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Auf der Suche nach dem verlorenen Portemonnaie

von Charles Linsmayer

Basel, 7. April 2011. Im Frühling 2007 hob Werner Düggelin im Schauspielhaus Basel mit Laura de Wecks "Lieblingsmenschen" einen weithin beachteten Bühnenerstling aus der Taufe, der die Liebeswirren einer Studentenclique behandelte und vor allem mit seinen knappen Dialogen punktete. Vier Jahre später trifft man sich wieder: gleicher Regisseur, gleiche Autorin. Nur dass das neue Stück, "Für eine Nacht", längst nicht mehr so leichtgewichtig-jugendlich wie jenes erste wirkt und das Publikum bei aller wohlwollenden Anteilnahme spürbar ratlos zurücklässt. 

Thema Verlust

Das studentische Milieu hat dem Wohnraum eines sterbenden Mannes Platz gemacht, und die vier Figuren suchen nicht nach adäquaten neuen Liebesformen, sondern leiden alle unter einem Verlust.

Der Mann, der sterben wird, findet in einem eher unterbeschäftigten Vincent Leittersdorf seine Verkörperung und fährt mit Ausrufen wie "Hilf mir, ich will nicht sterben" und der finalen Erkenntnis: "Ich glaube, wenn es Scheiße ist, ist es Scheiße" auf seinem Rollstuhl herum. Martin Hug hat als jovial-fatalistischer Penner nicht das Leben, sondern nur dessen (bürgerliche) Bewältigungsmöglichkeiten verloren, meint aber: "Ich finde das schon cool, Menschen, die alt werden." Auf der Suche nach ganz konkreten Dingen ist der von Benjamin Kempf gespielte Sohn des Alten, der sein Portemonnaie verloren hat, aber ebenfalls in Sachen Lebensbewältigung nicht klar kommt: "Irgend jemand muss es doch wissen, wie es leichter ist, das Leben!" Katharina von Bock als Hauspflegerin Valli schließlich hat ihren Schlüssel verloren und muss daher bei ihrem Pflegling übernachten, leidet aber zugleich auch unter dem Verlust ihres Geliebten: "Wenn der eine liebt und der andere nicht, dann tut das weh."

Einsam und orientierungslos

Wie in "Lieblingsmenschen" steht auch diesmal die Orientierungslosigkeit im Mittelpunkt des Ganzen, wieder ist die Einsamkeit das große Thema, und wie damals liefert Laura de Weck nicht einen stringent ausgearbeiteten Plot, sondern eher eine lose Aneinanderreihung von kurzen Gesprächssequenzen. Erneut fliegen die Dialogfetzen zeitweise wie Pingpongbälle hin und her, aber sie sind weniger spitz und Gelächter erregend, sondern eher wie das verärgerte Hin und Her zweier Partner, von denen jeder das letzte Wort haben will: "Willst du nicht mal ein paar Leute treffen?" – "Nein." – "Und wäre vielleicht ein Hörbuch was für Dich?" – "Nein." – "Und." – "Und willst Du vielleicht was.." – "Jetzt hör doch mal auf!" – "Hör du doch auf!"

Momente, in denen der Sohn um sein Portemonnaie heult, in denen der Penner larmoyant und die Pflegerin sentimental werden, stehen Szenen gegenüber, in denen Wörter wie "Fuck", "Kack" und "Scheiße" wie in einer dadaistischen Wortoper zu reinen Klangmustern verwoben erscheinen, immer wieder gleiten Dialoge in puren Nonsens ab, und oftmals entsteht der Eindruck, die Wortklänge, der Rhythmus und vor allem auch die Gliederung des Textes durch Pausen seien viel wesentlicher für das Stück als die oftmals doch eher banalen Auslassungen zu Themen wie Liebesverlust, Arbeitslosigkeit und Tod.

Sprache zum Beat machen

"Ich will die Sprache zum Beat, zum Rhythmus machen", hat Laura de Weck im Vorfeld in einem Interview gesagt, und woanders hat sie die Auffassung vertreten, dass "das vermeintlich Sinnlose am meisten Sinn" mache. Natürlich sind solche Selbstdeutungen nicht überzugewichten. Aber die Ratlosigkeit, die Düggelins Inszenierung hinterlässt, könnte sehr wohl damit zusammenhängen, dass er die Aussagen des Textes viel zu ernst genommen hat und irgendwelche tschechowsche Tiefen darin ausloten wollte, während er das Sprachspielerische, ja fast Dadaistische zwar durchaus erkannt und stellenweise auch umgesetzt hat, aber als tragende Grundkonstituente des ganzen Textes nicht wirklich ernst nimmt.

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Angesichts des unentschiedenen Schwankens zwischen Rührstück und Wortoper, das für Düggelins Interpretation charakteristisch erscheint, wäre es jedenfalls interessant zu wissen, was passieren würde, wenn jemand "Für die Nacht" ganz vom Rhythmus und den Wortklängen her in total cooler, teilnahmsloser Diktion als reines Sprachexperiment auf die Bühne stellen würde.


