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Ihr Geisterlein kommet

von Petra Hallmayer

München, 15. April 2011. "Jesus! Jesus!", stößt eine Frau hyperventilierend hervor. Mit gefalteten Händen rutschen unheimliche Gestalten auf den Knien herein, robben sich voran und stürzen sich den Bühnenrand hinunter, eine Horde katholischer Lemminge. Dunkel bläst die Tuba und hell klingeln die Kuhglocken zur Einstimmung in Sebastian Nüblings Uraufführung des jüngsten Stückes von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel.

Das heißt, eigentlich ist es gar kein richtiges Stück. Wozu, mögen sich Autoren mittlerweile denken, sollen wir uns noch die Mühe machen, einen Stoff zu dramatisieren, wenn die Regisseure ohnehin lieber Erzählungen und Romane lesen. Wie Elfriede Jelinek, die sich unlängst Schuberts Winterreise aneignete, haben nun auch Zaimoglu und Senkel den Kammerspielen reinste Prosa geliefert. "Ein Erzählstück für die Bühne" nennen sie ihre München-Phantasmagorien.

Weiz und Wildfrau

Zaimoglu, der seine frühen Kinderjahre in der Isarmetropole verbrachte und im Herzen ein Romantiker ist, versteht es wie wenige den Sound zu wechseln, kann ebenso Gossensprechblasen in Kunstkanaksprak ausspucken wie in orientalisch-barocke Fabulierlust eintauchen. Diesmal greift er mit seinem Co-Autor auf die Sprachmelodien bäuerlicher Sagen und Legenden zurück. Es raunt von alters her.

"Alpsegen" erspart uns das ewige München-Kabarett-Personal, die Schicki-Micki-Narren, säuischen CSU-Politiker und sadistischen Pfarrer. Stattdessen steigen Sagenfiguren aus den Bergen herab, die Namen tragen wie "Der fahle Gimpel", "Die Mondhelle", "Die grauen Hirten", "Die Weiz" und "Die Wildfrau", und hocken sich ins Wirtshaus. Das erinnert manchmal an Texte des jungen Achternbusch, doch es fehlt deren existenzielle Wucht, finstere Wut und böse Präzision.

Eingebettet in den luftig versponnenen Gespensterreigen ist ein altmodisches Familien- und missglückendes Coming-Out-Drama. Curd, ein aus der Provinz ausgebüchster Familienvater, mietet sich mit einem italienischen Eisverkäufer in einem Münchner Hotelzimmer ein. Allein aus dem geplanten Abenteuer wird nichts, weil er sich denn doch nicht traut.

Zudem schickt Mutti Evi dem abtrünnigen Gatten Sohn Max hintendrein, der im Museum das Fräulein Cecilia trifft, die in Wahrheit eine tote Seele ist und der er am Ende ins Jenseits folgt.

Rabenfleisch und Splitternacktes

Ganz geheuer scheint das alles Nübling nicht gewesen zu sein, der den Fluß der Narration nervös überillustriert. Er malt die Hysterien des Katholizismus grell aus und bringt ein kunterbuntes Zitatenkarussell zum Kreisen, für das er im Folklorefundus wildert.

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© Julian Roeder

Heraus kommt ein bayerisch geschminkter anämischer Theaterbastard, der nirgendwo daheim ist. Um ihm Leben einzuhauchen, lässt Nübling es krachen, rumpeln und pumpeln, magisch tingeltangeln und mächtig spuken. Ein halbes Dutzend schwarzgewandeter Doppelgängerinnen von Cecilia dreht sich im Kreis. Mit blutigem Mund beißt Max (Benny Claessens) Fleischfetzen aus einem Raben.

Zur Aufheiterung behilft sich die Inszenierung zwischendrein mit Comedy- und Boulevardkomödienanleihen. Begleitet von "Quando, quando, quando"-Klimperklängen tänzelt der schwule Italiener (Kristof Van Boven) um den angststarren Curd (Jochen Noch) herum, macht sich splitternackicht und wedelt mit seinem Schwanz.

