmertür gebracht. Sie werden erwartet. Ein Mädchen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, öffnet die Tür, bittet Sie, Platz zu nehmen, und beginnt zu erzählen. Sie war einst die Disco-Queen, sogar in der Zeitung sei sie gewesen, man habe das doch sicherlich auch gelesen. Dann die Jahre in London, wie sie dann ihren Mann kennen gelernt habe... Ob sie wohl noch in ihre alten Ballerina-Outfits passen würde? Und jetzt wollen wir ein bisschen tanzen. Sie schaltet den archaischen Cassettenrecorder an und tanzt. Sie bittet ihren Gast, mitzutanzen. Dann aber verliert sie die Lust daran. Geht ans Fenster und versucht, den Vollmond zu sehen. Aber da ist nur die Fassade eines Elektronikkaufhauses. Bremerhaven sei aber schon eine tolle Stadt. Warum? "Die Aussicht – manchmal." Es klopft an der Tür, Zeit zu gehen, eine Karte müssen Sie noch ziehen, dann müssen Sie gehen. Die Karte weist den Weg zu einem weiteren Hotelzimmer, einer anderen Geschichte.

Geschichten aus tausendundeiner Hotelnacht

Lukas Matthaei hat für das Stadtheater Bremerhaven das Nordsee-Hotel erschlossen, das seit Jahren leersteht, in Bremerhaven als Hotel Naber aber immer noch legendären Ruf genießt. Hier stieg Herbert Wehner ab, Helmut Schmidt, Harald Schmidt. Und Howard Carpendale erschien noch spät am Abend in der Bar auf einen Absacker, im Bademantel. Geschichten, wie sie in Bremerhaven erzählt werden. Wie die von der Tänzerin, die hier hängen blieb und die Aussicht toll findet, manchmal. Oder der Geschäftsführer der Lloyd-Werft, der berichtet, wie sich das Schiffbaugewerbe verändert hat. Wie ihn in Hamburg niemand von seinen Kommilitonen verstand, als er nach Bremerhaven zog, seine Heimat. Dann weiter in das nächste Hotelzimmer, wo Sie zum Voyeur werden: Vom Badezimmer aus durch Schlitze in der Wand hören Sie, wie einem anderen Gast eine andere Geschichte erzählt wird.

Vielleicht die von dem Akkordeonspieler, der nach dem Krieg in den Kneipen Bremerhavens gutes Geld verdiente, neben den kleinen Deals mit den Zigaretten. "Damals waren ja die Amerikaner noch da." Heute wird er ab und an von dem "nationalen Denker" Siggi Tittmann angerufen. Der fragt, wie's ihm so geht. Manchmal wird er eingeladen, Musik zu machen bei den "Nationalen". Das mache er aber nur, erzählt der Mann, der die Geschichte erzählt, wenn er keine Nazilieder spielen muss. Und dann nimmt der Mann, der die Geschichte erzählt, mit dezentem türkischem Akzent, die Saz zur Hand und spielt darauf.

Doppelt geschichtsträchtiger Ort

Die Geschichte löst sich von ihrem Erzähler, kollidiert geradezu mit der Person, die wir vor uns sehen und dem, was wir von ihr zu ahnen meinen. In diesen surrealen Momente erweist sich das alte Hotel, das bald abgerissen wird, als doppelt geschichtsträchtiger Ort. Die Verschiebungen innerhalb der Szenerie verleihen den Geschichten, die so unbestimmt enden, wie sie beginnen eine Intimität, die vergessen macht, dass hier keine professionellen Schauspieler agieren, sondern Menschen wie jene, von denen die Geschichten stammen.

Weiter geht es für einen Teil der Gäste, ins Ungewisse, wie es heißt. Mit verbundenen Augen werden sie an Orte der Stadt gefahren, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, Kantinen für Hafenarbeiter, die Seemannsmission... Während in der alten Bar, im Ballsaal und in der Lobby gefeiert wird. Am Premierenabend spielt eine Jazzband, die schon vor 40 Jahren am selben Ort zum Abschlussball aufspielte, danach die Horror-Punk-Band Jamey Rottencorpse And The Rising Dead, mit phantastischem Make-up, kunstvoll aufgeschminkten Narben und viel Blut. Das Hotel Naber, ebenfalls längst geschlossen, ist für zehn Tage noch einmal erstes Haus am Platz. Für die ganze Stadt.

Man darf, nein: man muss Ulrich Mokrusch, dem neuen Intendanten des Stadttheaters Bremerhaven, und seinem Team gratulieren zu diesem Abend.

 

Verzögerte Heimkehr – Einige Reisen nach Eldorado
Matthaei & Konsorten mit Einwohnern Bremerhavens
Künstlerische Leitung: Jörg Lukas Matthaei, Ausstattung: Dorothea Ronneburg, Dramaturgie: Nathalie Driemeyer, Mit: Hans-Jürgen Bangert, Jacqueline Bloch, Irmelin Braungard, Saskia Coopmeiners, Peter Ehlers, Jochen Hertrampf, Felix Junghans, Lena Kück, Wolfgang Marten, Mandy Rauch, Carina Bäumer, Jessika Bloch, Ines Bruske, Haydar Dervis, Norbert Eiben, Kristina Hoyer, Timo Klinge, Aileen Lammel, Lara Masuch, Isabell Schneithorst, Hans-Jürgen Bersch, Marianka Böhlken, Filiz Can, Rolf Ebeling, Wienhardt Göhler, Cafer Isin, Jens Krüger, Jessica Lukas, Hans Morisse, Lisa Walther

www.stadttheater-bremerhaven.de



Kritikenrundschau

Anne Stürzer beschreibt in der Nordsee-Zeitung (21.3.2011) die Erlebnisse, die Matthaei & Konsorten dem Theater-Gast auf seiner Expedition in das ehemalige Nobelhotel Naber verschafften. Und sie berichtet, wie "den auf den Fluren dahinirrenden Gast eine leise Wehmut" beschleiche "und dieses 'Es war einmal-Gefühl'. Damals, als im Naber noch große Feste gefeiert und in der Stadt noch kräftig Schiffe gebaut wurden, war das Leben doch leichter, oder?" Vielleicht liege es auch "an dieser ganz anderen Theatererfahrung, die alle –Geschichtengeber, Spieler, da künstlerische Team, Zuschauer – in einer Interaktion vereint, dass sich eine gewisse Leichtigkeit einstellt. Das Theaterparadies ist in diesem Moment jedenfalls an diesem Ort, auch wenn die Glücksfee uns später glatt übersieht."


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