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Wovon man nicht sprechen kann, muss man singen?

von Katrin Ullmann

Hamburg, 2. April 2011. Es ist ein Konzert. Und es ist Borchert. Felix Knopp spielt, nein: singt darin den Beckmann, jenen Kriegsheimkehrer, der nicht heimkehren kann. Beckmann ist ein Mann ohne Identität, ein Soldat, ein vom Krieg Traumatisierter. Er ist einer, der nach Schuld und Verantwortung fragt, er ist Mörder und Opfer und vor allem ist er einer, der draußen bleibt, "draußen vor der Tür" der Gesellschaft. Borchert schrieb das Stück 1946 zunächst als Hörspiel. Er schrieb es – so heißt es – in nur wenigen Tagen. Ein Jahr später erfuhr es seine Uraufführung an den Hamburger Kammerspielen.

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© Armin Smailovic

Am Hamburger Thalia Theater singt Felix Knopp das Stück. In grauem T-Shirt und schwarzer Hose klemmt er knapp zwei Stunden lang fast unablässig am Mikrofonständer und gibt mit lässigem Sprechgesang Borchert-Texte mit Rockmanieren. Dezente Bass- und Gitarrentöne (Dirk Ritz & Marco Schmedtje) begleiten ihn im Hintergrund, mal türmen sie sich dramatisch auf, werden lauter und drängender, getrieben von Martin Dog Kessler an den Drums. Musikalisch erinnert das Ganze an Michel Houellebecqs Présence Humaine, einer wunderschönen, trancehaft-monotonen Begegnung von Houellebecqs Gedichten mit Bertrand Burgalats Kompositionen.

Überraschender Blick auf einen Nachkriegstext

Felix Knopps Band heißt My Darkest Star und in der Zentrale des Thalia Theaters feiert sie regelmäßig ihren "Voodoo-Rock"-Abend "A trip along Depeche Mode". Die Zusammenarbeit mit Luk Perceval sei ein lang gehegter, gemeinsamer Wunsch gewesen, bemerkt Dramaturg Tarun Kade im Programmheft. Nach langem Suchen fand sich mit "Draußen vor der Tür" ein passender Text – beinahe ein Gedicht. Tatsächlich offenbart Borcherts Sprache eine absolut konzertbühnentaugliche Poesie, ist sie doch gleichsam roh wie zart. Tatsächlich offenbart dieser Abend auch einen überraschenden Blick auf Borcherts Text. Und tatsächlich leistet Katrin Bracks Bühnenbild dazu einen nicht unerheblichen Beitrag.

Die über der leeren Bühne aufgehängte rückwandgroße Spiegelfläche schirmt den Raum nach oben wie ein Zeltdach ab und eröffnet durch die Spiegelung eine neue (Vogel)-Perspektive auf das Geschehen. Diese Setzung ist großartig! Bracks Raum schafft Miniaturdarsteller mit langbeinigen Schatten, irritierende Aufsichten auf die Musiker auf der Seitenbühne und regelrechte Tableaux vivants. Diese entstehen etwa dann, wenn die acht Eisenhans-Darsteller, die Perceval in das Stück integriert hat, rücklings auf die Bühne kommen.

Harte Schlagschatten im Gesicht 
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© Armin Smailovic

Gleich achtmal scheint Borcherts "Mädchen" da in lieblich pastellfarbenen Kleidern (Kostüme: Anja Sohre) unterhalb des Spiegelrands auf die Drehbühne zu kriechen und ist doch eine Gruppe behinderter Schauspieler, die Beckmann wenig später über das Rund jagt. Es sind gesellschaftlich Ausgegrenzte, wie Beckmann. Später sind sie sein lebendig gewordener Alptraum, die untoten Toten, sind Soldaten und Oberste. Diese Szenen sind oftmals recht pathetisch und entkommen durch die extrem authentische Spielweise der Eisenhans-Darsteller gerade noch mal dem Kitschklischee.

Barbara Nüsse hingegen durchbricht die überall lauernde Konzert-Kitsch-Pathos-Gefahr mit hoher Professionalität. Das Seitenlicht wirft ihr harte Schlagschatten ins Gesicht, wenn sie mit Stock und Hut den "Beerdigungsunternehmer" spielt, oder mit rasch hochgekrempelten Hosen das sehnsuchtsvolle "Mädchen" gibt und später mit einem taktgebenden, merkwürdigen Schmatzgeräusch den Oberst beim Abendessen.

