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Gretchen allein mit Fausts Räuschen

von Wolfgang Behrens 

Leipzig, 31. März 2011. Nur dunkel kann ich mich an eine Podiumsdiskussion in den späten 90ern erinnern – es wird wohl im Berliner Ensemble gewesen sein, den Anlass habe ich vergessen –, doch sehr genau weiß ich noch, wie der Dramaturg Carl Hegemann plötzlich auf ein vor ihm auf dem Tisch liegendes Buch einhieb. Ein dickes Buch war das, schwarz, mit weißen, expressionistisch verwackelten Riesenversalien darauf. Und Hegemann, der in meiner Erinnerung irgendwie in Rage, vielleicht auch nur in Begeisterung geraten war, insistierte lautstark, dass an diesem Buch so bald keiner mehr im Theater vorbeikommen würde.

So eindrücklich die Szene auch war: Hegemann hatte sich natürlich geirrt. An Einar Schleefs "Droge Faust Parsifal" sind seitdem Heerscharen von Theaterleuten vorübergegangen. Das essayistische Opus summum des großen Regisseurs und Autors, der darin auf vertrackt-eigenwillige Weise seine grundlegenden theatralischen Ideen mit enervierend genauen Analysen klassischer Texte sowie autobiographischem Material kreuzte, nötigte immerhin vielen Respekt ab, manchem auch mehr. Letztlich aber sollte wohl – und ich möchte hinzufügen: leider – Franz Wille Recht behalten, der bei Erscheinen des Buches 1997 in der "Zeit" missgelaunt prophezeite, dass sich die Leserschaft des Buches "auf einen erlesenen Kreis beschränken" werde: "Schleef-Forscher, Wagnerologen, Faust-Freaks, Theater-Wahnsinnige."

Flaschen, Kolbengefäße, Karteikarten

Einer, der auch in den Jahren nach Schleefs Tod, als es allmählich ruhig wurde um diesen als Theaterberserker Verschrienen, beharrlich dessen Laterne durch die Nacht trug, ist Armin Petras, derzeit Intendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Immer wieder brachte er Texte Schleefs auf die Bühne, weniger die dramatischen übrigens als vielmehr die Prosa (den monu-

Schmuckkästchenszene: Anja Scheider als Gretchen, Bernd Stübner als Mephisto © R.Arnold/Centraltheater
Schmuckkästchenszene: Anja Scheider als Gretchen, Bernd Stübner als Mephisto
© R.Arnold/Centraltheater

mentalen Roman Gertrud in Frankfurt etwa, oder zuletzt die Abschlussfeier in Dessau und Berlin). Wenn er nun an der Leipziger Skala einen Abend mit dem Titel "Droge Faust" inszenierte, dann scheint dem gewissermaßen eine theater-wahnsinnige Logik innezuwohnen: Nach der Prosa will Petras nun auch aus der Theorie Schleefs dramatische Funken schlagen.

Petras' Vorhaben klingt dabei bestechend simpel: Die in "Droge Faust Parsifal" entfaltete "Faust"-Lektüre Schleefs soll spielerisch am Goethe-Text ausprobiert und überprüft werden. Das sieht an der Skala dann so aus: Der Schauspieler Berndt Stübner sitzt faustgleich an einem Tisch mit allerhand Flaschen und Phiolen. Herein stolpern Anja Schneider und Thomas Lawinky, in ihrer hübsch hässlichen Biederkleidung könnten sie ein fahrendes Schülerpaar sein, und ja, da beginnt Anja Schneider auch schon, in höchst beflissenem Proseminar-Tonfall von präparierten Karteikarten ablesend, Sentenzen aus Schleefs Buch vorzutragen.

Psychedelische Videos im Hintergrund

Lawinky ist ihr Demonstrations-Faust, quasi ihr PowerPoint-Präsentations-Ersatz, ironisch unbeholfen hangelt er sich durch den ersten Monolog. Schließlich steigen alle drei Schauspieler aus der etwas unscharfen Anfangssituation aus, um sich mehr und mehr die Rollen des Stücks überzustreifen. Und von Zeit zu Zeit wird wie aus dem Salzfass ein wenig Schleef-Text über die Szenen gestreut.