Seifenblasen und Spiritistisches

Immer wieder versucht Nübling, sein Szenen-Potpourri in den Aberwitz und ins Absurde zu treiben. Frau Wirtin (Gundi Ellert) fächelt "Komm, Heiland" stöhnend wild mit den Röcken unter ihrem Dirndl. Mäxchen krümmt sich spastisch als trauriger Clown mit weißem Gesicht und knallroten Lippen und brüllt, bis es ihn umhaut. Cecilia (Wiebke Puls) gibt sich mit gespreizten Beinen über einer Blechschüssel einer Mischung aus Intimwäsche und Onanieorgie hin, während Max auf allen Vieren auf ihr Geschlecht starrt und ihr Papa (Michael Tregor) Milch aus seinem Bierkrug in eine Tüte kippt.

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Die Figuren tragen Krawatten aus Menschenhaar, eine Prozession mit Stühlen auf den Köpfen schreitet vorüber, ehe alle zu einer spiritistischen Sitzung zusammenrücken. Tatsächlich gelingen einige schöne groteske Bilder und fein komponierte Tableaux, die anzuschauen eine Freude ist. Nur dummerweise erzählen sie nichts, sondern reihen sich bloß dekorativ aneinander. Darüber kann auch das fantastische Kammerspiel-Ensemble nicht hinwegtäuschen.

Wir sehen lauter schillernde Seifenblasen, die sich auflösen ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Der ganze Spuk, den Nübling beschwört, bleibt so geheimnis- und harmlos wie eine Geisterbahnfahrt auf dem Oktoberfest.


Alpsegen (UA)
von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel
Regie: Sebastian Nübling, Bühne: Muriel Gerstner, Kostüme: Eva-Maria Bauer, Musik: Lars Wittershagen, Licht: Gérard Cleven, Dramaturgie: Julia Lochte.
Mit: Benny Claessens, Gundi Ellert, Tim Erny, Peter Laib, Jochen Noch, Wiebke Puls, Michael Tregor, Kristof Van Boven.

www.muenchner-kammerspiele.de


Zuletzt wurde Anfang April 2011 am Theater Kiel eine Zaimoglu-Senkel-Uraufführung gezeigt, nämlich ihre Fassug von Shakespeares Julius Cäsar. Und nur einen Monat zuvor an der Neuköllner Oper in Berlin: noch eine Zaimoglu-Senkel-Uraufführung, diesmal Discount Diaspora.

 

Kritikenrundschau

Gleich zu Anfang sei klar: "Nübling ist der Held des Abends", schreibt Astrid Kaminski in der Frankfurter Allgemeinen (18.4.2011). Wer nach der Textlektüre des "Alpsegen"-Stücks "noch gutgelaunt ins Theater ging, ist eine beneidenswerte Frohnatur. Dünne Reminiszenzen an die Magie eines E.T.A. Hoffmann, die Biedermeierdécadencegemüter der Figuren Arthur Schnitzlers, Jeremias Gotthelfs heidnisch-christlicher Humanismus und Rainer Werner Fassbinders Bigotterie, all das verquirlt mit schwarzer Romantik, dafür kaum handlungsorientiert – das wäre Garantie genug für einen verschnarchten Abend." Doch dann biete Nübling schon mit dem ersten Bild "ziemlichen Theaterzauber". Es gebe immer wieder "pralle, oft urig-komische Szenen und Tableaus" zu bestaunen. Allerdings sei "auch durch beherzte Regie eine Charakterschärfe nicht wirklich zu erreichen". Trotzdem: Nüblings Regie "mit ihrer Begabung fürs Zirzensische hat hier paradoxerweise den schlimmsten Zirkus verhindert".