Große Worte, große Gesten

Barbara Nüsse raunt die Sätze mehr, als dass sie sie spricht, bleibt ungerührt und kühl. Wenn Knopps leidvolles Lied über seine alptraumhafte Schlaflosigkeit mehr und mehr in eine ekstatische-eitle Bandleader-Performance entgleitet, kommentiert sie präzise und zynisch. Ist "Kabarettdirektor" und Kunstkritiker. Ihre feinsinnige, circa zehnminütige Slapsticknummer rund um eine nicht angezündete Zigarette ist an diesem Abend so unbeschreiblich wie legendär.

Felix Knopp rockt sich anschließend noch zahlreich Schweiß ins T-Shirt, reißt mal sich, mal den Mikrofonständer zu Boden, verlässt die Bühne, kommt wieder und singt weiter. Seine Gesten sind groß, Borcherts Worte sind es auch und so verzerrt sich Beckmanns innere Verzweiflung gelegentlich zur allzu gut einstudierten Bühnenshow eines selbstgefälligen Popstars. So gesehen ist dieser Abend wieder mehr Konzert als Borchert. Aber als solches absolut sehenswert!

 

"My Darkest Star" live in concert: Draußen vor der Tür
von Wolfgang Borchert
Regie: Luk Perceval, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Anja Sohre, Musik: "My Darkest Star". 
Mit: Felix Knopp, Barbara Nüsse, Peter Maertens.
Die Musiker: Marco Schmedtje (Gitarre), Dirk Ritz (Bass), Martin Dog Kesserl (Drums) und die Eisenhans-Darsteller: Nora Fiedler, Josefine Großkinsky, Nikolas Gerlach, Mia-Zoe Meier, Joana Orth, Paul Kai Schröder Daniel Tietjen, Swatina Wutha.

www.thalia-theater.de

 

Alles über Luk Perceval auf nachtkritik. de im Lexikon. Über die Arbeit der Bühnenbildkünstlerin Katrin Brack erschien 2010 ein Bildband.


Kritikenrundschau

Es wurde oft geschrieben worden, der wahre Kern von Borcherts Stück sei der Schrei der gepeinigten Kreatur. "Am Hamburger Thalia Theater wird es jetzt genau so begriffen", so Peter Kümmel in der Zeit (7.4.2011). Perceval habe "Draußen vor der Tür" als einen Vielklang von Stimmen inszeniert, "bei dem man nicht weiß, ob er außerhalb von Beckmanns Kopf überhaupt zu hören ist. Wir alle, so die Suggestion, sind in Beckmanns Kopf." Der Regisseur "hat schon öfter versucht, einem Theaterabend die Spannung eines Konzertes zu geben, mal hat das glorios funktioniert (bei seinem Münchner Othello), mal ging es peinsam schief (in seinem Salzburger Molière-Marathon). Bei Draußen vor der Tür gelingt es. Das liegt an der 'Sangbarkeit' von Borcherts Sprache. Und es liegt auch an der Bühnenbildnerin Katrin Brack." Hier nun hängt sie einen riesigen geneigten Spiegel über die Bühne, worin alles, was auf der Bühne geschieht, von oben zu sehen ist, "man erfasst zugleich das Individuum und das wimmelnde Menschenmaterial, die Großaufnahme und das Google-Earth-Geschehen."

In "eine haltlose Welt ohne Ausgang" sieht Klaus Irler für die Tageszeitung (5.4.2011) Beckmann hier versetzt, eine "Welt der Selbstbespiegelung", oder auch: "Ein Gefängnis ohne Gefängnismauern." Der Abend gehe "weit über ein Konzert hinaus. Regisseur Perceval hält sich an den Borchert-Text und entwickelt gleichzeitig eine atmosphärische Dichte, in der eruptive Rockmusik nur eines von mehreren Gestaltungsprinzipien ist. Alle Schauspieler arbeiten mit Mikrofonen und nutzen deren Möglichkeiten auch aus: Die großartige Barbara Nüsse beispielsweise spielt einen Oberst, der wie eine Maschine schmatzt, während er Beckmann erzählt, er müsse erst mal wieder ein Mensch werden." Aber der Kritiker hat auch Einwände: Es gebe "das Problem des Borchert'schen Textes, der oft wie aus der Zeit gefallen wirkt. Die Tonlage bleibt gleich, die Sprachbilder sind mitunter sehr plakativ. Ein dramatischer Bogen ist kaum zu erkennen. Percevals atmosphärische Dichte ist großartig, die Längen des Textes aber kann sie nicht überstrahlen."

