Das Bedürfnis nach intensiver Erfahrung

von Franziska Kötz

April 2011. Der Beruf des Dramaturgen hat sich nach meiner Erfahrung im Laufe der rund 20 Jahre, in denen ich dieses 'Geschäft' an verschiedensten Theatern ausübte, grundlegend verändert.

Als junge Dramaturgin an der Schaubühne, während der Intendanz von Andrea Breth, habe ich durchschnittlich zwei Produktionen pro Spielzeit begleitet und wir diskutierten damals ernsthaft darüber, ob es denn mit dem Selbstverständnis der Schaubühne vereinbar sei, jemanden für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu engagieren. Den Berufsstand des Theaterpädagogen kannten wir nur vom Hörensagen und hielten ihn – überheblich wie wir waren – für höchst überflüssig.

Zuletzt am Schauspielhaus Bochum, zur Zeit der Intendanz von Elmar Goerden, begleitete jeder Dramaturg bis zu sechs Produktionen pro Spielzeit, die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit war mit zwei Personen besetzt und dennoch ständig überlastet, genauso wie die festangestellte Theaterpädagogin.

Was haben wir zu verteidigen?
An der Schaubühne war es damals selbstverständlich, sich mindestens drei Monate lang täglich und tagelang um Dieter Sturm geschart an einem Tisch zu versammeln, um zum Beispiel "Orestes" für eine Inszenierung von Andrea Breth in jedem Detail vorzubereiten. Später konnten wir Dramaturgen – sicherlich nicht nur in Bochum – froh sein, wenn die Leseprobe der folgenden Produktion nicht in die Endproben der noch laufenden fiel, wenn wir neben Proben, Sitzungen, Einführungen, Publikumsgesprächen, Lesungen undsoweiter undsofort noch Zeit fanden, mehr als nur die unumgänglichste Sekundärliteratur zu lesen.

Ja, ich gebe zu, dies ist ein Lamento und deshalb vollkommen müßig. Es gibt nämlich keine Schuldigen. Denn natürlich ist die Veränderung der internen Theaterstruktur nur Folge der veränderten gesellschaftlichen Funktion des Theaters.

Aber wenn Dramaturgen zu Managern ihrer Produktionen und des Betriebs zu verkommen drohen, dann beweist sich dieser Berufsstand endlich auch selbst die eigene Überflüssigkeit, die ihm schon immer so gerne nachgesagt worden ist.

Die Frage lautet also: Was haben wir zu verteidigen?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich sehe die Dramaturgie keinesfalls zur Defensive genötigt, behaupte aber, dass wir Dramaturgen einen wesenhaften Kern unserer Arbeit preisgeben, wenn wir uns zu Erfüllungsgehilfen gleich welcher Interessen machen lassen: sei es von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit gegenüber dem Publikum, sei es vom Intendanten gegenüber dem Regisseur, sei es aber auch vom Regisseur gegenüber dem Text.

Unsere Profession ist es, zwischen all diesen Stühlen zu sitzen, Parteigänger des Werkes und der aus ihm entwickelten Erzählabsicht zu sein. Dass sich 'Werktreue' – ich spreche nicht von 'Texttreue', die halte auch ich für ein Gerücht –  leider nicht (vielleicht auch nicht mehr) von selbst versteht, zeugt von dem Druck, unter dem die Theater stehen.

Stellen wir uns alle die gleichen Fragen?

Die in diesem Zusammenhang üblichen Schlagworte sind sattsam bekannt: Es wird behauptet, der Rechtfertigungsdruck der Bühnen steige proportional zu den leerer werdenden staatlichen und kommunalen Kassen. Also folgen wir bereitwillig den Verbraucheranalysen. Erst einige Jahre ist es her, dass wir junge Zuschauer als eine zukunftsträchtige Klientel erkannten, und seither gibt es kaum ein Theater ohne mindestens einen Jugendclub.

Vor kurzem stellten wir überrascht fest, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben – so ungeahnte wie unbekannte Zuschauerschichten wurden entdeckt, mindestens ein Stück über Ehrenmord zierte plötzlich und unausweichlich, landauf, landab jeden Spielplan. Und nicht zuletzt begannen die Projektausschreibungen für Bundesfördermittel mancherorts den Spielplan stärker zu bestimmen, als Dramaturgen lieb sein kann.

Dem Theater, einstmals Ort der Repräsentation eines selbstbewussten Bürgertums, wurden seine eigenen Bühnen zu eng, die Vierte Wand war schon längst gefallen, und so zog es in die Stadt, wollte sie nicht mehr repräsentieren, sondern sie unmittelbar verändern. Der Thespiskarren rollt wieder und schlägt seine Zelte nun im Mümmelmansberg oder auf dem Hasenbergl auf.

Nein, auch ich will keineswegs in vernagelte Stadttheaterkisten zurück, in ruinöse Bildungsbürgertrutzburgen – Dionysos bewahre! Diese Entwicklungen haben zu einer unbedingt notwendigen Horizonterweiterung aller Beteiligten, der Zuschauer wie der Theaterleute geführt, ganz zweifelsohne.

Da aber den Dramaturgen sein Verhältnis zum Zweifel auszeichnet, Fragen ihm näher sind als Antworten, möchte ich gern die folgenden stellen: Woher kommt der Eindruck, dass alles, was wir auf den Bühnen in den verschiedensten Theatern sehen, immer ähnlicher auszusehen scheint? Kann es sein, dass wir uns alle – mehr oder weniger – die gleichen Fragen stellen und dass sich demzufolge auch die Antworten gleichen, sowohl inhaltlich als auch ästhetisch? Kann es sein, dass wir viel weniger in einer Krise der Besucherzahlen stecken als vielmehr in einer der Selbstlegitimation?

Schütten wir das Kind mit dem Bade aus?

Insofern das Theater immer ein Indikator dafür ist, ob eine Gesellschaft etwas über sich selbst erfahren will, könnte man naheliegenderweise schließen, dass die vermutete Krise der Selbstlegitimation auf einen viel weiterreichenden krisenhaften Zustand unserer Gesellschaft hinweist, genauer: des selbstbestimmt handelnden Menschen. Und damit steckt "naturgemäß" – wie Thomas Bernhard sagen würde – auch die Dramaturgie in einer Krise.

Das Wort "Dramaturgie" ist bekanntlich aus dem Griechischen "dran" für Handlung und "ergon" für Werk abzuleiten, was soviel bedeutet wie das Ins-Werk-Setzen der Handlung oder die Bauform, die Architektur der Handlung. Im Drama ist das menschliche Handeln Mittel der Darstellung. Wenn also die Selbstbestimmtheit des Menschen fraglich geworden sein sollte, so muss auch sein Handeln – und damit das Drama und die Dramaturgie in Frage stehen.