Für die Nacht (UA)
von Laura de Weck
Regie: Werner Düggelin, Bühne: Raimund Bauer, Kostüme: Sara Kittelmann, Dramaturgie: Martina Grohmann.
Mit: Vincent Leitersorf, Katharina von Bock, Benjamin Kempfs, Martin Hug.

www.theater-basel.ch


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Kritikenrundschau

Es gibt im Theater weniger gewinnende Aufführungen von eher schwächelnden Vorlagen als andersherum. Düggelins Inszenierung sei solch ein Fall, so Peter Iden in der Frankfurter Rundschau (15.4.2011). Der direkte Weg, den die Autorin beim Thema Leben und Sterben einschlage, sei zu schmal. In Düggelins knapp einstündiger Inszenierung zeige sich jedoch eine Qualität, "die den Abend in Basel auf länger in Erinnerung halten wird". "Den erfahrenen Regisseur, menschenklug wie heute kaum ein anderer, haben nämlich offensichtlich gerade die Leerstellen des Textes und das Fragmentarische der Figurenzeichnung gereizt."  So seien die Figuren jetzt in Basel ohne Orientierung und Perspektive. Nicht einmal Erinnerung, die sich etwa bei Beckett noch Wörter sucht, könne sie irgendwie stützen. Bühnenbildner Raimund Bauer habe eine optische Metapher geschaffen, durch die die Aufführung Halt und Fassung habe: "Eine Reihe wahllos aus dem Alphabet gegriffener, mit Lämpchen bestückter Großbuchstaben sind im Hintergrund der sonst leeren Bühne so nebeneinander aufgestellt, dass sie, auch wenn man sich als Zuschauer noch so müht, keinen Wortsinn machen." Das Bild übersetze noch einmal, wovon "Für die Nacht" handele: Dass vor der Nacht alle dastehen mit leeren Händen.

Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.4.2011) ist nach Basel gereist und verbeugt sich tief: "Der Herzensdank geht an den Regisseur." Denn er habe an de Wecks "juvenilen dramatischen Strichelbemühungen, an denen er eine Art großväterliches Gefallen gefunden zu haben scheint, ein berührendes Stück gemacht." De Weck wechsele mit ihrem hier als Dramenvorentwurf gehandelten Text "ins musikalische Fach"; "alles ist sehr hübsch gekonnt, freilich nur formal bewältigt. Die Todesfuge eines Gegenwartsmenschenquartetts – aber auch wieder so gestrichelt, so skizziert, dass die Stimmen wie Lianen in einem luftigen Existenzurwald baumeln, an denen die Einzelnen, die mehr Stimmnehmer als Stimmführer sind, kaum als Figuren, mehr als Modulationsmarionetten kenntlich werden, sich entlanghangeln in reizendem Schwung bis hin zum reizenden Schluss (…)". Erst Düggelin aber "macht aus dem Papier der Fugen-Partitur eine Endspielmusik, in dem die Stimmen Fleisch und Blut (und manchmal sogar Wut) kriegen."

Ein schwergewichtiger Stoff, federleicht in Szene gesetzt, befindet Barbara Villiger-Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (9.4.2011), die angesichts dieses "kleinen, feinen Reigen um Leben, Liebe und Tod" auch von einem "Zauber" spricht. Die 30-jährige Autorin treibe auch diesmal den für sie typischen Minimalismus auf die Spitze, doch ihr Regisseur, Werner Düggelin, überbiete sie darin noch. "Nicht nur, indem er ein paar Passagen des kurzen Textes streicht, sondern auch durch temporeichen Rhythmus und ein fast ballettartiges Ineinander-Übergreifen der knapp skizzierten Szenen."

'Für die Nacht' wirke "behauptet und gemacht," schreibt dagegen Stephan Reuter in der Baseler Zeitung (9.4.2011). Die Szenen ergeben für ihn "wenig mehr als den Komponentenkleber für eine gedruckte Verlustanzeige: 'Glück entlaufen'." Der Regisseur tue was er kann. Für "eine bestechende Produktion" fehlt aus Kritikersicht jedoch bereits der Vorlage für diesen kurzen Abend die Substanz.

"Vier Menschen und die anbrechende Nacht – das ist die Grundkonstellation in Laura de Wecks Wortkonzert für vier Stimmen, in dem (…) existenzielle (…) Fragen anklingen: Wer bin ich und wenn ja, wozu? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun – vor allem, wenn das Leben scheiße läuft"? Das Ganze sei eine "zärtlich-komische Notturne", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (11.4.2011), "mit einem fast übertrieben starken Willen zur Reduktion, Konzentration und zur Komposition". Regisseur Düggelin lasse "zu Beginn und am Ende coolen Jazz einspielen, doch die abgeklärte, nonchalante Lässigkeit, die das suggeriert, die geht ihm diesmal ab. Statt dem Stück einen hellen Resonanzboden zu schaffen, beschwert der Regisseur es – indem er es tatsächlich zu schwer nimmt. Mehr Rhythmus, Sprachspiel, Beat, weniger Getragenheit und Larmoyanz, das ist es, was dieses Quartett bräuchte, um nicht so in die Tiefsinnsfalle zu tappen."

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