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Gehorsam durch Ermattung

von Dina Netz

Köln, 19. April 2011. Die ehemalige Kraftfahrzeug-Zulassungsstelle in der Kölner Herkulesstraße ist schon für sich genommen ein kafkaesker Ort: 70 leere Büroräume mit fleckigen Teppichen, zwischen Gleisdreieck und Autobahnzubringer gelegen. Mit seinem sicheren Gespür für Settings hat sich das Performer-Kollektiv Signa die Tristesse dieses Ortes zunutze gemacht für seine neue Produktion "Die Hundsprozesse" nach dem "Prozess" von Franz Kafka: Die Herkulesstraße 42 ist in ein Gericht umgewandelt, die Zuschauer werden beim Betreten des Gebäudes zu Angeklagten.

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In den Büros stapeln sich in den Regalen die Ordner, die Akten auf den Tischen, Überwachungskameras schwenken müde hin und her, auf den Fensterbänken mickern Kakteen vor sich hin. Die Computer stammen mindestens aus dem Neolithikum, das Mobiliar hat schon deutlich bessere Tage gesehen, und so abgenutzt blicken auch die Wachmänner, Aktenwagenschieberinnen und Putzfrauen auf den Gängen. Die Kantine hat den Charme einer HO-Gaststätte: ein riesiger Raum mit weit entfernten Tischen, nur Kekse zu kaufen, die aber für viel Geld.

Das Gericht sucht sich die Schuld

Der erste Satz aus Kafkas "Prozess" ist das Motto: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Wir Angeklagten bekommen zu Beginn eine Akte mit einer Terminliste, die uns mehr als sechs Stunden lang von Verhör zu Verhör, von der Gerichtsetikette zum Zentrum für seelisches Wohlergehen und von der Erholungskabine zur Zentralregistratur schickt. Trotz der Terminfülle entstehen immer wieder Wartephasen, weil bei "Verhör II" zum Beispiel gerade keiner mehr ins Büro passt. Dann kann man auf dem Monitor im Wartezimmer zur Erbauung und Belehrung Sinnsprüche lesen wie: "Mit jedem Schritt, den Sie unternehmen, schreitet der Prozess voran." Oder: "Wer zögert, verliert".

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© Erich Goldmann

Das erste Verhör verläuft recht freundlich, die Verwaltungsangestellte bietet Kaffee an. Schnell wird nach den sexuellen Orientierungen der drei Anwesenden gefragt (die Verhöre finden immer im Rudel statt, Privatsphäre gibt es nur auf dem Klo). Etwas Neues über den Grund unserer Verhaftung erfahren wir nicht, nur dass wir ganz gewiss etwas verbrochen haben, "denn das Gericht sucht sich die Schuld".

Bei der Gerichtsetikette bekommen die Angeklagten Hinweise, wie sie sich vor Gericht zu verhalten haben (gedeckte Farben tragen). Im Zentrum für seelisches Wohlergehen wird auf die Auswirkungen des Prozesses hingewiesen: drohende Arbeitslosigkeit, anstehender Wohnungswechsel. Die heikelste Situation erleben wir in der "Sammelreparation", wo Herr Block in den Mittelpunkt tritt, dem offenbar schon seit vielen Jahren der Prozess gemacht wird und der in letzter Verzweiflung die Gerichtskosten nun damit bestreiten will, dass er seine Organe für Experimente mit Mehrzellern zur Verfügung stellt. Herr Block wird zur Untersuchung an eine Liege gekettet und vor unseren Augen mit Elektroschocks behandelt.

hundsprozesse2_erich_goldmannDie "Bewohner" des Gerichts, also diejenigen Akteure, die nicht in Uniform und Kostüm das Personal bilden, führen die Zuschauer-Angeklagten immer wieder in Grenzsituationen, zum Beispiel, wenn einer anbietet, sich für die Schuld der anderen auspeitschen zu lassen und der Gerichtsangestellte tatsächlich mit dem Gürtel zuschlägt. Aber niemand schreitet ein – wahrscheinlich weil trotz der roten Striemen auf dem Rücken die ganze Zeit klar bleibt, dass wir nicht vor Gericht, sondern im Theater sind.