Fraglich ist aber auch: Schütten wir nicht vielleicht vorschnell das Kind mit dem Bade aus, wenn wir ein auf Handlungsdramaturgien beruhendes Theater mit aus freier Entscheidung handelnden Subjekten zur Unmöglichkeit erklären und dieses ganze Theater zu einem historischen Relikt? Degradieren wir damit nicht das Theater zu einem selbstreferentiellen System, zu einem Betrieb, dessen 'Sinn' sich in der bloßen Selbsterhaltung durch Platzausnutzung erschöpft? Kann es sein, dass wir selbst zu eilfertig in genau die Falle gelaufen sind, die wir doch vernehmlich kritisieren wollen? 'Die Zukunftsfähigkeit des Stadttheaters sichern', 'die Theater fit für die Zukunft machen' –  ja, unbedingt!

Aber: Ich vermisse die Frage nach der Kunst! Ich behaupte, dass wir der kapitalistisch-materialistischen Suggestion insofern auf den Leim gegangen sind, als unser Denken immer gegenständlicher geworden ist und wir demzufolge aus den Augen verloren haben, was 'hinter den Dingen' liegt.

Was ist es, was wir einmal hatten wissen wollen?

Und jetzt endlich kommt das 'Handwerk des Dramaturgen' ins Spiel. Noch vorab: Der Dramaturg ist in meinen Augen kein Künstler, bestenfalls ein künstlerischer Mensch, dessen Handwerk der Kunst dienen soll; Robert Walser hätte ihn, den selbständigen Dienstleister in künstlerischem Gewerbe, nicht umsonst gerne in Livree gesehen.

Königsdisziplin des dramaturgischen Handwerks ist das Lesenkönnen. Das wiederum setzt Wahrnehmung voraus und Erfahrung und – nicht zuletzt – die 'Lesbarkeit der Welt'. Wenn Lesen Wissenwollen bedeutet, dann möchte ich mit Hans Blumenberg fragen: 'Was ist es denn gewesen, was wir einmal hatten wissen wollen?'. Was ist es denn gewesen, das wir einmal, und zwar nur durch das Theater und ausschließlich mittels des Theaters hatten wissen, hatten uns fragen wollen?

Ich behaupte, dass der Wunsch nach intensiver Erfahrung des Lebens und des Menschen im Spiel immer ungesättigt bleibt. Und was ist Erfahrungen auszutauschen anderes als zu erzählen?

Dieser Wunsch, dieses Bedürfnis – ja, so weit würde ich gehen – nach Erfahrung als Voraussetzung jeden, auch des theatralen Erzählens mag verlacht, verkleidet, verbrämt, verpuppt, verraten und verkauft, kurz: verdrängt werden, doch das schafft ihn nicht ab. Im Gegenteil: Das Bedürfnis nach intensiver Erfahrung und erlebnisreicher Wahrnehmung ist zumindest Einspruch, vielleicht sogar Widerspruch, möglicherweise sogar Avantgarde, also Vorhut gegen bloß simulierte Wirklichkeiten, gegen 'Fremderfahrungen' aller Art und allerorten.
Dabei geht es nicht um 'alt' gegen 'jung', 'konservativ' gegen 'innovativ', um 'Tradition' gegen 'Fortschritt'. "Altes ist umschlagend Junges und dieses, zurück umschlagend, jenes.", sagt Heraklit.

Und was ist Theater?

Theater, das nur Oberfläche getreulich spiegelt, zeigt zwangsläufig ein oberflächliches, ein verzerrtes Bild: Formeln statt Namen und Information statt Erzählung; es vergisst in Prognosen sein Gedächtnis, es verwechselt Selbsterhaltung mit der Frage nach dem Sinn. Der nach Erfahrung Sehnsüchtige aber, der so verstanden Fragende ist zu einer anachronistischen Figur geworden.

Das Lesen als dramaturgische Tätigkeit meint in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung, die Erfahrung, vielleicht sogar die Vertrautheit mit einem Sinn, der sich aktuell verweigern mag, als verweigerter aber zu empfinden bleibt.

Das Theater ist ein anachronistisches Medium: Es setzt auf den freien Menschen, auf selbstbestimmtes Handeln, auf die Mitteilbarkeit von Erfahrung, es glaubt an die Vergegenwärtigung von Vergangenem, es anerkennt die Stellvertreterschaft des Schauspielers, es will Gemeinschaft stiften und sei es nur für die Dauer einer Vorstellung, und es geht von der Lesbarkeit und Veränderbarkeit der Welt durch den Menschen aus. Das Theater widerspricht per se dem Nützlichkeitsdenken, es tritt die Zweckmäßigkeit mit Füßen, es rechnet sich nicht, es rechnet höchstens mit seinem Scheitern, es verschwendet und es verausgabt sich und das mit tiefer Lust!

Auch die Wahrnehmung, das Lesen des Dramaturgen ist von gestern, gewinnt es doch erst dann an Tiefenschärfe, wenn er seine Zeit, das Theater und dessen Texte als Palimpseste zu lesen vermag, in denen immer auch Vergangenes, vielleicht vor der Zeit Aufgegebenes durchschlägt. Bloß behauptete Aktualität verhindert unmittelbare Erfahrung, verhindert das teilnehmende Miterleben – das 'Mitleiden', hätte Lessing nach Aristoteles, dem Urvater unserer Zunft, gesagt. Es ist Sache und Aufgabe des Dramaturgen, dessen eingedenk zu bleiben.

 

Franziska Kötz, geboren 1963 in Hamburg, ist seit 2007 Professorin und Leiterin der Schauspielschule Stuttgart an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart und Intendantin des Wilhelma Theaters. Ab 1991 hat sie als Dramaturgin an der Schaubühne Berlin, am Staatsschauspiel Dresden, Schauspielhaus Chemnitz und am Bayerischen Staatsschauspiel in München gearbeitet. 2000 wurde sie Chefdramaturgin und Mitglied der Künstlerischen Leitung am Nationaltheater Mannheim, in gleicher Funktion ab 2004 am Schauspielhaus Bochum.

 

Dieser Text ist eine Rede, die anläßlich der Verleihung des Marie-Zimmermann-Stipendiums für Dramaturgie an Christian Engelbrecht und des Marie Zimmermann-Preises für Theaterkritik an Peter Kümmel am 20. April 2011 in der Akademie Schloß Solitude Stuttgart gehalten wurde.



