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… und unterm Dach das Paradies

von André Mumot

Hamburg, 28. April 2011. Die Welt wird sein, wie sie immer ist – ziemlich unromantisch und brutal. Aber immerhin geht sie ihren Gang irgendwo weit unten, wo wir ihr nicht zuschauen müssen. Nur eine Bodenluke öffnet sich, und das Ensemble verschafft sich Zutritt zu dem zweistöckigen Dachboden, der die Bühne des Thalia Theaters einnimmt: Spitz zulaufende Schrägen und schwere Holzbalken, all das schummrig beleuchtet, voller dunkler Winkel und Gerümpel, das sich zusehends vermehrt.

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Zum Beispiel, weil die alte Dienerin Anfissa (Ute Zäpernick) hin und wieder durchsichtige Säcke mit allerhand Krimskrams hier hinaufschleppt. Pelze liegen herum und Kleider in Klarsichtfolien, in der Ecke steht ein Klavier, das später nach vorn gezogen und bespielt wird. Denn auch die Figuren begeben sich wie Ausgemusterte in dieses aus der Zeit gefallene Refugium, um Geburtstag zu feiern, um nichts zu tun haben zu müssen mit der Realität – und um ihre seelischen Wunden zu lecken.

Das große Seufzen

Ein Schutzraum für die Lamentierenden ist dieser fabulöse Dachboden, ein Ur-Ort des Theaters, an dem Sehnsucht noch zelebriert werden kann und wo ein Panoptikum der Hypersensiblen die ihm angemessene Zuflucht findet: Tschechows drei Schwestern fungieren dabei als abgekämpft patzige, sich oft beschwerende Gastgeberinnen, die so launisch wie genussvoll Hof halten, während ihr Bruder Andrej (ein in verzweifelter Schüchternheit gefangener Sebastian Zimmler) an unzähligen alten Radioapparaten herumschraubt, ihren Sendungen aus der Ferne lauscht oder versonnen das Theremin spielt, jenes wunderliche elektronische Instrument, das zum ersten Mal 1921 öffentlich erklang – in Moskau. Dieser Stadt gilt natürlich auch diesmal das große Seufzen, auch wenn es ziemlich offenkundig ist, dass die Gesellschaft unterm Dach bereits ihr kleines melodramatisches Paradies gefunden hat.

© Armin Smailovic
Dachbodengeschöpfe: Cathérine Seifert, Lisa Hagmeister, Birte Schnöink  © Armin Smailovic

Vieles von dem, was es dort an Schauspielerei zu sehen gibt, ist schlichtweg wunderbar: Wenn der massige Josef Ostendorf als selbstgefälliger Schulmeister in Erwartung eines Kostümfestes mit Adventskranz auf dem Kopf und Lamettabrille auf den Augen von absurder Würde in jammervolle Selbsterniedrigung wechselt zum Beispiel. Oder wenn Birte Schnöinks gedemütigte Natalja Iwanowna sich erst damit blamiert, dass sie der unbarmherzigen Irina (Lisa Hagmeister) eine Geburtstagskarte schenkt, die beim Aufschlagen Tina Turners "Simply the Best" spielt, nur um später zur bösartig entflammten Patriarchin aufzusteigen. Ihr hasserfüllter Ausbruch, laut und schneidend und auf schreckliche Weise ergreifend, ist ein herzklopfender Höhepunkt. Einer von vielen.

Verkapptes Musiktheater

Denn Regisseurin Christiane Pohle gestattet beinahe allen Figuren solche Arien und macht aus Tschechows Drama kurzerhand verkapptes Musiktheater. Aus den Radios dringen Opernausschnitte, sinfonische Brocken greifen ins Geschehen ein und die meisten Figuren erhalten ihre ganz persönlichen Lieder: Der dem Alkohol verfallene Tschebutykin (Hans Kremer) schnauft ein giftiges "Heut geh ich ins Maxim", während Mascha (Cathérine Seifert) ungläubig lachend die Affäre mit Werschinin (Alexander Simon) beginnt und dabei wiederholt "Es wird einmal ein Wunder geschehen" anstimmt. Auch die "Moskau"-Hymne von Dschinghis Khan kommt kurz zum Einsatz, als ein scheiternder Versuch, Ausgelassenheit zu provozieren.

Ganze Passagen des Textes werden musikalisch verdichtet: Dialoge überlappen einander, Sätze werden leitmotivisch wiederholt, wütende Eskalationen ergeben ein furioses Crescendo, bei dem die Müllsäcke zerrupft werden und man den Inhalt eines Feuerlöschers versprüht. Dann wieder Stille. In den besten Momenten dieser kunstfertigen Montage ergibt sich schwerelose Poesie, ein tragikomisches Netz kostbarer Ausdrucks- und Interpretationsintensitäten, ein Auskosten feinster Regungen und bestürzender Charakterisierungen. Dann wieder nehmen die bravourösen Einzeleinfälle überhand, überfrachten das Beziehungsgeflecht und ziehen vor allem die Schlussernüchterung zu stark in die Länge.

