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Das Morgen-Grauen im Bambiland

von Georg Petermichl

Wien, 14. April 2011. Fast müsste man glauben Thomas Arzt hätte sein Theaterstück drum herum geschrieben: "Schwein, du. Hast Bambi getötet." Bambi ist eine Mitarbeiterin von der Außenstelle. Eine Fast-Fremde. So-gut-wie verzichtbar. Die ausländischen Investoren haben nichts mitgekriegt und die Presse wird keinen Wind bekommen. In "Grillenparz" – soeben im Schauspielhaus Wien uraufgeführt – trifft sich eine Was-auch-immer produzierende Firma zur jährlichen Firmenfeier am stadtnahen Hügel "Grillenparz" und säuft sich nach Firmentradition um den Verstand und – vor allem – um das Erinnern, das bekanntlich Hemmungen evozieren würde.

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Veronika Glatzner, Thiemo Strutzenberger, Franziska Hackl, Vincent Glander, Barbara Horvath
© Alexi Pelekanos

So-weit-so-gut: Altbekanntes, angewandtes Manager-Bashing, vielleicht? Gähn. Zentralismus- samt Vereinzelungskritik – könnte man schließen. Die wichtigsten Figuren dafür sind auf der Bühne: Hirsch, die Personalchefin (Barbara Horvath), der Betriebsrat Stieringer (Thiemo Strutzenberger), zwei mittlere Angestellte – Winni von hie und Bambi von dort (Vincent Glander, Veronika Glatzner) und Flora, eine Arbeiterin (Franziska Hackl). Alles aufstreblerische Gestalten und schließlich stehen sie zu Beginn auch noch wie Orgelpfeifen aufgereiht zum Abschuss bereit.

Alkohol als Äquivalent der Liebe

Vorweg: Die Inszenierung von Nora Schlocker und deren Grundlage sind derart neuwertig, fesselnd, atmosphärisch und ideenreich, dass sie zeitweise am Unverständlichen kratzen. Wie der Titel mit Anleihen an den "österreichischen Nationaldichter" Franz Grillparzer schon vermuten lässt, hat Thomas Arzt die Firmenmitarbeiter-Auswahl antreten lassen, um Höheres zu verhandeln. Sichtlich geht es um die "Natur" des Menschen: Die Firmenstruktur hat etwas von Grillparzers hermetischer Standesgesellschaft, der Alkohol schafft aber eine Nivellierung der Stände, und wird somit zum Äquivalent der "Liebe" in den traditionellen Texten. – Natur bedeutet also (endlich) wieder: Jeder mit jedem.

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Arzt geht einen Schritt weiter und verwendet Firmenklischees und romantische Archaik für eine poetische Krimi-Sozialstudie: Nicht nur Flora, die Vertreterin des Firmen-Prekariats, steht völlig verständnislos dem gegenüber was passieren soll: Mit ihr, zum allgemeinen Amüsement; mit dem Jäger namens Fischer (Max Mayer) steht zusätzlich eine gespenstige Figur im Szenario, die seltsam die Brücke zwischen der "Natur" und der Firmengeschichte zu schlagen scheint. Er philosophiert über die menschliche Natur und meldet als Ultra-Einzelgänger und Außenseiter sein generelles Misstrauen an. Die Mitarbeiterriege ist dank seiner Präsenz aufgebracht – metaphysisch stimmt hier irgendwas überhaupt nicht.

Und ewig grüßt das Hórvath-Idyll

Zu Beginn des Abends sitzt man im Zuschauerraum des Schauspielhauses und hat noch am Gang Max Mayer passiert, den Jäger – inmitten eines Erdhaufens liegend. Die auf der Bühnenrampe thronende Alpenhüttenfassade (Jessica Rockstroh) lässt gerade Platz für ein Stell-dich-ein der Schauspieler. Alles wirkt aufgrund des minimalen Platzangebots sehr intim: Hirsch, die Personalchefin hat eher mit dem Betriebsrat Stieringer zu tun. Und Bambi eher mit Winni. Flora steht zwar in der Mitte, gibt sich aber von Beginn an deplatziert. Alle befinden sich am "Grillenparz" – dem Eventhügel des bevorstehenden Super-Sauf-Abends. Der Jäger scheint niemals fern, er sitzt irgendwo am Gipfel und schießt ––– möglicherweise. Bald tritt er auf die Schmalspurbühne – weiße Augen, blanke Zähne im erdverschmierten Gesicht und hat ein Karnickel um den Hals geschlungen (Kostüm: Marie Lotta Roth).

Gerade hat man sich an die Platznot gewöhnt, da bitten die Schauspieler in den Raum hinter die Hüttenfassade auf die Bühne. Dort findet die Firmenfeier statt, Bierbänke und gedrängte Atmosphäre warten dort. Und sollte man zuvor an Intimität gedacht haben, so hat sie sich jetzt grundlegend verkehrt: War das Intime vorher sichtbar, so ist es jetzt dank Platznot spürbar. Sollte man die eigene Integrität nun in Sicherheit wähnen? Nein: Die Wände der Hütte sind aus Papier und werden vom Jäger ebenfalls eingerissen.