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Positionen der Dramaturgie: Über den Fortschritt im Theater
ÜBER DEN FORTSCHRITT IM THEATER

Franziska Kötz hat in ihrer Rede eine Reihe von Punkten angesprochen, deren Brisanz man in der anschließenden Podiumsdiskussion auf Schloß Solitude umging, indem man eine Diskussion über die Thesen durch Glaubensbekenntnisse ersetzte. Nicht auszuschließen ist, dass man Kötz insgeheim unterstellt, sie verteidige bloß ihre berufsbedingten Interessen. Aber für wen gälte das nicht?

Lassen wir uns also auf einzelne Argumente ein. Wo wir mit der Referentin übereinstimmen, nämlich in der Tendenz und in zahlreichen Einzelheiten ihrer Ausführungen, verzichten wir auf eine Paraphrase.

Müssen Stadttheaterkisten vernagelt, Bildungsbürgertrutzburgen ruinös sein? Dass sie es sehr oft sind – kein Widerspruch. Aber sind nicht auch manche Thespiskarren auf dem Mümmelmansberg oder dem Hasenbergl reichlich wackelig, passiert nicht auch in manchen altmodischen Theaterbauten gelegentlich aufregend zeitgenössisches Theater? Unter uns: das Wilhelma Theater, das Franziska Kötz leitet, gleicht, innen wie außen, sehr viel mehr einem Stadttheater als der davor verlaufenden wenig attraktiven Straße. Kurz: Theaterpalast und Hasenbergl schließen einander ebenso wenig aus wie Auto und Straßenbahn. Ebenso wenig übrigens auch, wie Pantomime und wortlastiges Konversationstheater, wie Groteske und Naturalismus, wie Tiefsinn und Nonsens. Und dass jenseits der Stadttheater das Bildungsbürgertum signifikant in die Minderheit gedrängt würde, muss erst bewiesen werden. Der Traum vom Proletariat als Theaterpublikum ist – leider, ausdrücklich: leider! – seit dem nachgestellten Sturm auf den Winterpalast ein Traum geblieben, allenfalls in Ausnahmesituationen, bei Piscator oder in der britischen Workers Education Association, realisiert.

Wenn es denn (in dieser Allgemeinheit) stimmt, dass der selbstbestimmte Mensch in der Krise stecke – warum sollte nicht just dies das Theater beschäftigen? Ist das nicht, genauer besehen, das Thema zahlreicher Stücke von Horváths Volksstücken und Pirandellos Dramen über den "Tod eines Handlungsreisenden" bis zum "Endspiel" oder den "Befristeten"? Ist es nicht etwas kurz geschlossen, wenn Kötz meint, das Drama müsse in Frage stehen, wo das menschliche Handeln in Frage stehe, weil in ihm das menschliche Handeln Mittel der Darstellung sei? Ist nicht auch das in Frage gestellte Handeln noch ein Handeln, und ist es das als Mittel der Darstellung nicht in einem grundsätzlich anderen Sinn als im "wirklichen Leben"? Diese Auffassung nähert sich bedrohlich einem "Theater, das nur Oberfläche getreulich spiegelt" und "zwangsläufig ein oberflächliches, ein verzerrtes Bild" zeigt. Seit Tschechow kennen wir die Figuren, die gerade nicht handeln, sondern allenfalls reagieren. Wer sich an Zadeks "Iwanow" oder an Goschs "Onkel Wanja" erinnert, weiß, wovon die Rede ist. Kann man von Thomas Bernhards monologischen Stücken behaupten, Handeln sei Mittel der Darstellung? Und: müssen tatsächlich Drama und Dramaturgie fraglich werden, wo es die Selbstbestimmtheit des Menschen ist? Können sie sich nicht vielmehr quer stellen zur Fraglichkeit menschlichen Handelns? "Das Theater rechnet sich nicht, es rechnet höchstens mit seinem Scheitern." Bravo! Damit aber verhält es sich gegenläufig zu der nutzen- und profitorientierten Gesellschaft, in der es stattfindet. Und noch einmal Franziska Kötz im Wortlaut: "Bloß behauptete Aktualität verhindert unmittelbare Erfahrung." Franziska Kötz bekam heftigen Beifall. Auch von jenen, die Tag für Tag Aktualität behaupten, (geschichtliche) Erfahrung verhindern und für sich beanspruchen, Avantgarde zu sein.

Wer sich – übrigens ohne Ausschließlichkeitsanspruch, aber eben auch – gelegentlich nach der bühnenwirksamen und den Sinn des Textes aufschließenden Umsetzung eines dramatischen Werks sehnt, verfällt rasch dem Verdikt des Konservatismus. Ihm wird unterstellt, er wolle einer ohnedies fragwürdigen Texttreue jede schöpferische Initiative, jeden kritischen Impuls gegenüber dem Autor opfern. Ist man erst einmal in diesen Verdacht geraten, ist jeder Versuch der Differenzierung vergeblich. Man hat sich als ewig gestrig offenbart, und wer möchte das schon sein?

Was aber wäre fortschrittlich im Theater? Ist es die Befolgung der gerade aktuellen Trends, die sich doch oft bloß als Moden erweisen? Ist fortschrittlich, wer sich analog zu jenem Konsumenten verhält, der neuerdings Aperol-Sprizz statt Campari Soda trinkt oder Clogs statt Sandalen trägt? Die Verächter der analytischen, genauen Annäherung an ein dramatisches Werk, der Reflexion über historische Differenzqualitäten, des Respekts vor einer befremdlich kunstvollen, dem Alltagsjargon entrückten Sprache, wollen uns einreden, dass ein Theater, das einen vorliegenden Text szenisch zu interpretieren versucht, endgültig obsolet sei. Hätte ich nicht nach "Letztes Jahr in Marienbad" aus tiefster Überzeugung behauptet, das Erzählkino sei somit ein für alle Mal passé (und mich damit gründlich blamiert), würde ich diesen falschen Propheten vielleicht glauben. Sie setzen zurzeit – morgen kann schon wieder alles anders sein – auf (freie) Ensembles, die sich ihre Texte selbst schreiben oder improvisieren. Wo ein begabter Autor zur Truppe stößt, René Pollesch zum Beispiel, kommen auch aufregende Ergebnisse heraus, die man freilich nicht unbedingt gegen "Hamlet" oder "Warten auf Godot" ausspielen muss.

