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Tanz Dich aus dem Kapuzenpulli 

von Sarah Heppekausen

Essen, 26. März 2011. "Headspin" steht auf dem eisernen Vorhang. Bis es von drei Sprayern auf der Bühne schwarz übermalt und von drei Sprayern per Videoeinsatz mit "Critical Mess" überschrieben wird. "Crossen" heißt das in der Graffiti-Szene. Durchkreuzt wird also "das erste, was einem bei Breakdance in den Sinn kommt", sagt Tänzer Youngung "Jeakwon" Sebastian Kim. Er werde jetzt keinen Headspin machen, weil er sich seine Frisur nicht ruinieren wolle.

Jenseits der Schubladen

Wer seinen eigenen Stil finden will, darf nicht nur zitieren. Und wer einen Abend über Subkulturen ohne das übliche Schubladendenken machen will, darf nicht nur Klischees bedienen. Das haben sich wohl die Macher gedacht, kurzerhand ihren eigenen Titel durchgestrichen und für den neuen mit den Begriffen "Mass" und "Mess" gespielt. Aus der kritischen Masse wird das kritische Chaos.

Samir Akika ist Pina Bausch-Schüler, freischaffender Choreograf, Kopf des Kollektivs "Unusual Symptoms", Regisseur, Filmer und begeisterter Golfer. Auch er lässt sich kaum in eine Schublade ordnen. Eigentlich wollte der Algerier Profi-Basketballer werden. Dann sieht er ein Video von Pina Bauschs "Le Sacre du Printemps" und beginnt mit 26 Jahren eine Tanzausbildung an der Essener Folkwang Hochschule. Er hat Erfolg als Choreograf, obwohl er das eigentlich nie werden wollte. Und jetzt inszeniert er (im Grillo zusammen mit Anna K. Becker und Sebastian Zarzutzki) am Stadttheater, obwohl er sonst freischaffend arbeitet aus Überzeugung, eben um der Freiheit willen.

Mühen und Abenteuer des eigenen Stils

Kein Wunder also, das "Headspin Critical Mess" zu einer persönlichen Angelegenheit wird. Nicht nur für Samir Akika, für jeden einzelnen der zwölf Darsteller. Freie Szene trifft auf Stadttheater, Subkultur auf Hochkultur, Breakdancer auf (Ensemble-)Schauspieler, No-Wave-Band auf Opernsänger. Ganz nach dem Motto: Perform deine Persönlichkeit! Selbst Bühnenprofis sind hier Experten des Alltags, des Künstleralltags.

Grillo-Schauspielerin Laura Kiehne sinniert über Verweigerungsstrategien ihrer Vergangenheit (Lagerfeuer im Park, Demo am 1. Mai) und kommt endlich zu dem enttäuschend-sinnlosen Schluss, dass sie fest an mehlige Kartoffeln glaubt. Weiter reiche ihr direkter Wirkungsbereich nicht, alles andere "ist total wurscht". Oder Nora Ronge. Fünf Jahre war sie als Tänzerin in einem Ensemble engagiert. Das bedeutete Sicherheit, Stabilität und einen Vater, der sich keine Sorgen machen musste. "Alles lief glatt, glatt, glatt." Dann hatte sie die Routine satt, den immer gleichen Rhythmus. Und jetzt? Genießt sie das Abenteuer. An die Steuererklärung möchte sie noch nicht denken.

Zwischen Gruppenchoreografie und Ausbrechen

Soweit der Text. Aber der zweistündige Abend kann zum Glück mehr. Über Protest und Grenzgängerdasein wird nicht bloß gesprochen, Rebellion wird auch getanzt, und zwar als existenzielle Notwendigkeit. Als verzweifelter Befreiungsakt wie bei Katrin Banse, die sich nicht nur in einem Leben aus Zeitströmungen, sondern auch in ihrem Kapuzenpulli verhakt. Als Verweigerungshandlung zwischen Gruppenchoreografie und individuellem Ausbrechen. Oder als verkrampftes Zerbrechen an vermeintlich stabilen Verhältnissen wie bei Ulrike Reinbott, die ihre zuckenden Glieder genauso wenig kontrollieren kann wie ihre Worte, die sie nur noch als unverständliche Laute aus sich herauspresst.

Und dann gibt es noch diese wunderbaren Vermischungen von Sparten und Szenekulturen. Wenn Opernsänger Pablo Botinelli aus Schuberts "Winterreise" zu Stefan Kirchhoffs Beatboxing singt. Oder Breakdancer Patrick "Two face" Seebacher geschmeidige Körperwellen zur klassischen Klaviermusik schlägt. Das berührt, weil Unbekanntes kombiniert wird, was erstaunlich gut zusammenpasst. Überhaupt entwickelt das Team aus Tänzern, Schauspielern und Musikern eine beeindruckende Ensembleenergie. Jeder macht alles und meistens auch noch richtig gut.