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Barbara Horvath, Max Mayer        © Schauspielhaus

Wenn unsere Toten erwachen

Letztlich lässt "Grillenparz" folgende Vermutung zu: Es handelt sich um einen Firmenhügel auf dem sich besagte Firma im letzten Jahr völlig vergessen hat. Sie hat dabei einen Mitarbeiter namens Fischer unter die Erde gebracht und damit der Natur "ausgesetzt". Dieses Jahr muss Bambi sterben. Thomas Arzt geht dabei von einem sozial-strukturellen Machtmodell aus, in dem erlittene Gewalt dem Nächstbesten weitergegeben wird. Nicht: Jeder mit Jedem, sondern: Jeder ist schuldig.

Gespenstischerweise funktioniert das auf der Bühne wunderbar: In der Erinnerungssequenz an das Vorjahr, wenn die "unschuldige" Flora nach ihrer Vergewaltigung wortlos den Fischer ertränkt, hält eine Zuseherin bereitwillig den Kübel zur Veranschaulichung. Kaum zuvor hat sich angewandte Brutalität so zwingend auf die Bühne verirrt. Großes Kompliment an eine durchwegs junge Performanceriege.

 

Grillenparz (UA)
von Thomas Arzt
Regie: Nora Schlocker, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Marie Lotta Roth.
Mit: Vincent Glander, Veronika Glatzner, Franziska Hackl, Barbara Horvath, Max Mayer, Thiemo Strutzenberger.

www.schauspielhaus.at


Mehr zu: Thomas Arzt, in dieser Saison Hausautor am Schauspielhaus Wien, wurde 1983 in Schlierbach, Oberösterreich, geboren. Arzt nahm in der Spielzeit 2007/2008 an stück/für/stück teil und gewann mit seinem Stückentwurf "Grillenparz" das Hans-Gratzer-Stipendium. 2010 nahm Arzt am Dramatikerworkshop des Stückemarkts des Berliner Theatertreffens teil.

 

Kritikenrundschau

"Im zweiten Teil wird ein Betriebsfest gefeiert, und da ist man mittendrin im Treiben der Schauspieler. Dicht an dicht sitzt man dort, aber das Stück ist nun leider nicht mehr so dicht wie am Anfang", so Norbert Mayer in der Presse (16.4.2011). "Es franst aus, wird unübersichtlich, zieht sich." Das trübe den positiven Gesamteindruck: "Sowohl der Autor als auch die Regisseurin zeigen viel Talent, das Ensemble spielt wie gewohnt mit viel Elan und Überzeugungskraft." Das poetische, geheimnisvolle Volksstück zeige ein Anti-Idyll, zu dem auch ertränken, erschießen, erschlagen gehören. Ausland und Heimat, Kapital und Arbeit klingen an. "Diese großen Themen aber, das magisch Fremde und das scheinbar Vertraute verlieren sich in einer verwickelten Handlung."

"Der junge Autor Thomas Arzt wirft einen bitterbösen Blick auf das Hin- und Wegschauen, auf Machtstrukturen und Entgleisungen. Die junge, aus Tirol stammende Regisseurin Nora Schlocker verengt den Spielraum, rhythmisiert und stilisiert, dass es eine Freude ist, und holt mit einem famosen Ensemble den textlichen Aberwitz an die szenische Oberfläche", heißt es in einer Kurzkritik in der OÖN (17.4.2011). Mit der Produktion erfahre man einmal mehr, dass das Schauspielhaus Wien die allererste Adresse für zeitgenössisches Theater sei und die Namen Thomas Arzt und Nora Schlocker ganz große Versprechen sind.

Auf den ersten Blick, schreibt Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (20.4.2011)  könnte man dieses Stück für ein "Sozialdrama aus der Angestelltenwelt halten" oder ein Schauspiel über Grillparzer.Doch handele es sich eher um ein "Schauerdrama", ein "Stück über Heimat", aber kein nicht als Volksstück, denn: "auf der Sturmhöhe des Grillenparz geht ein Jäger um, ein Wiedergänger, wie das personifizierte Verdrängte". Max Mayer, der den Jäger spielt, verkörpere mit seiner Flinte, dem verschmutzten Anzug und mit durchdringendem Blick die Ruhe des Zeugen. Max Mayer sei ein Phänomen und immer ein Ereignis: "Es gehört zur Kunst dieses Schauspielers, auch oberflächlichen Arrangements Tiefe zu verleihen." Er begegne seinen Rollen mit einer überlegenen Gelassenheit und verfüge zugleich über "jede Menge Handwerk". Manchmal denke man, "es umgebe ihn so ein Hauch von Oskar Werner. Jedenfalls ist er unter so vielen geheimnislosen Schauspielern von heute ein Besonderer". 'Grillenparz' sei ein" bemerkenswerter Abend in einem Haus, das sich so keine andere Stadt leistet und auf das sich Wien etwas zugutehalten kann. Ein Haus der neuen Dramatik." Thomas Arzt wären ein, zwei Regisseurinnen oder Regisseure zu wünschen, die mit ihm arbeiten. Noch lange ist er kein Grillparzer, aber der Grillenparz sei "keine schlechte Startposition".

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