Aber wie neu, wie sensationell anders sind solche Ensembles eigentlich? Vor einem halben Jahrhundert haben Gruppen wie das Living Theatre, die New York Street Theatre Caravan, das Bread & Puppet Theatre und zahlreiche andere kollektiv Texte verfasst, improvisiert und auf aktuelle gesellschaftliche Erfahrungen reagiert. Die Truppe von Ariane Mnouchkine hat spätestens mit „1789“ auf ein vorliegendes Drama verzichtet. Und genau genommen haben schon die schauspielenden Autoren von Shakespeare über Molière bis Raimund und Nestroy den Text oft im Zuge der Inszenierung erfunden und bei jeder Vorstellung improvisierend verändert. Vieles, was angeblich eben erst entdeckt wurde, ist nur eine Neuauflage dessen, was im vergangenen halben Jahrhundert unter Happening, Fluxus oder Performance oder auch als Tanztheater firmierte. Die Infragestellung des mimetischen Erzähltheaters ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Auch die Suche nach Alternativen zur Guckkastenbühne ist nicht eben taufrisch. Und der Schritt über die Rampe, die Einbeziehung des Publikums ist fast schon zur Regel geworden, nicht immer mit künstlerischem Gewinn. Es gibt durchaus Argumente für die Aufgabenteilung im Theater – und sei es nur deshalb, weil die angestrengten Mitspielbemühungen von laienhaften Selbstdarstellern für Dritte nicht immer unterhaltsam und gelegentlich schlicht peinlich sind. Will sagen: es passiert viel Interessantes bei den freien Gruppen, bei Schauspielern und auch Amateuren, die sich als ihre eigenen Autoren verstehen. Aber originell (und, wie deren Bewunderer meinen, deshalb per se fortschrittlich) sind sie ebenso wenig wie der legendäre Techniker, der das Rad neu erfindet.

Der Film koexistiert recht friedlich mit dem Video. Die elektronische Musik toleriert die traditionellen Instrumente und hat sich abgewöhnt, nur für progressiv zu halten, wofür Strom vonnöten ist. Die einst, vielleicht sogar zu Recht, als fortschrittlich geltende Konkrete Poesie muss heute dankbar sein, wenn man sich ihrer noch erinnert, und die ungegenständliche Kunst konkurriert mit diversen Richtungen der gegenständlichen Kunst um den Anspruch der Zeitgenossenschaft. Könnte man sich nicht darauf einigen, dass Experimente und Wiederbelebungen uralter Verfahren neben einem Literaturtheater bestehen können, ohne dass jene diesem und dieses jenem seine Verankerung in der Gegenwart abspricht? Können wir uns nicht darauf einigen, dass schreibende Schauspieler und Dramaturgen, auch wenn sie gelegentlich ihre Fähigkeiten überschätzen, das Theater bereichern, ohne deshalb jene Theaterfreunde und Theatermacher ins Grab zu wünschen, die eine intelligente, zeitgemäße Einlassung auf Euripides, Shakespeare, Gogol, Brecht oder Ionesco für fruchtbar halten? Gibt es heute aktuelleres Theater als Claus Peymanns "Hermannsschlacht", den langweiligen „Don Carlos“ in der Regie von Andrea Breth oder Karin Beiers "Kleinbürger"?

Rimini-Protokoll war ohne Zweifel eine Bereicherung für die Theaterlandschaft. Die zehnte Kopie von Rimini-Protokoll aber ist nicht weniger öde und erst recht nicht weniger originell, als der zehnte Versuch, Stemann oder Castorf zu imitieren. Vielleicht muss man sogar die tatsächlich Konservativen, die es im Theaterbereich wie sonst wo gibt, in Kauf nehmen. Manche würden sagen, Peter Stein gehöre dazu. Haben sie vergessen, dass seine Arbeiten einmal zum Modernsten und Progressivsten zählten, was damals auf der Bühne, und zwar im internationalen Vergleich, zu sehen war? Zumindest der Respekt vor dieser Leistung sollte innehalten lassen. Die meisten von jenen, die sich heute auf der Seite des Fortschritts wähnen, haben solch eine Leistung nicht vorzuweisen. Und nebenbei: ganz so schlecht kann es um die traditionellen Bühnen nicht bestellt sein, wenn zutrifft, was Esther Slevogt, eine dezidierte Anhängerin der Freien Szene, im April 2010 konstatierte, "dass es nämlich eine beträchtliche Zahl von Regisseuren, Intendantinnen und Intendanten deutschsprachiger Staatstheater gibt, die ihre Theaterlaufbahn in der Freien Szene begannen". Wir wollen doch nicht unterstellen, dass sie ihre Herkunft aus Geldgier oder Karrieresehnsucht verraten haben. Irgendetwas müssen sie sich schon von diesem Wechsel versprochen haben. Ohne deshalb reaktionär geworden zu sein.

Vielleicht sollte das Beispiel Christoph Marthalers zu denken geben. Er hat, immer wieder, eigene Projekte verwirklicht, die man, wenn man denn will, als "postdramatisch" klassifizieren kann, zugleich aber Tschechow, Horváth, Canetti, Mozart oder Janáček inszeniert. Er hat sogar ein Theater geleitet. War er nun abwechselnd fortschrittlich und konservativ? Kann man sich nicht darauf einigen, dass er einer der aufregendsten Theatermacher unserer Tage ist, und das schon seit drei Jahrzehnten? Am Ende kommt es halt darauf an, was auf der Bühne oder im Schlachthof oder auf der Straße zu sehen und zu hören ist, nicht auf Kategorien, die schon im Parlament wenig taugen.
Positionen der Dramaturgie: Wie kann das Theater Spiegel sein?
Nein, schuldig ist wieder niemand, wenn auf den Bühnen der Bundesrepublik alles gleich aussieht, daran sind bestimmt die Kaffeebauern in Costa Rica Schuld...

Wenn das Theater ein Spiegel für eine sich in der Krise befindende Gesellschaft sein soll, dann muss das Theater schon irgendwie anders sein als die Gesellschaft. Bloßes Imitieren der üblichen Zustände langweilt, kann abgeschafft werden, ohne Mitleid.

Wenn das Lesen der Welt anscheinend die wichtigste Voraussetzung für Dramaturgen sein soll, wie suchen Theater denn dann eigentlich Dramaturgen aus? Nach Zeugnissen, nach Selbsteinschätzung, nach dem ersten Eindruck?