Ein Spiegel, "in dem sich das Publikum als Teil des Geschehens sieht"; ein Chor aus Darstellern mit Down-Syndrom und das Ganze als Rockmusiktheater umgesetzt? Sorgen befielen Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (4.4.2011) vor Beginn dieser Inszenierung, angesichts ihrer Aktualisierungsansätze. Aber unbegründet. "Betroffenheitskitsch, nie warst du ferner", lobt der Hamburger Kritiker. Katrin Bracks gigantischer Spiegel rücke die "Zuschauer in Gottes zweifelhafte Perspektive". In der Rockmusik von Felix Knopps Band "My Darkest Star" finde das "Pathos des Textes" ein "glückliches Zuhause", denn  "im guten Popsong empfinden wir Sätze plötzlich als stark und wahr, die wir in der Rede als ausgesprochen dick aufgetragen wahrnehmen." Die Band habe "eine Musik aus feinen rhythmischen Geräuschen und rollendem Breitwand-Zorn komponiert, die alles Drängen, Schreien und Flüstern rahmt, das dieser Beckmann in Jeans und gräulichem T-Shirt für seine Enttäuschungen und Albträume braucht." Meisterschaft liege im "Endkampf zwischen Angstzuständen und Lebenswillen", so wie Knopp ihn für seinen Beckmann entwirft. Barbara Nüsse erweitere in verschiedenen Rollen "diesen heißen Monolog zu einem Duett der Gegensätze." Und der Chor agiere dazu als "irgendwie fröhliches Element". "Vielleicht steht diese unbekümmerte Normalität aber auch für ein drittes ausgleichendes Element im Kampf zweier Deformationen – die eine rücksichtslos und siegend, die andere sensibel und chancenlos."

Ganz ähnlich kündet Dieter Bartetzko in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.4.2011) zunächst von seinen Befürchtungen beim Betreten des Saales: Ohrstöpsel für die Konzertlautstärke? "Bis weit über jede Schmerzgrenze sind mittlerweile alte und neue Stücke zerfetzt, zerbrüllt, hingerotzt und niedergewalzt worden. Ausgerechnet in der Stadt seiner einstigen Uraufführung der Hinrichtung von Borcherts Drama beiwohnen zu sollen, mit dem sich Generationen von Schülern haben abplagen müssen, um dann doch von ihm berührt zu werden – diese Aussicht war niederschmetternd." Aber auch hier aber folgen umgehend die freudige Überraschung über das "genial karge Bühnenbild von Katrin Brack" und eine große Begeisterung über die Stille des Beginns: "Stille ist der Todfeind aller Effekthascherei und Lügen". Gefangen nehmen ließ sich der Kritiker von Barbara Nüsse, die "mit jeder Nuance Welten und Charaktere schafft". Es sind die Stimmen der Akteure, der "Stimmzauberer des Abends", die zur Würdigung Anlass geben. Und auch die Gesangsdarbietungen von Knopp – "als habe er nie anderes getan, als Leadsänger einer Heavy-Metall Band zu sein" – finden Anerkennung: Die "Donner fügen sich in Borcherts Verzweiflung."

Auch Stefan Grund zeigt sich in der Welt (4.4.2011) angetan: "Große Bilder in karger Ausstattung sind in ihrer gefühlsbetonten Wucht die große Stärke des Regisseurs Luk Perceval. Nur wenige Stücke sind ihm und seinem Regiestil gewachsen. Borcherts 'Draußen vor der Tür' aber zählt nicht nur zu diesen wenigen, sondern ist praktisch für Perceval geschrieben worden, der hier seine volle Wirkungsmacht ausspielen kann." Ausgiebig wird der Chor vom Behinderten-Theaterprojekts "Eisenhans" gewürdigt ("Natürlicher könnte kein Schauspieler ungelenk in Wehrmachtsuniform gläubig ins Verderben marschieren, niemand glaubwürdiger Beckmann schreiend über die Bühne hetzen") ebenso wie Barbara Nüsse ("Nüsse wächst an diesem Abend über sich hinaus") und Felix Knopps Unteroffizier Beckmann: Der "geschundene Schinder, der traumatisierte Soldat, wird bei Perceval zur Stimme des Rufers im Abgrund. Und Felix Knopp knurrt, röchelt, schreit, brüllt, hechelt und weint seine Fragen an Gott und all die anderen, die versagt haben, ins Mikrofon – bis zum Aufschrei in Hardrock-Lautstärke das Spiegelbild zittert –, gehetzt vom Chor der Toten und Verwundeten, für die er die Verantwortung trägt."