Je länger das dauert, desto größer wird die Enttäuschung. Denn Petras' Schleef-Deutung wirkt erschreckend oberflächlich. Wo in "Droge Faust Parsifal" sehr streitbar und mit apodiktischer Wucht der "Faust" in abendlandumspannende Kontexte gestellt wird und das Verhältnis Chor/Individuum und die Rolle der gemeinschafts- und utopiestiftenden Droge hin- und hergewendet werden, da bleibt bei Petras nicht viel mehr übrig als ein Faust, der entweder besoffen und high ist oder sich in konvulsivischen Zuckungen auf dem Boden wälzt. Die Räusche, die Thomas Lawinky als Faust durchlebt, sind nichts als plane mimetische Aktion, auf den Zuschauer überträgt sich davon trotz ein paar psychedelischer Videos im Hintergrund nichts. Der Schleef'sche Erkenntnis- und Sprachrausch bleibt komplett auf der Strecke.

Ungeleitet nach Hause gehen

Trotzdem sind die 100 Minuten des Abends nicht einfach nur verschenkt. Denn in den wenigen Mephisto-Auftritten, die ihm vergönnt sind, lässt Berndt Stübner eine hochinteressante Figur ahnen, einen gebrochenen, erdenschweren Teufel, von dem man gerne mehr sähe. Und Anja Schneider ist ohnehin sehenswert: Goethes "gar unschuldig Ding" verliert bei ihr alles Verzopfte und erst recht alles Hehre, stattdessen haut sie uns das Gretchen als eine ordinär grundierte Teenagerin von heute um die Ohren, die sich auch mal vollaufen lässt und ihre Verse wie Pöbeleien herausrotzt. Wie Anja Schneider aus diesem gewöhnlichen Mädchen von nebenan dann die pubertär-unbedingte Verliebtheit herauskitzelt, das ist von einer eigenartig realitätsgesättigten Poesie.

Auch Armin Petras hat sich also mit seiner Inszenierung an Schleefs "Droge Faust Parsifal" vorbeigedrückt – man könnte fast von einem Etikettenschwindel sprechen. Was man von dem Abend indes mitnimmt, ist die Einsicht, dass Petras mit Leuten wie einem Berndt Stübner und einer Anja Schneider zu einer wunderbar gegenwärtigen Gretchen-Tragödie befähigt wäre. Das dürfte dann ruhig auch etwas ausführlicher ausfallen. Einen halbgar gekochten Schleef allerdings braucht's dazu nicht.


Droge Faust
nach Einar Schleefs "Droge Faust Parsifal" und Johann Wolfgang von Goethes "Faust"
Koproduktion des Centraltheater Leipzig und des Maxim Gorki Theater Berlin
Regie: Armin Petras, Ausstattung: Patricia Talacko, Video: Rebecca Riedel, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Anja Nioduschewski/Nele Weber.
Mit: Anja Schneider, Thomas Lawinky, Berndt Stübner.

www.centraltheater-leipzig.de

Mehr zu Armin Petras gibt es im nachtkritik-Archiv.

 

Kritikenrundschau

"Ein Rausch," schreibt Nina May in der Leipziger Volkszeitung (2. 4. 2011) Vielleicht sei dieser Abend selbst wie eine Art von Drogen beförderte Gehirnwäsche, auf jeden Fall erscheinen ihr Schleefs Thesen danach so einleuchtend, dass sie sich fragt, weshalb sie diesen Aspekt des Stoffes bislang übersehen hat. Petras verdichte an den richtigen Stellen: "Nur eineinhalb Stunden dauert der Abend, der zudem mit drei Schauspielern auskommt." Durch deren intensives Spiel erzielen für die Kritikerin "selbst die tausendfach gehörten Worte an diesem Abend ihre Wirkung." Nur gegen Ende dränge sich "der klassische Faust ein wenig zu sehr in den Vordergrund, auch hätte man sich für diesen besonderen Abend ein anderes Schlusszitat als das bekannte 'Heinrich, mir graut's vor dir' gewünscht."

