Unter Rechten

von Ralph Gambihler

Dresden, 12. Oktober 2007. Es sind die Jungen und die Alten, immer wieder. Die Jungen kippen zu viel Bier, klopfen rechte Sprüche und klatschen Beifall, als der Tambourmajor mit Goebbels-Schnauze Anne Franks Tagebücher im Mülleimer versenkt. Die Alten protestieren gegen die "Volksverhetzung", schimpfen über die "Ruhestörung" und zünden Kerzen an. Die Jungen nuscheln "Tschuldigung" und fordern "Meinungsfreiheit für Eva Herman". Die Alten singen das Hohelied auf die Heimat und brüllen "Mahlzeit!". Der Generationenkonflikt ist eine Konstante in Volker Löschs "Woyzeck"-Montage am Staatsschauspiel Dresden. Er zieht sich durch den Besetzungszettel und formt das Setting. Er bewahrheitet sich in sozialen, politischen und sprachlichen Situationen.

Tragödie der Angst

Und doch wäre es verkehrt, von einem Generationendrama zu sprechen. Ziemlich verkehrt sogar. Denn es ist vielmehr eine Tragödie über die Angst und ihre Folgen, die da über die Bühne gejagt wird. Diese Angst steckt überall. Man kann sie nicht unbedingt sehen. Am offensichtlichsten wird sie in einer Szene, in der alle – also an die dreißig Frauen und Männer – wie wild putzen, scheuern, wienern. Mit Putzlappen und Schwämmen. Was das Zeug hält. Denn es ist nicht einfach ein kollektives Putzen. Es ist mindestens genauso ein Zittern. Es ist die Angst der sozial Deklassierten vor der weitern Deklassierung, die hier mitputzt und die im Verlauf der knapp zweistündigen Aufführung (man spielt ohne Pause) auch in ihren sekundären Ausformungen gezeigt wird: Hysterie etwa oder Gier bis hin zur Ekstase der völligen Enthemmung, die das Jungvolk fast automatisch befällt, sobald die Musik bis zum Anschlag aufgedreht wird.

Neue deutsche Jugend von rechts

Volker Lösch hat wieder in Dresden inszeniert, der Mann, der Laien und Chöre schätzt und beides zur vox populi verschmilzt (bewundernswert: der mehr als dreißigköpfige Bürgerchor mit Hoffnungen, Befürchtungen, Meinungen, die 529 vorher befragte Theaterbesucher beigesteuert haben). Drei Jahre ist es her, dass er am selben Ort mit seinen "Webern" einen veritablen Theaterskandal ausgelöst hat, indem er die Wut der Hartz IV-Empfänger kanalisierte. Drei Jahre ist es auch her, dass die NPD mit 9,2 Prozent der Wählerstimmen in den sächsischen Landtag einzog. Und so kann es kaum überraschen, dass sich der an politischer Konkretheit und Aktualität interessierte Regie-Berserker nun mit dem Phänomen Rechtsextremismus und rechte Gewalt befasst. Sein ebenso wuchtiger wie plakativer Büchner-Abend (der im November von einer zweitätigen Tagung zum Thema Rechtextremismus begleitet wird) ist ein Blick auf den Nährboden nationalistischer und rassistischer Gesinnung. Es geht um sozialen Drift in der Profitgesellschaft, um Verlieren und Gewinnen in der Siegerkultur und um eine neue "deutsche Jugend", die rechts Halt findet, rechts feiert, rechts rebelliert, mit alten Phrasen und neuen Klamotten.

Sündenbock Woyzeck

Woyzecks scheiternde Liebe ist aller Zärtlichkeit enthoben. Sie erinnert eher an einen Kampfplatz. Die eindrucksvoll agierende Minna Wündrich betritt mit ihrer nervösen und kalt-vergnügten Bauchfrei-Marie kaum das Tränental der Schuldgefühle. Das wäre Schwäche, und schwach darf hier keiner sein. Und allein auch nicht. Allein mit seiner Not aber ist der von dunklen Ahnungen bedrängte Soldat und Barbier Franz Woyzeck. Er muss als Sündenbock herhalten, und Viktor Tremel entwickelt seine Figur überzeugend vom geprügelten Hund zur Mordmaschine. Vom rechten Mob, in den sich Marie rasch einreiht, wird Woyzeck zum Spaß gequält. Es gibt da eine unschöne Szene. Der Tambourmajor (famos: Kai Roloff), dessen Rolle deutlich herausgehoben ist, macht in ihr den Einpeitscher und Bösewicht. Er penetriert den um seine Hoffnungen Beraubten mit dem Revolver. Marie lacht dazu über ihre Restgefühle hinwe.

