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Wenn ich singe, vollziehe ich einen Funktionswechsel

von Dina Netz

Köln, 27. März 2011. Während der Ouvertüre und der Moritat von Mackie Messer bleibt die Bühne dunkel. Der Brecht-Text inklusive Regieanweisungen wird in roten Buchstaben als Laufband eingeblendet. Erst nach dem verschriftlichten Haifisch-Song treten die Schauspieler ins Licht. Diesen Trick hat Nicolas Stemann schon bei seiner "Dreigroschenoper" 2002 in Hannover angewandt (die er mit dem Kölner Ensemble überarbeitet hat), um mit den strengen Vorgaben der Brecht/Weill-Erben umzugehen: Der Originaltext wird fast vollständig eingeblendet.

© David Baltzer
Sing along with Sachiko Hara and Anja Laïs!
© David Baltzer

Es ist aber natürlich weit mehr als nur ein Trick. Dadurch wird deutlich, was für Hits die Dreigroschenoper-Songs sind: Man ertappt sich dabei, im Kopf Gesang und Musik zum Text zu ergänzen. Und das Zitat "Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht" wird nochmal anders sinnfällig – wir sind einfach alle im Dunkeln. Regisseur Stemann entwickelt aus den Texteinblendungen sein gesamtes Konzept: In der ersten Szene stehen die Schauspieler mit dem Rücken zum Publikum vor dem Laufband und lesen Regieanweisungen und Dialoge ab. Als für den Bettler Filch "ein junger Mann" gefordert wird, schubsen sie Renato Schuch in einen der beiden Lichtkegel, in denen je ein Mikrofon steht.

In Brechts Karaoke-Bar

Alle lesen stolpernd ihre Texte, finden sich langsam in ihre Rollen. Wobei ihre Rollen so klar gar nicht abgegrenzt sind: Der Räuber Mackie Messer zum Beispiel hat am Anfang gleich drei Darsteller (Yorck Dippe, Robert Dölle, Renato Schuch); später verschmelzen auch die Frauenrollen. Polly (Sachiko Hara, bei der Premiere sehr erkältet und deshalb nicht gut bei Stimme) liefert schließlich die Moritat von Mackie Messer nach.

Sachiko Hara tritt als weißgekleidetes Service-Mädchen auf, das später die Männer mit Cocktails, Strohhüten, Blumengirlanden und einem sexy Tanz versorgt. Sie spricht und singt mit starkem asiatischem Akzent und Mädchen-Stimme, und manchmal sagt sie falsch betont die Sätze nach, die ihr die Männer vorsagen – Ausbeutung und Elend sind mitten unter euch, will Stemann wohl sehr direkt sagen, und zwar auch in der Karaoke-Bar in eurem thailändischen Traumurlaub. Wenn ihr nicht immer bewusst die Augen verschließen würdet, würdet ihr sie überall sehen.

Wer sein Fett weg kriegt, der applaudiert

Damit ist Stemann ganz nah bei Bertolt Brechts politischer Aussage, seiner Kapitalismuskritik und seiner Kritik an der Natur des Menschen, der sich immer damit rausredet: "Die Verhältnisse, sie sind nicht so." "Für die Armee wird jetzt wieder geworben" ist auch so ein Satz, bei dem man im Publikum zusammenzuckt, sofort an Libyen und Afghanistan denkt. Die "Dreigroschenoper" ist fraglos aktuell – doch schon zu Brechts Zeiten saßen im Publikum die Banker und applaudierten, die oben eigentlich gerade ihr Fett wegkriegten.

Nicolas Stemann verhindert, dass man sich den allzu bekannten Songs wohlig überlässt, indem er die Reihenfolge zum Teil umstellt und sie immer ein wenig anders interpretieren lässt, als man sie im Ohr hat: Dölle, Dippe und Schuch geben das Hochzeitslied zur Luftgitarre und als Country-Song. Die "Ballade von der sexuellen Hörigkeit" und das Melodrama zwischen Polly und Mackie werden gekreuzt. Wolfgang Michaleks Peachum muss Robert Dölle (inzwischen als Polizeichef Brown) erst sein "Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens" abtrotzen, um es dann wie auf der Showbühne in die Hände klatschend zu geben.

