Treu bis zum letzten

von Dorothea Marcus

Köln, 12. Oktober 2007. Hebbels Burgunderhof ist ein kalter, unverkleideter Bühnenraum. Nur einige Sperrholzkisten stehen darin, und auf billigen Bürostühlen sehen wir neben den Schauspielern ein Quintett aus Streichern, Schlagzeugern und Posaune (Bühne: Thomas Dreissigacker). Karin Beiers Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" beginnt zweidimensional wie ein Kammerkonzert, und die Stationen des Untergangs wirken zunächst wie hastig durchgespielt.

Doch dann kommt Brunhild (Maja Schöne) ins Spiel, wartet wie ein lauerndes Tier auf einem Podest im Zuschauerraum auf den Helden Siegfried (Carlo Ljubek). Stattdessen kommt Gunther (Michael Weber), und wir ahnen: Es ist von Anfang an etwas faul im natürlichen Liebessystem. Nur weil Siegfried sich in die Falsche verliebt, geschieht das größte Massaker der Literaturgeschichte.

Andere Länder, andere Sitten

Brunhild, eigentlich eine klassische Stadttheaterschönheit mit Schauspielschuldiktion, zerschlägt den Zivilisationsfirnis, wenn sie auf allen Vieren die Rampe in den Zuschauerraum hochrast und viehisch hechelt. Als sie von Gunther als Ehefrau nach Worms geführt wird, entledigt sie sich mitten in der Willkommenszeremonie ihrer Kleidung. "Andere Länder, andere Sitten", versucht Gunther hastig zu beruhigen, doch er kann nicht verhehlen, dass hier etwas ganz und gar Fremdes in den geordneten Burgunderfrieden bricht.

Die Konsequenzen erahnt er nicht. Genauso wenig wie die anderen hilflosen Menschen, die hier liebevoll, jämmerlich und sehr genau gezeigt werden: weder die kindliche und trotzige Kriemhild (Patrycia Ziolkowska), die spürt, dass Siegfried und Brunhild sich einmal geliebt hatten, noch der teamfähige und ergebnisorientierte Hagen, der den Staat schützen will (Michael Wittenborn).

"Die Nibelungen" sind bei Karin Beier ein bitterböser Spiegel auf die armselige Spezies Mensch, die versucht, taktisch zu denken, und doch nicht über den nächsten Wimpernschlag hinauskommt. Doch zunächst wirkt alles nur wie ein bösartiger Kampf zwischen zwei eifersüchtigen Frauen. Als Kriemhild das Geheimnis der Machtverteilung zwischen Siegfried und Gunther entdeckt, muss Siegfried sterben, weil er sonst die Staatsordnung gefährdet.

Vom Helden naschen

In einem Wald aus Topftannen beugt sich der vertrauensselig nackte Siegfried über einen Wassereimer, und nachdem Hagen das Schwert in den Boden gerammt hat, stirbt er minutenlang, rennt um die Kisten und trinkt dabei weiter, der Held, der es nicht fassen kann und dessen Begierden nie mehr gestillt werden – eine verstörende Szene. Zum Schluss steckt Hagen den Finger in seine Wunde und leckt ein wenig davon, wie um ein kleines Stückchen Held zu naschen. Kriemhild im weißen Kleid entdeckt den nackten Toten und hält ihn wie eine wahnsinnige Schmerzensmadonna schreiend im Arm.

Nach der Pause ist sie eine furchtbare schwarze Witwe geworden, und das finanzklamme Worms versinkt in Agonie: Hagen strampelt sich auf dem Hometrainer ab, um es mit Energie zu versorgen, Gunther versackt mit dickem Bauch, Pizza und Teddybär auf dem Sofa, und Brunhild ist zum blondierten, trippelnden Nichts geworden. Der Hunnenkönig Etzel ist die letzte Rettung für alle Beteiligten: Josef Ostendorf spielt ihn als gewaltigen, in Goldtuch eingeschlagenen, lethargisch-sanftmütig Liebenden mit distanziertem Hall in der Stimme. Über dem Hunnenreich prangen chinesische Zeichen und Lotusblüten, ein Kind in Pink spielt selbstvergessen auf dem Boden.

Schließlich ziehen die Burgunder auf einen Kreuzzug gegen die Barbaren, der "Enduring Freedom" heißt. Das wirkt dann doch wie ein wenig zu wohlfeiles Gutmenschentum – wie rechtschaffen wir uns alle einig sind, dass Westler nicht einfach in Asien, Arabien und sonstwo einfallen dürfen.