Das Ende der Weltflucht

Die so zerbrechlich theatralischen Dachbodengeschöpfe müssen nämlich doch noch Kontakt aufnehmen mit der Realität. Hell erleuchtet ist der Speicher nach der Pause, alles Gerümpel wurde fortgeräumt, und Soljony schießt noch ein Gruppenbild zum Abschied. Keine Weltflucht mehr, die Zeit des Gefühle-Spielens scheint vorbei. Was bleibt, ist unbequem: "Bald werden wir wissen, warum wir leben und warum das so weh tut", sagt die großartig verbitterte Victoria Trauttmansdorff als Olga und wagt mit ihren beiden Schwestern an der Rampe noch ein letztes Tapferkeits-Pathos, bevor auch sie abgeht.

Entvölkert ist die Rumpelkammer. Nur noch die Radios stehen in Reih und Glied und fischen einige entseelte Tschechow'sche Textbrocken aus dem Äther. Hier ist also nichts mehr zu erwarten, keine Depressions-Romantik, keine Tränen- und Schmerzenskunst, keine Schönheit im Dahindämmern, keine nostalgischen Lieder. Nur noch die Welt, wie wir sie kennen.

 

Die drei Schwestern
von Anton Tschechow
Deutsch von Thomas Brasch
Regie: Christiane Pohle, Bühne: Annette Kurz, Kostüme: Maria Bahra, Musik: Mathis B. Nitschke, Dramaturgie: Sandra Küpper, Licht: Ralf Scholz.
Mit: Julian Greis, Lisa Hagmeister, Hans Kremer, Thomas Niehaus, Axel Olsson, Josef Ostendorf, Birte Schnöink, Cathérine Seifert, Alexander Simon, Victoria Trauttmansdorff, Sebastian Zimmler, Ute Zäpernick.

www.thalia-theater.de

 

Zuletzt sah man eher freie Annäherungen an Tschechows Drei Schwestern: 7 Schwestern in Berlin (She She Pop), Drei Western in Stuttgart (René Pollesch) und Nach Moskau! Nach Moskau! in Moskau, Wien und Berlin (Frank Castorf).

 

Kritikenrundschau

"Alles sehr beliebig, sehr unbeseelt – und sehr langweilig," schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (30.4.2011) Dubiose Regieeinfälle, konfuse Ideen zu Tschechow, vor sich hin manierierende Schauspieler, mehr kann der Kritiker in diesem Abend nicht sehen. Lediglich das Bühnenbild von Annette Kurz erfährt zumindest eine dezent positive Würdigung.

"Nein, diese 'Drei Schwestern', die am Donnerstag in der Regie von Christiane Pohle Premiere hatten, sind kein Gewinn für das Thalia-Theater," schreibt Armgaard Seegers im Hamburger Abendblatt (30.4.2011). Denn so langweilig, farblos und uninteressant wie hier, so desinteressiert aneinander dürfen sie aus Kritikerinnensicht einfach nicht sein. "Sie spielen nicht miteinander, sie sind isoliert. Es gibt keinen Wechsel von Geheimnis und Direktheit, von Stille und Ausbruch, von Unruhe und Gelöstheit. Temperament heißt hier Geschrei. Und Ruhe wird mit dem Nichts verwechselt." "Wer sind diese Menschen, die da über das Vergehen der Zeit und der Illusionen auf der Bühne aneinander vorbeireden?" fragt sich Seegers auch, "wo leben sie? Wann und wo spielt diese Inszenierung? Statt eines großen Gesellschaftspanoramas, statt Menschen, die vor Langeweile und Faulheit ersticken, die sie mit sinnloser, halb schlaftrunkener Geschäftigkeit übertünchen, wuseln und wurschteln hier Figuren durcheinander, die weder zueinander noch zum Publikum eine Beziehung aufbauen können." Was für sie das Schlimmste an diesem Abend ist: "Diese Menschen haben nichts Großes, an dem sie scheitern. Sie haben nichts Kleines, das sie kümmerlich aussehen lässt. Und selbst das Mittelmaß, das sie gewöhnlich und dennoch liebenswert machen könnte, ist ihnen fremd. Diese Menschen, so wie sie hier auf der Bühne stehen, sind leer, und sie haben keine Würde."

"Tschechow light? Gerne. Man muss sich nur trauen," freut sich dagegen Werner Theurich auf Spiegel-Online (29.4.2011). "Die eckigen Liebesszenen mit slapstickartigen Bewegungen sind ein Beispiel für die eingestreuten Personenregie-Einfälle, mit denen Christiane Pohle den Klassiker würzt." Es gelinge auf diesem Weg der Regie beständig, Innenleben als schnell sichtbar zu machen. Besonders beeindruckt den Kritiker, "wie der gewichtige Josef Ostendorf diese fleischgewordene Elegie von einem Mann spielt, mit sanft singender Stimme und Mut zur physischen Burleske, ist bewegend schön, zart und markant." Gefeiert wird auch das Bühnenbild: "Ein Setting wie gemacht für eine phantasievolle, surreale Neuaufstellung dieser Provinzgemeinschaft, die vom Umzug in die Salons von Moskau träumt, während aus sämtlichen Schmutzecken längst das baldige Absinken in den Staub kleinbürgerlicher Lehrerexistenzen prophezeit wird. Selten war die Patina des vergeblichen Wartens auf den Glanz alter Tage schöner durch ein Bühnenbild vorbereitet."

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