Lustige Details

Den Musikern um Hans-Jörn Brandenburg gebührt aller Respekt, denn sie stellen sich scheinbar mühelos auf die unterschiedlichen Anforderungen ein – und das auch noch ohne Sichtkontakt, hinter einer Trennwand auf der Bühne sitzend. Auch die sängerischen Leistungen der Schauspieler sind beachtlich, besonders die von Wolfgang Michalek, Yorck Dippe und Anja Laïs. Andere müssen sich zum Teil vielleicht noch etwas freisingen.

Ein bloßes Abschnurren der Handlung wird zum Beispiel durch theaterreflexive Einwürfe unterbrochen wie den von Robert Dölle: "Wenn ich singe, vollziehe ich einen Funktionswechsel." Oder Anja Laïs verteilt im Publikum Tafeln für die Demo, auf denen die bekanntesten "Dreigroschenoper"-Zitate stehen und unter die sich auch "Das Schauspielhaus bleibt!" verirrt hat – Brecht hätte vermutlich seine Freude an diesen Verfremdungseffekten.

Auch in einem weiteren entscheidenden Punkt folgt Nicolas Stemann Brecht: "Lehrtheater muss erst einmal Unterhaltungstheater sein", stimmt der Regisseur dem Autor im Programmheft zu. Und baut jede Menge lustiger Details ein: Anja Laïs als Frau Peachum mit rosa Hasenohren und roten Plateau-Stiefeln; die Sopranistin Sonia Theodoridou als Browns Tochter Lucy, die die anderen drei Frauen buchstäblich zu Boden singt; Schuch, Dippe und Dölle, die sich wie Halbstarke darüber prügeln, ob Jennys Gesangsleistung "nett" oder "Kunst" war. Diese "Dreigroschenoper" ist ein kurzweiliger, intelligenter und zeitgenössischer Zugriff auf ein eigentlich abgenutztes Stück, das in Köln plötzlich ganz frisch wirkt.

 

Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht und Kurt Weill
Regie: Nicolas Stemann, Musikalische Leitung: Hans-Jörn Brandenburg, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Esther Bialas, Licht: Jürgen Kapitein, Dramaturgie: Matthias Pees, Rita Thiele, Korrepetition: Klaus Lothar Peters, Ewald Gutenkunst, Kampftraining: Dominik Klingenberg.
Mit: Ilknur Bahadir, Yorck Dippe, Robert Dölle, Sachiko Hara, Anja Laïs, Wolfgang Michalek, Renato Schuch, Sonia Theodoridou
Musiker: Ralph Beerkicher/Robert Nacken, Heiko Bidmon, Tatjana Bulava, Achim Fink, Ewald Gutenkunst/Hans-Jörn Brandenburg, Klaus Mages, Udo Moll, Holger Werner.

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr Dreigroschenopern gefällig? Hier geht's zu weiteren Nachtkritiken aus Hamburg (Regie: Jarg Pataki), Zürich (Regie: Niklaus Helbling) und Berlin (Regie: Robert Wilson).

Kritikenrundschau

"Stemann kümmert sich erstaunlicherweise nicht darum, wie sein achteinhalb Jahre altes Konzept heute wirkt; das kann man schlampig nennen oder zumindest eine vertane Chance. Lieber arbeitet er sich an der Brecht-Rezeption ab; das kann man selbstbezüglich finden oder zumindest komisch", so Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (30.3.2011). Der Abend mache sich einen Scherz damit, dass bei Brecht schon das Anknipsen eines Spot-Scheinwerfers ein politischer Akt sein kann, "bleibt aber auch in Köln die wohlverdauliche Revue, die schon Brecht nicht beabsichtigte. Der Gesellschaft auf den Zahn fühlen? Alles nur Show!"