Eine neue Ära?

Ohnehin zieht sich Kriemhilds furchtbare Rache in schwankenden Bögen, Festmählern und Verhandlungen in die Länge: Während die Burgunder ein Holzkreuz schlagen und "Demokratie" und "Gerechtigkeit" skandieren, arbeitet Kriemhild vergeblich an der Auslieferung von Hagen und stupst schließlich ihr Kind in seine Arme, um Etzel einen Grund zur Rache zu geben. Hagen dreht ihm den Hals um, und nun geht es richtig los.

Die Helden sind treu bis zum letzten, legen ihre Hände auf die Herzen und werden mit Geigenbögen oder Pappschwertern erschlagen, stehen wieder auf, fallen wieder hin, und dazu zirpt und wütet die Musik – zum Schluss sind auch wir Zuschauer von weißmaskierten Trommlern umzingelt. Endlich ist alles still, und Kriemhild wankt über das Schlachtfeld, gefolgt von Brunhild – die Geister, die alles ausgelöst haben.

Trotz kleiner Mäkeleien schafft es Karin Beier, in vier Stunden bilderstark und psychologisch genau zu zeigen, welch fürchterliche Sage da in unserem Literaturerbe steckt. Dass damals wie heute Menschen keinen Überblick haben und über Leichen gehen, weil sie nicht weiter drüber nachgedacht haben. Das Publikum jubelt frenetisch. Vielleicht ist in Köln eine neue Ära angebrochen.

 

Die Nibelungen
von Friedrich Hebbel
Regie: Karin Beier, Bühne: Thomas Dreissigacker, Kostüme: Anna Eiermann, Musik: Jörg Gollasch. Mit: Michael Weber, Michael Wittenborn, Robert Dölle, Omar El Saeidi, Patrick Gusset, Carlo Ljubek, Patrycia Ziolkowska, Maja Schöne, Josef Ostendorf, Murali Perumal.

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Köln habe wieder ein Schauspiel, das sich sehen lassen könne, befindet Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (14.10.2007). Zwar sei Karin Beiers Inszenierung doch eher "szenisches Patchwork" als ein stringent durchdachter Abend. Doch ein Anfang sei gemacht. Denn Karin Beier habe das "deutsche Trauerspiel", "Die Nibelungen" neu buchstabiert. "Das Vorspiel wird halb szenisch rezitiert, Volker ist eine Art Conférencier... Hölzerne Kästen und Podeste gliedern die Bühne. Ein Steg, der sich oben zur Spielfläche mit Plüschthron weitet, führt übers Parkett: Siegfried tritt als schwarzgelockter später Teenie auf, und die Wettkämpfe, in denen er, um Kriemhild zu gewinnen, Brunhild für Gunther erobert, sind temperamentvolle Rangeleien... Mit Musik und Masken, Trommeln und Chorälen mischt die Regie die Tragödie auf und imprägniert sie gegen Pathos."

Andreas Wilink hat für die Frankfurter Rundschau (15.10.2007) Kölns "fulminante Rückkehr auf die Bühne der Theaterrepublik" gesehen. Karin Beier beginne ihre Intendanz eher "episch statt dramatisch" und räume mit ihrer Stückfassung der "Nibelungen" "ideologische Hürden aus dem deutschen Sonderweg". Die Inszenierung sei "bildmächtig, energievoll, phantasiebegabt, vielleicht etwas flach, aber sehr fix und gewitzt" und erst im Schluss-Teil hätten Beier leider "alle guten Geister" verlassen: Denn da "mischt sich alles, nichts klärt sich."

Erstaunlich findet es Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (15.10.2007), wie Karin Beier "in Hebbels 'deutschem Trauerspiel' die Imperialismus-Kritik entdeckt" und nebenbei darin "den deutschtümelnden Sumpf trockengelegt" habe. Man sehe zudem "wunderbare Schauspieler"; allein um zu erleben, wie sich Patrycia Ziolkowskas Kriemhild "hier zur mehr spinnen- denn menschenartigen Rachegöttin steigert, ist Grund genug, sich diese "Nibelungen" anzusehen." Fazit: "Wie gut, dass es in Köln wieder solche spannenden Theaterabende gibt."

 

Kommentare  
Die Nibelungen-Trompete
Guten Tag Frau Marcus,

auch als Theaterkritikerin sollte man eigentlich eine Trompete von einer Posaune unterscheiden können - oder waren Sie in einem anderen Stück?
Ansonsten - ok.
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