Im Stadttheater angekommen

Der Abend ist dennoch überfrachtet mit Zitaten, vom Hippie-Hair-Musical über Fußballfan-Parolen bis zu den Schock-Rockern Kiss. Die erklären, was der Begriff Subkultur alles umfassen kann. Aber originärer Protest findet auf der Bühne nicht statt. Das ist die Kehrseite der gelungenen Harmonie. Nichts hat den Hauch von Illegalität in diesem subventionierten Raum der Bürgerlichkeit. Keine Spur von Respektlosigkeit, die heute noch provozieren könnte. Der kulturelle Mainstream okkupiert jeden individuellen Stil, das ist die bittere Erkenntnis dieses mal komischen, mal tragikomischen Abends. Youngung "Jeakwon" Sebastian Kim wird doch noch den Headspin zeigen. Und die wilden Mustangs am Ende fast alle matt am Boden liegen. Die Subkultur ist im Stadttheater und auf der Drehbühne angekommen. So richtig wohl ist einem dabei irgendwie nicht.

Headspin Critical Mess (UA)
Ein Projekt von Samir Akika, Anna K. Becker und Sebastian Zarzutzki
Regie: Samir Akika, Anna K. Becker und Sebastian Zarzutzki, Bühne: Gabor Doleviczenyi, Carolin Hanf, Robert Kaltenhäuser, aaron.st, Kostüme: Carolin Hanf, aaron.st, Videografie: Gabor Doleviczenyi, Robert Kaltenhäuser, aaron.st, Dramaturgie: Judith Heese.
Mit: Katrin Banse, Pablo Bottinelli, Joscha Hendricksen, Laura Kiehne, Youngung "Jeakwon" Sebastian Kim, Stefan Kirchhoff, Jannik Nowak, Ulrike Reinbott, Nora Ronge, Patrick "Two face" Seebacher, Sebastian Tessenow, Rosh Zeeba.

www.schauspiel-essen.de
www.unusualsymptoms.com


Mehr zu Samir Akika: beim NRW-Festival Fvoriten 2010 gewann Welle: Asphaltkultur den Förderpreis des NRW Kultursekretariats.

 

Kritikenrundschau

"Das Crossover-Projekt arrangiert Subkultur und Hochkultur, Breakdance und Rollenstudium, Graffiti und Bühnenbild", so Martin Burkert auf WDR 5. Samir Akikas Prinzip, dass Text und Bewegung aus den Performern kommen, geht etwas zulasten der Konzentration auf ein gemeinsames Thema. "Trotzdem ist der Abend dynamisch, artistisch, jung, bunt und ehrlich."

Kommentare  
Critical Mess, Essen: Stadttheater und Subkultur
"Die Subkultur ist im Stadttheater und auf der Drehbühne angekommen. So richtig wohl ist einem dabei irgendwie nicht."
Sorry. Das liest sich, als hätte die Autorin ein historisches Ereignis erlebt. Die Subkultur kommt aber schon seit Jahrzehnten immer wieder im öffentlich subventionierten Raum an. Die öffentlich subventionierte Kultur profitiert davon und die Subkultur auch - inhaltlich, formal und letztere auch ökonomisch.
Und etwas weiter oben heißt es:
"Nichts hat den Hauch von Illegalität in diesem subventionierten Raum der Bürgerlichkeit."
Heißt das im Umkehrschluss, dass die Autorin bei Theaterveranstaltungen sonst immer nur den Hauch der Legalität verspürt? Und was heißt das dann? Ist das subventionierte Theater frei jeglicher Kritik an den Verhältnissen in diesem Land? Ich persönlich ginge gar nicht mehr hin, wenn es so wäre. Exkurs: Ich meide natürlich meistens die Operetten. Exkurs Ende.
Im übrigen hätte Samir Akika in den letzten 15 Jahren keines seiner Projekte ohne öffentliche Förderung realisieren können, auch wenn er sicher meist keine Regelförderung, sondern nur Projektmittel erhalten haben wird.
Und ein letztes Zitat aus dem letzten Absatz:
"Aber originärer Protest findet auf der Bühne nicht statt."
Ich persönlich gehe zum Protestieren auf die Straße und suche keine Co-Protestierer im Kunstraum. Da suche ich Reflektion, Spiegelung, Innehalten, Erinnern und anderes mehr - Hauptsache, es macht wacher.
Im übrigen halte ich die Stadttheater höchstens historisch für bürgerlich und sicherlich nicht so für bürgerlich, wie das die Autorin mit negativer Konnotation meint. Stadttheater sind heute noch in diesem Land demokratisch legitimiert und beauftragt, stehen aber im übrigen auch nicht für den "kulturellen Mainstream". Dafür stehen doch - bitte schön - ganz andere ...
Ich breche das jetzt mal ab mit der Bitte: Unterlasst doch bitte solche vermeintlich apodiktischen Urteile, die schon bei oberflächlicher Prüfung kaum zu halten sind. Danke.
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