Harmlose Auflösung heikler Stuationen

Dieses Gefühl stellt sich durch die Pausen ein, in denen man auf irgendetwas oder jemanden wartet. Und auch durch die immer wieder harmlose Auflösung heikler Situationen. Ich habe mich unter falscher Identität eingeschlichen, und die Lüge fliegt auf, als ein Foto von mir aus dem Internet auftaucht – natürlich mit dem richtigen Namen. Ich behaupte steif und fest, es müsse sich um eine Verwechslung handeln, und das wird akzeptiert. Als ein Kollege mich später bei einem Wächter denunziert, schickt man mich in die Zentralregistratur. Da hatte ich aber ohnehin gerade einen Termin, und der Schwindel bleibt wieder folgenlos: Ich plaudere mit den Damen über Nagellack und ziehe meiner Wege.

Auch andere "Angeklagte" berichten, dass sie nach mehr als 6 Stunden vor allem müde sind vom vielen Warten und Reden, aber richtig herausgefordert fühlt sich niemand. Das hat auch damit zu tun, dass man immer wieder dieselben Fragen beantwortet zu Familienstand, Beruf und sexuellen Vorlieben. Die einmal gewonnenen Informationen werden zwar in die Akte eingetragen, aber nicht weiter verwendet, so dass die "Verhöre" immer wieder neu einsetzen und sich nicht zuspitzen.

Nur die Schlussszene weckt doch noch einmal den Widerstandsgeist vieler: Wir müssen uns entlang von weißen Linien aufstellen und reihenweise vortreten, um die Akten zurückzugeben. Die Aufstellung lässt Assoziationen an Schlachtvieh oder Schlimmeres hochkommen – und wären nicht alle so erschöpft, würde hier vielleicht doch noch der eine oder andere ausscheren. Gehorsam durch Ermattung ist dann allerdings doch wieder sehr nah bei Kafka.

 

Die Hundsprozesse (UA)
nach Frank Kafka
Konzept und Regie: Signa Köstler, Arthur Köstler, Thomas Bo Nilsson, Text: Signa Köstler, Mediendesign: Arthur Köstler, Bühne und Kostüme: Thomas Bo Nilsson, Signa Köstler, Dramaturgie: Sybille Meier.
Mit: Frank Bätge, Michael Behrendt, Kilian Bierwirth, Christian Bo, Thomas Bo Nilsson, Camilla Bonde, Stephanie Braune, Helen Brecht, Sarah Dudzinski, Erik Ebert, Hannah Fissenebert, Gonny Gaakeer, Petra Gantner, Jessica Maria Garbe, Saskia Geissler, Erich Goldmann, Zoe Goldstein, Hannah Grady, Emil Groth Larsen, Anna Gunndis Gudmundsdottir, Anne Hartung, Anja Herden, Fredrik Jan Hoffmann, Zalar Kalantar, Markus Klauk, Dominik Klingberg, Johannes Köhler, Arthur Köstler, Signa Köstler, Tom Korn, Emily Kraus, Lisa Kudoke, Lily Mc Leish, Annegret Märten, Stefanie Mühlhan, Siri Nase, Franca Overberg, Juri Padel, Silvia Petrova, Kerstin Pollig, Maximilian Pross, Johanna Xenia Rafalski, Steven Reinert, Andreas Schneiders, Alexander Senner, Helga Sieler, Annette Simons, Anne Katrin Sommer, Sascha Sommer, Sebastian Sommerfeld, Daniela Stanik, Jenny Steenken, Simon Steinhorst, Martin Thiel, Kateryna Timokhina, Eva Vium, Irma Wagner, Miriam Weissert, Mareike Wenzel, Yulia Yanez, Florian Zeeh, Marie Zwinzscher.

www.schauspielkoeln.de

 

Mehr zu Signa im nachtkritik-Lexikon. Zuletzt besprachen wir Die Hades-Fraktur in Köln im April 2009 und Germania Song in Leipzig im September 2009.

 

Kritikenrundschau

Der Versuch beispielsweise, seine Identität zu fälschen, brandmarke einen für den Rest des Abends, "das aber ist ja genau die Situation, in der auch Josef K. sich befindet - und diese geniale Grundidee ist es, die die Performance 'Hundsprozesse' so unwiderstehlich macht", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (29.4.2011). Es sei nicht der uninteressanteste Aspekt, zu sehen, wie die Mitangeklagten sich verhalten. "Der Neigung zur Renitenz kann kaum jemand widerstehen; dabei hat man nicht das Geringste davon. Die zahlreichen, kaum verhohlenen sexuellen Avancen, die durch die Gänge und Räume schweben, scheinen sie dagegen kaum wahrzunehmen." Fazit: Der Abend suspendiere den Zuschauer und lasse die Teilnehmer eine Erfahrung machen, die unter die Haut geht. "Dies unterscheidet die Performance auch von etlichen Roman-Adaptionen der Gegenwart: Sie hält sich nicht an das Handlungsskelett, sondern an den Nerv der Geschichte."