(...)
Positionen der Dramaturgie: altbekannt
In Köpfen nichts Neues, möchte man sagen. Der Vortrag definiert zwar einen Standpunkt, eine Art Daseinsberechtigung von Dramaturgie. Er markiert aber einen altbekannten Standpunkt, von dem aus sich Dramaturgie zwischenzeitlich offensichtlich nicht bewegt hat. Wozu Theater Dramaturgie brauchen, wenn Häuser nicht mehr repräsentieren, sollen, wohl aber Anlaß zur Identifikation bieten wollen/sollen, das beantwortet Frau Kötz mit keinem Halbsatz. Aber Stillstand ist der Tod - der Dramaturgie, irgendwann vielleicht auch der Theater.
Positionen der Dramaturgie: die Zukunft des Theaters heißt Wiederentdecken
Hier wäre doch mal Raum für Austausch, für konstruktiven Austausch. Das gefällt mir. Es gibt viele, die nicht mehr ins Theater gehen oder andere, die das noch nie notwendig fanden. Man ist vom Ausreizen der modernen Mittel und Moden des Theaters gelangweilt und enttäuscht. Meiner Ansicht nach tut man den Möglichkeiten des Theaters damit unrecht. Für mich hat das Theater Zukunft. Für mich ist die Zukunft des Theaters das Theater. So einfach und banal dies klingt, so schwer ist es jedoch. Ein Theater, ist nicht einfach nur banal Theater, es muss sich der Kräfte seiner Mittel bewusst werden um in der heutigen Zeit seine Lebendigkeit (z.B. gegeüber dem Film) zu beweisen. Es ist bekannt: Theater ist menschlich. Menschen sprechen zu Menschen und agieren im selben Raum. Theater ist Spiel. Ein Spiel mit oder gegen die Wirklichkeit. Diesem Spiel stehen verschiedenste Mittel zur Verfügung. Diese Mittel wollen wieder entdeckt werden. Zur Zeit stehen sie in der "konservativ!" Ecke. Warum, das weiß kein Mensch mehr wirklich. Sicher hat das Theater wie es jetzt geworden ist, seine Berechtigung, ein Weg muss ja gegangen werden um sehen zu können, wohin er führt, aber führt der Weg uns zum Theater hin?
Das gegenwärtige Theater hat vielfach den Sinn des Spiels verloren. Warum? Ich behaupte, dass das Theater eine ureigene Kraft besitzt, die es wieder zu entdecken lohnt. Für mich hat der viel genannte Stillstand mit zu vieler Reflexion zu tun. Nicht die Reflexion an sich ist ein Problem, sondern das zu viel in den Texten und auf den Bühnen. Die Handlung wurde verdrängt. Man sieht viel zu oft keine handelnden Menschen, sondern Figuren, die über ihr nicht handeln können reflektieren. Die inneren Monologe sind Stillstand pur.
Positionen der Dramaturgie: Theater muss ein Wollen schaffen
... Es ist doch ein großer Blödsinn, dass es keine selbstbestimmt handelnden Menschen mehr gibt. "Wenn also die Selbstbestimmtheit des Menschen fraglich geworden sein sollte, so muss auch sein Handeln – und damit das Drama und die Dramaturgie in Frage stehen." meint Frau Kötz. Ich weiß, das ist etwas was viele Dramaturgen und viele Nichtdramaturgen auch denken und was ja irgendwie die gesamte postdramatische Theaterbehauptung unterstützen soll. Aber ist es das gewesen, das wir einmal, und zwar nur durch das Theater und ausschließlich mittels des Theaters hatten wissen, hatten uns fragen wollen? Ich antworte mit Nein!
Theater ist keine Wissenschaft - Theater ist Kunst. Und da steckt für mich ein bisschen das Problem. Die Theaterwissenschaften wollten und wollen das Theater umkrempeln, doch allmählich und zum Glück! wird nun von vielen schon die Sackgasse gesehen. Der gegangene Weg war vielleicht nicht der wirklich Richtige (wobei ich weiß, dass die Kategorien richtig und falsch hier völlig fehl am Platze sind) Theater muss wieder von Künstlern beackert werden! Die Ernte sieht dann anders aus. Warum geht man nicht zurück zur letzten Kreuzung und sucht weiter? Traurig ist, dass das Theater nicht mehr scheitern darf. Premierenzwänge und Auslastungszahlen und all diese Rucksäcke. Aber wenn man nicht mehr scheitern darf, probiert man dann noch wirklich was? Sechs Produktionen pro Spieleit - will man da noch was? Außer die Premiere hinkriegen? Ich denke, das ist sehr schwierig und kaum zu schaffen. Theater muss aber so ein Wollen schaffen wollen.
Positionen der Dramaturgie: wider die Wissenschaft vom Theater
Es wird doch Zeit sich zu befreien, nennen Sie mich ruhig alle naiv! Wenn Theater nicht mehr Theaterwissenschaft sondern wieder Kunst wird, wird es wieder scheitern dürfen. Die Wissenschaft stellt Themen auf die Bühne, Was zu beweisen war. Die Kunst stellt Leben auf die Bühne, Das ist was ich vom Theater wissen will, was mich mit Mitteln des Theaters zu fragen interessiert. Das Theater stellt sich zur Zeit zu oft selbst infrage und sollte eigentlich nicht sich, sondern dem Leben Fragen stellen.
Positionen der Dramaturgie: das deutsche Theater schlau und schreifreudig
Ich habe eine Weile Theater in Italien gemacht und eine Menge woanders gesehen und im Kontrast zu Deutschland festgestellt: Das deutsche Theater will immer sehr sehr schlau sein. Sogar akademisch schlau, so schlau, daß das Theater schon gar kein Theater mehr sein will sondern lieber eine ästhetische Schlaumeierei. Außerdem kleidet es sich gern modisch, alle Theater hier kleiden sich so modisch, daß sie alle im gleichen hochmodischen Kleid rumrennen. Und weil jede Karte mit 100€ subventioniert wird, ist der Chef von det Janze weniger der doofe Zuschauer, sondern der schlaue Dramaturg oder der (nach eigener Einschätzung) noch schlauere Intendant. Übrigens ist mir auch aufgefallen, daß deutsche Schauspieler immer schreien, wenn sie Gefühle zeigen wollen, aber da weiß ich auch nicht warum, das wäre mal ein Symposion mit vielen Vorträgen wert, warum die alle so schreien statt was zu fühlen, dann würden wir den Grund dafür rauskriegen. Was will ich eigentlich sagen? Mehr Blödheit im Theater und weniger Geschrei! Übrigens ist auch mein Leben ein anachronistisches Medium, Frau Kötz, weil ich mich für einen freien Menschen halte, der selbstbestimmt handelt (wie geht es Ihnen da? Es steht Ihnen frei zu antworten, oder vielleicht auch nicht) und weil ich hier Erfahrungen mitzuteilen mir einbilde, aber das ist wahrscheinlich mein dramaturgisches Problem.