Gruß an Christiansen

Der über weite Strecken (wie in den "Dresdner Webern") chorisch arrangierte Abend wirkt schroff. Er entwirft ein Bild der Demokratiegefährdung, geht an Schmerzgrenzen, polarisiert mit Sozialkritik und Drastik (was am Schluss den Lösch-üblichen Wettstreit aus Buhs und Jubel auslöst). Auf einen neuerlichen Skandal läuft das alles nicht hinaus. Die NPD könnte allenfalls erbost sein, dass aus einem Redemanuskript ihres Abgeordneten Jürgen W. Gansel zitiert wird. Ebenso Eva Herman, dass der Beifall von rechts, den sie in diesen Tagen bekommt, schon im Theater zu hören ist. Und vielleicht ärgert sich Sabine Christiansen darüber, wenn sie nun in der Zeitung vom dem kleinen, harmlosen Nachhall liest, den ihr juristischer Feldzug gegen einen Satz aus Löschs "Webern" bekommen hat.

Die jungen Frauen und Männer fläzen da in der komprimierten Wohn-, Kleingarten und Elbuferlandschaft mit Frauenkirchenpanorama von Cary Gayler (Bühne) und schauen die letzte Folge von "Christiansen". Sie sind dabei sehr schweigsam. Und können selbst nicht erkennen, was wir, die Zuschauer sehen. Die kongeniale Kulisse bildet in ihrer Gesamtheit nämlich eine dieser kitschigen Schneekugeln, die es in Nippesläden zu kaufen gibt und in denen der Schnee fällt, wenn man sie schüttelt. Was ist der Mensch? hieß die wiederholte Frage in einer Propagandarede, die der rechte Jungvolkführer bei eingeschaltetem Saallicht ins Publikum hielt. Ja, was ist der Mensch? Eine Petitesse, womöglich.

 

Woyzeck
von Georg Büchner
Spielfassung von Volker Lösch und Stefan Schnabel
Regie: Volker Lösch, Bühne: Cary Gayler, Kostüme: Carola Reuther.
Mit: Viktor Tremel, Minna Wündrich, Kai Roloff und dreißig Dresdner BürgerInnen.

www.staatsschauspiel-dresden.de

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Kritikenrundschau

Die Bühne, schreibt Nikolaus Merck (Frankfurter Rundschau, 17.10.2007), ist "ein Coup", mit dem "Woyzeck" habe dieser Abend aber "nur entfernt zu tun". Die Figuren Woyzeck, Marie und den Tambourmajor hat Lösch behalten, "der Rest ist Chorwesen". Wie üblich bei Lösch. Allerdings: "Dem Chor die Hauptlast des Abends aufzubürden, heißt aber, künstlerische Einbußen in Kauf zu nehmen." Mit Grund, denn der Inszenierung gehe es um die "gesellschaftliche Intervention". Dabei sei der "Bilderfinder Lösch" immer am besten, "wenn er Ekstasen inszeniert": beim Toben der Jungen entstünden Bilder, "die direkt im Gefühlszentrum einschlagen". Und was wird damit erklärt? Nichts, findet Merck. Dennoch sei der Chor als "Brücke zwischen Parkett und Bühne" angelegt, "über die die Erkenntnis spazieren soll, dass der Rechtsradikalismus der Jungen aus dem Verhalten der Alten herrührt."

Ulrike Kahle-Steinweh (Tagesspiegel, 17.10.2007) hat die Inszenierung als "grandiose Volksversion" des "Woyzeck" gesehen: Sie komme "wie ein Sturm über das Publikum." Der Chor laufe "zu Höchstform auf", und von der Vorlage bleibe dabei "alles und noch mehr". Dieser Abend sei "mitreißendes Theater. Nichts wird ausgelassen, nicht Bücherverbrennung, Lichterkette, Christiansens letzte Sendung, Staubsaugen, Hasch rauchen. Wir sind wir." Eben "eine grandiose Revue über das Ankommen in der Spaßgesellschaft", mit der Lösch "mit Wucht ins gesamtdeutsche Herz " treffe.