Im Bonner General-Anzeiger (29.3.2011) schreibt Hartmut Wilmes: Zunächst zeige Stemann "die leicht angerosteten Folterinstrumente des Konzept-Theaters", er setze gleich drei Mackie Messers ein, einer von ihnen verkörpere "im Nebenjob" Mackies Polizei-Gegenspieler Brown, auch die Spelunken-Jenny & Co. würden geklont. Danach aber folgten "immerhin auch die saftigeren Seiten der dramaturgischen Knallposse". Die oft gefällig geglätteten Kurt-Weill-Songs habe man "dissonant angeschliffen", die Mimen schlügen sich "auf ungewohntem Terrain meist wacker", Anja Lais setze sogar "vokale Glanzpunkte" und Sonia Theodoridu tiriliere als Lucy "mit ihren Koloraturen alle in Grund und Boden". Werde der "bittere Kern" der Bettler-Oper zunächst unter Klamauk begraben, so steuere Stemann nach der Pause um. Doch bleibe das "Elends-Bild aus Afrika" eine "einsame Aktualisierung von begrenzter Durchschlagskraft". "Viel Beifall aus gelichteten Reihen, Bravi für die Mimen, einige Buhs für die Regie."

Im Kölner Stadt-Anzeiger (29.3.2011) fragt Christian Bos: "Wie bringt man ein Stück wieder zum Sprechen, dessen radikalere Fragen ans Theater vom eigenen Erfolg voreilig beantwortet wurden?" Stemann beherzige den Rat von Heiner Müller - "Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat" – und wende Brechts "schulbekannte Verfremdungseffekte" gegen das Stück selbst. Vor dunkler Bühne laufe am Anfang der Text auf einem Laufband Buchstabe für Buchstabe, Regieanweisungen inklusive. Vielleicht, überlegt Bos, hätte es Stemann dabei belassen sollen. Stattdessen kämen Schauspieler, läsen den Text vom Laufband ab, wiesen sich "willkürlich" Rollen zu. Hier sei Stemann zwar nahe bei Brecht: "nur keine Einfühlung". Auch klängen die vielgeliebten Lieder "so ungeglättet, dissonant und kraftvoll, wie sie bei der Premiere vor 83 Jahren geklungen haben müssen". Doch seit der Premiere dieser Inszenierung 2002 in Hannover habe Stemann in seiner improvisierten Kölner Jelinek-Uraufführung "Die Kontrakte des Kaufmanns" (2009) eine "fließendere, schlüssigere Form des Musiktheaters erschaffen". Seine "Dreigroschenoper" wirke dagegen, trotz "guter, durchdachter Ideen", wie ein Rückschritt.

In der Kultursendung Fazit auf Deutschlandradio Kultur (27.3.2011), und fast gleichlautend in der Frankfurter Rundschau (29.3.2011), denkt Stefan Keim über das Recyclen alter Inszenierungen nach: Über das Thema "Remake" spreche Stemann selbst "bemerkenswert offen" im Programmheft. Das Feuilleton verlange immer neue Geniestreiche, was dazu führe, "dass unglaublich viel Käse produziert wird, während funktionierende und gute Abende lange vor der Zeit in der Versenkung verschwinden." Keim pflichtet Stemann bei. "Es ist dieselbe Gier nach Novitäten, die Theater dazu antreibt, von Dramatikern immer neue Stücke zu verlangen, gern im Stil der alten, anstatt die vorhandenen Texte nachzuspielen." Dahinter stecke eine "Neubewertung" der "Bedeutung von Inszenierungskonzepten". Sie würden allmählich als "eigene Kunstwerke anerkannt", was ja bei "präzise notierten Choreografien schon längst der Fall" sei. Warum solle das nicht auch für die Arbeiten freier Regisseure gelten? Bis auf ein paar Experten habe kaum ein Kölner Theatergänger die Aufführung in Hannover gesehen. Sie biete auch heute "viel Diskussionsstoff". Wenn Stemann jede Identifikation verhindere und er das Spiel selbst und die Auseinandersetzung mit dem Text zum Thema mache, erziele er "perfekte V-Effekte". Die zudem so unterhaltend seien, "dass der Abend auch noch viel Spaß macht".

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