Positionen der Dramaturgie: das Werk oder das Gewirkte
Teil 1:
Also, was zieht der interessierte Zuschauer und Laie nun eigentlich aus diesen Daseinsnöten deutscher Dramaturgen? Es kann ihm Grunde genommen egal sein, es ist nicht ursächlich sein Problem und so will ich mich auch nicht weiter damit beschäftigen den Dramaturgen ihren Beruf oder gar ihre Berufung zu erklären. Frau Kötz hat aber in ihrem Erklärungsversuch einige schöne alte Begriffe und Bilder benutzt, die mich zum Nachdenken inspiriert haben. Im Grunde ist ihr zuzustimmen, mir fehlt eh das nötige Hintergrundwissen, um ihre Ausführungen zu widerlegen. Was mir aber aufgefallen ist, ich bleibe nämlich schon bei der Begriffserklärung des Wortes „ergon“ hängen, den Frau Kötz mit Werk übersetzt, dass Aristoteles Ergon auch als das Seiende oder besser noch dessen essenzieller Funktion beschreibt. Das Werk oder das Gewirkte erfüllt einen Sinn (siehe Ergon-Argument). Im Zusammenhang mit dráma (Handlung) oder dran (tun), kann man also ein sinnvolles oder sinngebendes am-Werk-arbeiten ableiten. Das lässt sich noch weiter vertiefen, bis man letztendlich nach Heidegger vom aristotelischen energia für das Anwesende oder im-Werk-währen zum Wirklichkeitsbegriff kommt. Der Römer denkt das als operatio (Verrichtung) und sagt actus, und zwar führt dieses Handeln oder die Tätigkeit zu einem Ergebnis, einem Erfolg. Das Drama als Ergebnis oder Abbild der in der Wirklichkeit Handelnden, oder der Dramaturg heute, als ein an der Wirklichkeit verzweifelnder, den Sinn suchender Handwerker, verurteilt zum Erfolg.
Positionen der Dramaturgie: ein mitunter undankbarer Job
Teil 2:
Das klingt jetzt sicher alles etwas an den Haaren herbeigezogen, ich kann aber noch einen etwas praktischeren Vergleich anführen, um das Ganze vielleicht verständlicher zu machen. Ausgehend vom Begriff Werk also Drama, vergleichen wir dieses Ergebnis mal mit einem Haus, was umgebaut werden soll, also ein Werk wird neu inszeniert. Ignorieren wir mal dabei, dass es zur Errichtung eines Hauses heute viele Handwerker bedarf (man könnte sie natürlich auch als die Schauspieler bezeichnen) und konzentrieren wir uns auf die Akteure Architekt, Ingenieur und Bauherr. So wird der Architekt als künstlerischer Kopf die Regie führen und anfangen erst mal sämtliche inneren Wände rauszureißen, er entkernt das Gebäude und der Dramaturg muss als Statiker aufpassen, das noch ein paar tragende Wände übrigbleiben, da sonst Einsturz droht, sprich der Sinn geht verloren oder ein neuer Sinn entsteht, den aber keiner mehr gebrauchen kann. Weiterhin vermittelt der sachverständige Ingenieur/Dramaturg zwischen Architekt/Regisseur und der Behörde/Autor/Erben etc. bezüglich des Denkmalschutzes eines alten Hauses bzw. der Textreue des Werkes. Der Ingenieur bzw. Dramaturg als Spaßbremse des Architekten/Regisseurs. Und hier geht es sicher meist nicht nur um das Umhängen von Gardinen, sondern auch noch um die Größe der Fenster, an denen diese hängen und den Einblick in das schöne Haus verwehren. Ein mitunter undankbarer Job. Und da haben wir noch gar nicht über den Bauherren gesprochen. Das Theater an sich dient ja meist nur als Investor und ist am gewinnbringenden Verkauf interessiert. Wer will denn nun aber nach dem Umbau noch in dem Haus wohnen bzw. das Werk überhaupt sehen. Das muss der Dramaturg und Bauleitende Ingenieur nämlich noch an den Mann bzw. Zuschauer bringen, der Regisseur bzw. Architekt ist nach der Premiere/Einweihung meist schon längst von dannen und am nächsten Werk zu Gange.
Positionen der Dramaturgie: Koordinatoren und Vermittler
Teil 3:
Spaß beiseite man merkt sehr schnell, was da auf der Strecke bleibt, die eigentliche Kunst und die ist nun mal nicht vorrangig ergebnisorientiert und gewinnbringend schon gar nicht. Das dennoch etwas für den Zuschauer Sinnstiftendes herauskommt, ist aber eine Aufgabe der Dramaturgie, der sie sich widmen kann, um die Schere zwischen Kunst und Betrachter nicht zu weit aufklaffen zu lassen. Der Dramaturg ist heute weniger als wissenschaftlicher Berater gefragt, sondern als Koordinator und Vermittler der Kunst. Dabei verliert er nicht unbedingt seine künstlerische Selbstbestimmung. Er muss nicht mehr wie Goethe, Schiller oder Brecht, als Hausautor auch noch die Dramaturgenstelle besetzten und krampfhaft über neue Formen des Theaters grübeln, sondern sollte die Autoren suchen und fördern, die dieses Talent besitzen, dramaturgisch und künstlerisch zu denken. Und erstmal ganz unabhängig davon, was dabei für eine Art von Werk entsteht. Zu guter letzt noch, der Dramaturg ist zwar ein Wissender und stetig Suchender in der Geschichte des Theaters, aber er ist kein Archäologe. Dies zum schönen Bild des Textes als Palimpsest. Schade, dass Herr Rothschild in seinem nachösterlichen Aufruf zur großen Theaterökumene nicht darauf eingegangen ist, wie auch sein ganzer durchaus sehr interessanter Abriss der Theatergeschichte etwas am Thema vorbeigeht. Es kann bei der Beschäftigung mit den alten Theaterformen etwas Neues entstehen, das geschieht aber durch Reibung und nicht durch bloßes Weiterführen der Traditionen. Reibung bedeutet aber auch nicht das Herumschrubbeln, bis unter dem Firnis etwas zutage tritt, das man dann für etwas Neues verkaufen will. Es ist alles irgendwie schon mal da gewesen und schwer heute noch wirklich originär zu sein. Vielleicht ist deshalb auch das Palimpsest als Literatur der zweiten Stufe, also das intertextuale Werk nicht mehr aus der Dramatik wegzudenken.
Positionen der Dramaturgie: raus aus der Trutzburg
Also rauf auf den Thespiskarren und raus aus der Trutzburg, es lohnt sich immer. Scheitern ist erlaubt und auch eine Chance für Neuses, das wusste schon Christoph Schlingensief.