Ekkehart Krippendorff hat, so schreibt er in der Wochenzeitung Freitag (19.10.2007), gar eine "Sensation politischen Theaters" gesehen. Die "Verstörtheit" von Woyzeck und "die seiner Generation", das "spürbar gemachte Gewaltpotential" entstehe auf der Bühne "sinnlich wahrnehmbar aus dem Humus der Verdrängungen der Alten". Denn "denen ist diese Jugend unangenehm, peinlich, eine Störung der mühsam genug gelungenen – oder eben nicht wirklich gelungenen – eigenen Einrichtung in der Post-DDR-Gesellschaft", nach der sie "eine ambivalente Nostalgie" hätten. Dem Text von Büchner wurde mit der "implantierten Text-Collage" laut Krippendorff  dabei "keine Gewalt angetan". Vielmehr sehr man "offene Szenen, Fragmente von Gesellschaftsanalysen des Psychischen, Untersuchungen über die Entstehung von Gewalt aus der Mitte der Gesellschaft am Beispiel eines wahren Falles". Löschs Inszenierung gebe einen "völlig neue Form von politischem Theater" ab.

Mit "derart plump populärem Mitfühl-Agitprop-Theater" komme man dem Phänomen Rechtsradikalismus und seinen Ursachen nicht bei, schimpft Max Glauner in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (14.10.2007). "Lösch glaubte hier den braunen Sumpf abbilden zu können, aus dem heraus Büchners Figuren als Zeitgenossen agieren können. Der Woyzeck, so die Botschaft, ist Kind und Opfer eurer Verhältnisse. Aus einer Publikumsbefragung bastelte man daher eine Textvorlage, die eine selbstgefällige, xenophobe Grundhaltung der sächsischen Landesbevölkerung wiederspiegelt. Das schießt nun platt und aufdringlich über die Rampe – samt braunem Liedgut, bei dem man sich als guter Sachse beim Mitsummen erwischen soll."

Kommentare  
zu Löschs Woyzeck: Wo bleibt das Schauspielerische?
Warum kann sich Schauspiel heutzutage nicht mehr auf das schauspielerische Talent seiner Akteure stützen? Statt dessen versuchen Regisseure zunehmend mit obszönen Handlungen und schokierenden Texten den Theaterbesucher zu überzeugen. So auch Lösch in seiner Inszenierung von "Woyzeck". Wahres Können verbirgt sich jedoch in der Schaffung einer Balance zwischer kritischer Auseinandersetzung mit der Thematik, Übertragung des Stücks in die Neuzeit und Überzeugung des Publikums mit schauspielerischer Größe.
Löschs Woyzeck: mitreißend
Löschs "Woyzeck" ist schon eine harte Nuss, die aber nur derjenige zu knacken imstande ist, der das auch tun will. Dieser wird belohnt durch einen mitreißenden Theaterabend, ein Wechselbad der Gefühle zwischen Amusement und Erschrecken. Es gibt Bilder, die unauslöschlich im Gedächtnis bleiben. Das ästhetische Vergnügen kommt nicht zu kurz, wenn es auch nicht im Vordergrund steht. 'Der für Ungewohntes offene Theaterbesucher verläßt die Vorstellung aufgewühlt und nachdenklich.
Löschs Woyzeck: Wachet auf!
Das Theater muss politisch werden, Lösch zeigt den Weg. Hört auf mit Faust und Wallensteininszenierungen a la Stein oder Peymanns Frühlings Erwachen Quark.
Wachet auf!
Löschs Woyzeck: Proletkult mit Suggestivfragen
@ pascal-two: ja, aber in welcher Form? "Brauchen wir mehr geistige und moralische Führung" (Frage 11) in der Art des Herrn Chefideologen Volker Lösch? So innovativ die Form gegenüber Stein und Peymann auch scheint, letztlich ähnelt das Lösch-Theater auch nur dem alten und verstaubten Prolet-Kult sowjetischer Prägung. Und wer einen Fragebogen entwickelt, welcher Suggestivfragen folgender Art enthält, der soll sich über einfache Antworten nicht wundern. Beispiel Frage 21: "Verstehen Sie die Rachegefühle von Menschen, deren Angehörige (Kinder, Partner, Freunde) Opfer von Gewalttaten geworden sind?" Antworte ich hier mit ja, bin ich also gleich ein Neonazi? So einfach ist das eben nicht. Büchner hat seinen Woyzeck dagegen meines Erachtens wesentlich vielschichtiger gezeichnet als Löschs Reiz-Reaktions-Maschine im Sinne einer Black Box.
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