"Die Begeisterung über diesen Abend ist groß, die Enttäuschung auch, " schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (2.4.2011). Die Enttäuschung sei, "dass keine Schleef-Kunst dabei herausgekommen ist." Aber es komme immerhin Petras-Kunst heraus – "heftig, direkt, chaotisch, spiel- und schmerzsüchtig." Weshalb für den Kritiker der eigentliche Reiz des Abends in der Erkenntnis besteht, "dass es immer wieder aus dem Ruder zu laufen droht, dass die Künstler von einem Schaffensfuror, den ein Genie wie Schleef womöglich erlebt hat, fortgerissen werden, von einem Furor, der keine Rücksichten und keine Rückwege kennt, nach dem sich das explodierte Bewusstsein nicht wieder auf Falte zusammenlegen und einhegen lässt." Was Petras' Inszenierung daher besonders deutlich werden lasse, sei, "wie groß inmitten des gegenwärtigen bürgerlichen Kunstschaffens die Sehnsucht nach einem solchen Furor ist." Wie ungestillt der Hunger nach existenzieller Berührung.

Armin Petras mache es sich mit seiner Schleef-Adaption erschreckend leicht, findet Michael Laages in der Sendung "Kultur heute" vom Deutschlandfunk (1.4.2011). Zwar sei in Leipzig "eine durchaus ansehnliche Aufführung" zu sehen: "'Faust' im Schnelldurchlauf, mit ein wenig Schleef-Orientierung." Trotzdem ist aus Laages' Sicht der Umgang, den Petras hier mit Schleef pflegt, "freundlich formuliert – fahrlässig. Mit Blick auf den tantiemehascherischen Begriff 'Uraufführung' ließe sich auch sagen: unverfroren. Denn 'ur' ist an 'Droge. Faust' schlicht gar nichts." Das Petras-Team habe lediglich den originalen Text des ersten Teils der 'Faust'-Tragödie auf etwas mehr als eine Stunde eingedampft; "in einer Goethe-Bearbeitung der rabiateren Sorte, die vom Material im wesentlichen nur die drei zentralen Funktionsfiguren Gretchen, Faust und Mephisto übrig lässt. Dann wurden eine Handvoll wertende, deutende, beschreibende Schleef-Texte hinzu gefügt – wie Regie-Anweisungen, wie dramaturgische Hilfestellungen, die sich sonst in Programmheften finden."  Doch wer "Schleef" über diesen Abend schreibe, mache sich der Rosstäuscherei schuldig und biete eine Mogelpackung.

Ausgerechnet Armin Petras strecke vor Schleef die Waffen und zieht sich mit Goethe aus der Affäre, schreibt Joachim Lange in der Chemnitzer Freien Presse (2.4.2011). "Was ja nicht schlimm ist, doch nur entfernt mit Schleef zu tun hat oder seinen Furor aufnimmt."

Diese "Fast-Forward-Version" von Goethes "Faust" ist "einfach flotter Jugendclub", schreibt Till Briegleb für die Süddeutsche Zeitung (6.5.2011). "Streicht man jeden Anspruch an Schleefsche Monstrosität und Eingeweideschau, dann lässt sich Petras' 'Lecture Performance' als kurzweilige Faust-Führerscheinprüfung fürs Abi 2012 verwenden. Mit den Mitteln eines Gegenwartstheaters, das Pathos durch Rockmusik ersetzt, Versmaß nur mit Verlegenheit vorträgt, und Gefühle erst zulässt, wenn Coolness nicht mehr hilft, dann aber volle Lotte, verkürzt Petras die geistige Flugzeit dieses Dramas auf einen Kurztrip mit buntem Bordprogramm."



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