@Redaktion
Meine Güte, seit wann habt ihr denn hier die Kommentarspalte so klein gemacht? Muss ich erst eine Doktorarbeit schreiben um hier einen längeren Kommentar abgeben zu können?
Positionen der Dramaturgie: Anker und Züge
@ 11

Ja, ist mir heute auch schon aufgefallen im "Deutschland-sucht-den-Superhund-Thread"; offenbar sind die Kommentarkästen etwas enger gestrickt jetzt, es sei denn,
Herr Rothschild postet - der Post ist ja eigentlich recht geräumig (was mich keineswegs stört, ich habe ihn (aufmerksam, hoffe ich) gelesen-, an der Doktorarbeit bzw.Doktorwürde scheint das nicht zu liegen -derlei Anrede "verbietet" sich Herr
Rothschild ausdrücklich (an anderer Stelle)); sei es drum, ich werde mich dann ja vielleicht hin und wieder wirklich kürzer fassen (auf der möglicherweise eigenen Seite kann dann ja eine Rubrik "Anker und Züge" heißen, auf der Statements dann erläutert werden können, nach dem Motto: Ich erkläre mir selbst noch einmal, warum ich hier mich veranlaßt sah zu posten ("Anker", da auf diese Weise "Zarthäusers" auf
der dazugehörigen Seite dokumentiert werden können, wegen der größe dieser weltumspannenden Familie; "Züge" in der von mir gepfegten Schach- bzw. Bühnenbahnsteigsanalogie)). Fast, als würde "Signa" jetzt auch die Threadkästen
kontrollieren, hm..
Positionen der Dramaturgie: Quo vadis, Theaterland?
Fortsetzung:

Nur kurz zu diesem Thread:
Ich sehe in ihm das fortgeführt bzw. neu "angerissen", was schon die gesamte Spielzeit über in Richtung "Leitthema: Quo vadis, Theaterland ?" lief und ua. in der Theater-
treffenauswahl einen gewissen Niederschlag gefunden hat; an anderer Stelle hörten
"wir" zB. von "handlungsähnlichen Strukturen" (Matthias Schmidt), und ich gebe zu,
daß oftmals diejenigen Abende für mich die besten bzw. nachhaltigsten waren, bei
denen es ein spürbares Bemühen um solche gab ("Die Welt als Ende der Vorstellung" in der HH-Fassung zB. oder "Das Käthchen von Heilbronn" in der Dresdner Fassung). Da ich zum Theater in etwa, ohne es näher und zudem kurz
ausführen zu können bis dato, die Auffassung vertrete, daß es sich zur Kunst in etwa analog verhält wie die Philosophie zur Wissenschaft, betrachte ich den Ruf nach "mehr Kunst" sowohl mit Sympathie als auch mit Skepsis..
Positionen der Dramaturgie: Pflüge in die Forschung
1
Es ist jetzt an der Zeit sich zu befreien.
Nennen sie mich ruhig alle einen Klaun.
Theaterwissenschaft dient dem Theater und der Theater-Kunst.
Das Theater sollte an der Theater-Wissenschaft auch scheitern dürfen.
Die Theaterkunst stellt einen theatralischen
Spiegel des Lebens auf die Bühne.
Das Theater sollte dem Leben in dieser Zeit und sich selbst
Fragen stellen dürfen.
Was sollte man dem entgegenstellen:
Die Selbstbestimmtheit des Menschen ist fraglich geworden,
und daher auch sein Handeln.
Und so muss auch sein Handeln und damit auch das moderne Drama
und die Dramaturgie in Frage stehen.
Theater ist Kunst, und ein Gegenstand der Theaterwissenschaft.
Theater darf auch scheitern. Es scheitert auch, selbst wenn es nicht sollte.
Post-dramatische Theater-Behauptung hin -
postdramatische Theater-Be-Hauptung her,
rundherum das ist nicht schwer.- - (singt der Klaun).
Die Theaterwissenschaft kann das Theater an sich -
nicht für immer um-kremp-bellen.
Theater sollte von Künstlern be-ackert werden, und nicht von Nicht-
Künstlern.
Auch die Theaterwissenschaften sollten (müssen) ihre wissenschaftlichen Pflug-Geräte ins weite Theater-Feld setzen
und Theater-Feld-Forschung betreiben.
Immer mehr sind, die nicht mehr ins Theater gehen.
Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung ging noch nie, oder nur
höchst selten ins Theater.
Und das war schon immer so, in unserer Zeit.
Das übergroße Ausreizen der modernen und modernsten Mittel
und Moden des Theaters langweilt und enttäuscht sicherlich zuweilen.
Die Lebendigkeit des Theaters als Kunst, ist nicht zu überbieten.
Theater ist menschlich und all-zu-menschlich.



Positionen der Dramaturgie: Verdrängung der Handlung
2
Schauspieler sprechen zu Menschen im Zuschauerraum und agieren
auf der Bühne, auf den Brettern, die die Welt be-deuten,
so-fern solche noch vorhanden sind.
Theater ist ein wirkliches Spiel der Wirklichkeit oder(und)
der Imagination.
Hat das Theater noch immer seine Berechtigung?
Muss der Weg des heutigen Theaters gegangen werden?
Niemand sieht und weiß mit Sicherheit wohin er führt -
wohin führt uns der Weg des deutschen zeitgenössischen Theaters?
Das gegenwärtige Theater hat vielfach den Sinn des Spiels verloren.
Unwillkürlich denkt man dabei an Ionesco und sein Theater,
und an das Theater des Absurden.
Jedoch
das Theater besitzt eine u r e i g e n e K r a f t.
die nicht für immer verdrängt und vergessen werden kann.
Diese Kraft ist selbst noch in ihren modernsten und
extremsten Formen des Theaters zu erkennen.
Der so viel genannte Still-Stand und das Zuviel an Reflexion.
Stillstand der Kunst überhaupt und allgemein -
an ihre Stelle wird Philosophie gesetzt.
Das Zuviel an Reflexion (und nicht einmal Philosophie)
in den Texten auf den Bühnen.
Das abstrakte Theater. Das philosophische (reflektive)Theater:
die Handlung wird verdrängt.
Man sieht (vielleicht) Hamlet als eine theater-geschichtliche Haupt-Figur, die über ihr Nicht-handeln-Können reflektiert.
Hamlets Monologe und seine Unfähigkeit zu handeln.
Hamlet ist die Geschichte eines Mannes, der sich nicht entschließen konnte.

Auf den Bühnen der Bundesrepublik sieht alles gleich aus.
Das Deutsche Theater ist ein Spiegel für die in der Krise sich
befindende Gesellschaft. Das Theater spiegelt - reflektiert die üblichen üblen gesellschaftlichen Zustände
und deren geistige Langeweile vor gähnendem Abgrund.
Positionen der Dramaturgie: Das geschlossene Theaterwelt-Bild schwankt
Zu Franziska Kötz
(...dass wir kapitalistisch-materialistischen Suggestionen insofern auf den Leim gegangen sind, als unser Denken immer gegenständlicher geworden ist und wir demzufolge aus den Augen verloren haben, was "hinter den Dingen" liegt.)