Reich sei die Ernte im Text von Zaimoglu, der "von Kiel aus, mit riesiger Distanz zusammenphantasierte, was ihm zu München einfiel", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (18.4.2011): "Krude Sagengestalten, viel Oans-Zwoa-Gsuffa-Gedöns, eine sagenhaft gut erzählte Schwulengeschichte, Deppen, Bier, Föhnschädel." Der Text lecke "am Wahnsinn Achternbuschs, aber er schmeckt ihn nicht. Und so ist die Aufführung dann wirklich großartig, wenn Nübling sich von der Vorgabe löst, wenn er die Schauspieler zu physischen Meisterleistungen animiert." Hätte Nübling "eine halbe Stunde Geschwätz, das nur raunt und nichts bringt", rausgeschmissen, dann wäre "dieser Abend ein herrlicher, ungemein saftiger Albtraum, in dem es zwei Menschen gibt, Jochen Noch und Kristof Van Boven, die mit schmerzlich-rührender Zartheit ein Paar spielen, das nicht sein darf, bestehend aus einem jämmerlich leidenden Familienvater, der sich nach dem Schwulsein sehnt, und einem Zaubergeschöpf, das es ihm nicht beibringen darf."

Zaimoglu/Senkels wirrer Text sei "zwar eine Sammlung ungarer Einfälle", meint Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau (18.4.2011). "Daneben geht das Stück aber schwanger mit mittelalterschwarzer, punkiger Fantasie. Davon hat Nübling sich infizieren lassen." Zaimoglus "Heimatkunde ist reines Klischee. Trotzdem entsteht ein beeindruckender Abend." Denn was "an Figuren und Freaks durch diese Nacht geistert, hat man noch nicht gesehen." Kristof van Boven sei "unglaublich, verführerisch und schmierig, italienisch und belgisch, obszön und sensibel." Es sei "ein Aussatz viehischer Leiber, der hier losgelassen wird, van Bovens Verwandlungskunst scheint die Aufführung angesteckt zu haben wie Zaimoglus finstere Fantasie. Es ist eine Passion, ein Horrorkabinett, das gesamte Oktoberfest als Geisterbahn."

"Alpsegen" sei "ein dichter Prosatext, geschrieben mit gar fiebriger Fabulierlust. Zaimoglu und sein Co-Autor Günter Senkel haben darin einen engen Sagen-Teppich gewoben, sprachverliebt und reich an Assoziationen", schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (28.4.2011). "Alpsegen" sei "eine Art literarische Séance, die offenbart, was unter dem bayerisch-münchnerischen Postkarten-Idyll drängt, dampft, brodelt". Sebastian Nüblings Inszenierung finde "vor allem im ersten Teil Zugang zu diesem manchmal rätselhaften Text-Berg", es sei "ein herrlich anzuschauender Bilderreigen, den der Regisseur und sein lustvoll aufspielendes Ensemble da entfalten". Doch dann verliere "die Inszenierung – leider – ihre Konzentration. Fast wirkt es, als habe Regisseur Nübling gefürchtet, in der übersatten Vorlage unterzugehen: Er überdreht manches, überzeichnet, wo Innehalten gefordert wäre, und müht sich, den Text zu bezwingen, in dem er die bilderreiche Prosa auf der Bühne in überdeutliche Bilder übersetzt."

Der "Alpsegen"-Text mäandere "mehr erzählend als theatral-dialogisch so wild vor sich hin, dass einem ganz bang wird", sagt Sven Rickfels auf Deutschlandfunk (16.4.2011). "Hier erobern die Mythen sich die Stadt zurück, hier wabert es katholisch auf und sexuell gleich mit, da wird der Blick dann frei auf den heidnischen Urgrund, der unter allem liegt. Und selbst noch der einzige Handlungsfaden, der sich wirklich identifizieren lässt, stammt eigentlich aus der Provinz." Nübling habe sich "sichtbar eingefühlt in die Atmosphäre des Textes, den er da uraufführen sollte, seinen Rhythmus, seine Melodie." Dabei habe "er den Text nicht bebildert, sondern er hebt sein Theater auf ihn, lässt Bilder entstehen, schafft Typen, setzt Motive, ästhetisch oder akustisch, vervielfacht Figuren." Das sei "ein Bildballett und Panoptikum in einem, kaum, dass man sich sattsieht und satt gruselt, nur eins, eins möchte man sich nicht vorstellen, dieses Stück woanders zu sehen, woanders als in den Münchner Kammerspielen mit seinem wunderbaren Ensemble."

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