"Perceval hat sich selbst übertroffen", jubelt Frauke Hartmann in der Frankfurter Rundschau (5.4.2011). "Denn diesmal singt der Text selber, brüllt, flüstert, hängt auf einer Tonhöhe, zerhackt die Worte und umschmeichelt sie, er verschmilzt mit E-Gitarre, Schlagzeug und Bass, und es klingt wie eine Partitur, ein auskomponierter Protestschrei. In der Rockmusik hat Nina Hagen das in ihren besten Zeiten geschafft. Musik ist hier jedoch nicht mehr Kommentar oder Untermalung wie früher bei Perceval, sondern die Sprache selbst. Er verlagert damit den Fokus auf die selbstmörderische Düsternis, aus der heraus Borchardt schrieb. Und verleiht dem expressionistischen, altmodisch anmutenden Stück, das auch sonst seine Schwächen hat, damit eine Universalität, die es als solches kaum hergeben kann."

Wesentlich negativer schätzt Werner Theurich für Spiegel Online (3.4.2011) das Unternehmen ein: "Aber genauso befangen, wie Knopp sich vorsichtig dem Drama nähert, so befangen bleibt der karge Bilderbogen, den Regisseur Perceval um den Text arrangiert hat. Und er produziert nur eine Erkenntnis: Die Schlussworte des Kriegsheimkehrers Beckmann, 'Gibt denn keiner, keiner Antwort?' stimmen auch für diesen Abend – denn er endet in inhaltlicher Leere." Der rauen "Post-Grunge-Geste" von Knopp & Band kann der Kritiker wenig abgewinnen. Und: "Viele Generalpausen in einem Text, der alles sagt, reißen eher dramaturgische Löcher auf, als dass sie Spannung oder gar Sinn erzeugen." Für die darstellerische Leistung fällt zwar immer wieder Lob ab, doch fügten sich die Einlagen im Ganzen eher zu einer "Nummernrevue Borcherts", die "am Ende mehr Langeweile als Pointierung" produziere.

Auch Armgard Seegers vom Hamburger Abendblatt (4.4.2011) bleibt reserviert: Die Rock-Inszenierung "wirkt wie ein Experiment, packt und ergreift die Zuschauer nur oberflächlich. Es mangelt an wirklich bannenden Szenen. Sicher, der Abend ist ungewöhnlich und interessant. Aber ist interessant nicht der Ausdruck für etwas, das Menschen nicht leidenschaftlich packt?" Auch hier gibt es viel Anerkennung für die Darsteller und die Musiker. Und dennoch: "Zu oft verliert sich der Abend in leisen Tönen, fahlem Licht, Langsamkeit und leerer Symbolik"; der "knapp zweistündige Abend über die Verlorenheit eines Traumatisierten überzeugt eben nur teilweise durch fesselnde Bilder, wirkt insgesamt zu langatmig, zu statisch erzählt, statt durch Spielszenen die Zerrissenheit eines Ausgestoßenen erfahrbar zu machen."

Viel Zuspruch erfährt der Abend dann wieder in der Schleswig-Holsteinischen Provinz auf shz.de (4.4.2011) von Susanne Oehmsen. Perceval habe "den Hörspielcharakter des Stückes, denn als das hatte Borchert es eigentlich verfasst, ernst genommen und das Trauma des Kriegsheimkehrers Beckmann zusammen mit der Band akustisch greifbar gemacht." In den Szenen mit dem farbenfrohen Chor, der sich urplötzlich in eine "kuriose, unwirkliche Armee" transformieren kann, entstehe eine "eigenartige Wahrhaftigkeit". Beckmanns Trauma, "das Felix Knopp fast nur über die Stimme spürbar macht, wird sichtbar. Frenetischer Beifall nach knapp hundert Minuten für ein fantastisches Ensemble, inklusive Regisseur und Band."



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