Ich könnte ebenso auch sagen, mein eigenes Denken ist allmählich immer gegenständlicher geworden, durch die Beschäftigung mit den Dingen dieser Welt, und ich verliere mehr und mehr aus den Augen was hinter diesen Dingen liegt.
Was aber liegt hinter den Dingen? - Die Idee von den Dingen, denkt man sogleich. Diese Ideen aber wechseln, so wie die Vorstellungen von den Dingen - würde man meinen.
Nach Platons Ideenlehre aber, sind Ideen die ewigen Urbilder der Dinge.
Und in Kants Erkenntnistheorie sind Ideen Vernunftbegriffe, regulative "Leitgedanken" unseres Erkenntnisstrebens (nämlich: Seele, Welt, Gott), diese Begriffe haben keine objektive Gültigkeit, das heißt, sie decken nicht erkennbare Gegenstände, sondern sind Grenzbegriffe (Fiktionen), die den Aufbau eines
geschlossenen Weltbildes ermöglichen.

So kann man also wählen (hier nur Platon und Kant),
zwischen den ewigen Urbildern der Dinge, und (oder) den regulativen Leitgedanken unseres Erkenntnisstrebens, und die Begriffe etwa "Seele des Theaters", "Theater-Welt", "Gott des Theaters" usw., haben nach Kant keine objektive Gültigkeit und decken "nicht erkennbare Gegenstände", sind bloße Fiktionen, die den Aufbau eines geschlossenen "Theater-Weltbildes" ermöglichen.
Aber gerade dieses geschlossene Theaterwelt-Bild ist verloren gegangen, oder droht, schwankend sich zu verlieren...
Positionen der Dramaturgie: offen für Reorientierung
Aber genau das wäre doch das Fatale, wenn das "Theaterwelt-Bild" und damit einhergehend auch das Welt- und Selbstbild ein für alle Mal fixiert und abgeschlossen wäre. Wenn nur noch auf die Innerlichkeit der Gemeinschaft gesetzt und Politik mit Polizei identifiziert wird, dann wird die Politik zum Verschwinden gebracht. Die Politik, das ist die Veränderbarkeit der Form, welche ermöglicht, auch den Inhalt aus immer wieder neuer Perspektive zu betrachten. Das heisst, es gibt keine Trugbilder, sondern nur den Selbstbe-Trug bzw. die Selbst-Täuschung über eine Welt, welche angeblich immer schon so gewesen und weiterhin so sein und bleiben solle wie bisher. Die politische Gemeinschaft muss gegenüber einer abstrakten und technokratischen Ideologie offen für Reorientierung und den Streit um den "richtigen" Weg bleiben. Das Theater könnte diese neuen Möglichkeitsräume eröffnen.
Positionen der Dramaturgie: linkes oder rechtes Theater?
streit um den parteilich richtigen und gerichteten weg wahrscheinlich
was anderes ist denn politik?
was darfs denn sein - linkes oder rechtes theater?
und das politische theater ist doch immer noch der alte gute brecht-hut von vorgestern
da müsste sich einer schon einen neueren und freieren hut aufsetzen
zu dem fehlt aber der passende jüngere dramatische kopf
so weit man sehen kann
Positionen der Dramaturgie: Brecht-Texte wie eine Sonde
@ dirk: Warum soll Brecht von vorgestern sein? Ich könnte Ihnen einige aktuelle Brecht-Insenierungen nennen, welche dafür sprechen, dass Brecht absolut nicht von vorgestern sein muss, insofern man die Texte selbst und nicht die übergestülpte abstrakte politische Ideologie sprechen lässt. Die Brecht-Texte können wie eine Sonde in die gegenwärtigen Verhältnisse hineinreichen. Es geht um Tiefenbohrungen. Umwälzungen. Schicht um Schicht die offene Wunde freilegen. Offene Fragen, die gestellt werden müssen.
Dramaturgie, Franziska Kötz: lest Flahault, spielt Pommerat
mein gott (an den ich nicht glaube) kinder! müsst ihr immer nur um eure so preziösen nabel kreisen? ist der text von la kötz schon diffus genug, so diffundiert ihr ihn nur weiter ad infinitum. statt ihn zu lesen. so ist etwa aristoteles mitnichten der urvater unserer zunft! und theater setzt mitnichten auf den freien menschen und sein selbstbestimmtes handeln! würde es das tun, gäbe es kein drama. der satz jedoch über das unstillbare bedürfnis nach intensiver erfahrung - der stimmt! und was daraus folgt? lest doch die erkenntnisse der neurologen. lest francois flahault. lest oder besser noch spielt die stücke von joel pommerat.
Dramaturgie, Franziska Kötz: Wahrheit, Ich, das Tragische
@ derridirida: Wie kommen Sie denn jetzt auf die "preziösen Nabel"? Und dann selbst keine Antwort geben? Wer soll denn jetzt der "Urvater unserer (unserer?!) Zunft" sein? Nietzsche? Sie wollen zurück zum magischen Ritual, stimmt's? Zum Dionysos-Theater der griechischen Antike. Ja, man kann natürlich auch heute noch auf den kultisch-religiösen Moment des Theaters abzielen, man kann aber auch den weltlich-politischen Charakter hervorheben, wie zum Beispiel Brecht es tat.

Auch ich würde eher mit Hans-Thies Lehmann argumentieren, welcher das Tragische (im Theater) nach dem Zusammenbruch des metaphysischen Weltbilds folgendermaßen formuliert:

"Nur weil und wenn Wahrheit oder Sinn oder so etwas wie ein Ich oder eine Handlungsmöglichkeit auch etwas ist, was man wollen muss, was man nicht lassen kann, gibt es das Tragische."
Positionen der Dramaturgie: Einschließen, Eitelkeit und Angst
Vielleicht ist es vermessen, etwas zur Diskussion beizutragen, ohne alle Kommentare gelesen zu haben, aber trotzdem: Ein großes Problem von Dramaturgen und anderen Theaterschaffenden ist es, dass sie sich so sehr ins Theater einschließen und alles als intellektuell-verkopften Diskurs zerpflücken, dass sie es mit ihrem Programm nicht schaffen, ein Publikum zu erreichen, dass nicht selbst zum theaterschaffenden Volk gehört. Das andere, viel größere Problem bildet die Kombination aus Angst und Eitelkeit, von denen Dramaturgen und Intendanten fast wie besessen sind.
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