"Die Freude am Erschaffen einer eigenen, dunklen Welt ist allen Produktionen der Gruppe Signa anzumerken, vor allem aber dieser. Die Liebe zum Detail ist enorm", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (28.4.2011). Jeder Korridor, jeder Raum, jeder Schreibtisch habe sich in ein Segment der Kafka-Welt verwandelt. In den Heizungsrohren dröhnen ferne Schläge, aus Nachbarzimmern hört man Verhörgebrüll: Dies ist eine Galeere der Schuldigen. Man entwickelt eine Willfährigkeit und eine eifrige Auskunftsbereitschaft, "und das alles ist nicht nur gespielt – es steckt in uns."

Kritiken zu Signa-Projekten gleichen Reportagen. So auch bei Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (21.4.2011): "Fast alle sind gereizt und genervt. Das Spiel zieht sich hin. Man wartet viel. Dann schnuppert man mal an einer Urinprobe oder lauscht einem Vortrag zum Overhead-Projektor: 'Angeklagt - Was tun?'." Kein Vergnügen sei es, eine Nacht in einem Kafka-Roman zu verbringen: "Man lebt im Leerlauf, ab und an wird man kujoniert, und wenn man sich fügt, erfährt man ein wenig über das Privatleben der Beamten. Oft auch viel mehr, als man wissen wollte." Hinterher überkommt Bos "wieder dieses seltsame Signa-Gefühl, das mich bereits bei 'Martha Rubin' und der 'Hades-Fraktur'" überkommen hatte: "Ich will da wieder rein. Keine Interpretation, kein Applaus, kein Bedürfnis nach wertender Kritik. Nur spielen und sich dabei schuldig machen. Die Meta-Ebene folgt später in der Nacht. Als Alptraum. Klagt mich an."

"Mit wahnwitzigem Aufwand hat Signa eine hermetische Parallelwelt gepuzzlet", schreibt Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (21.4.2011): "Stoische Hilfskräfte, die Aktenrollwagen durch lange Flure schieben, abgewrackte Langzeitangeklagte, die in stockfleckigen Matratzenlagern hausen und einem willig ihre Lebensdramen schildern. Schreie aus entlegenen Verhörzellen. Kompetenz-Zank der Beamten." Im 70 Räume umfassenden Dekadenz-Kosmos frage man sich zwar schon: "Warum lasse ich mir beflissen die Stationen abstempeln, statt zu rebellieren? Doch die Selbstzweifel bleiben überschaubar." Letztlich zeige das Tribunal aber zu selten seine Instrumente, so dass der Justizmarathon neben müden Füßen auch Überdruss beschere.

Während Kafkas Josef K. "sprichwörtlich allein auf weiter Flur" sei, bewege man sich bei Signa in Grüppchen, beschreibt Alexander Haas von der taz (26.4.2011). "Die Hundsprozesse" bewegten sich "in einem Zwiespalt": Einerseits gehe es um die Konfrontation mit dem Thema Schuld, andererseits "um den persönlichen Spieltrieb". "Expliziter als bei Kafka tauchen allmählich Gewalt und Sex auf". Immer häufiger erlebe man, dass bestimmte Angeklagte "von höher gestellten Bediensteten erniedrigt werden. Man kann sich einmischen oder nicht, je nach individueller Bereitschaft." Spannender wäre es aus Haas' Sicht allerdings gewesen, "tiefer in eine Auseinandersetzung über 'die Schuld von Einzelnen innerhalb von sozialen und politischen Gefügen' einzusteigen, wie es Signa und Köstler im Vorfeld als Anliegen der Produktion benannten". Doch weil man dem Fortgang des Prozesses verhaftet sie, der "kein anderes Ziel zu haben scheint, als die Gerichtstermine abzuklappern", mache man diesbezüglich "weder besonders erhellende noch besonders verstörende Erfahrungen". Schade – seien Signa doch "die ästhetischen Großmeister einer frappierend unheimlichen zweiten Welt. Hier hätten sie sie aber doch zwingender zuschneiden müssen."

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