Die Unergründlichkeit des Menschen

von Lutz Stirl

Berlin, Oktober 2007. Heinrich von Kleist war ein schwieriger Mensch. Und er wird es für seine Biografen bleiben. Gerhard Schulz, Emeritus für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Melbourne, ist dabei der richtige Partner für alle, die in makellosem Stil in die Kleist-Forschung eingeführt werden wollen – seine "Enigma-Variationen" zur bis heute rätselhaften Würzburger Reise Kleists bilden den Höhepunkt seiner Monografie.

Schulz stützt sich in seiner ausgreifenden Darstellung wesentlich auf die Korrespondenz Kleists, der sich darin als ein Meister der Manipulation wie Autosuggestion gezeigt hat. Von den ersten Briefen des preußischen Gefreiten-Korporals an werden hier laut Schulz auch Schreibübungen eines Schriftstellers sichtbar. Bisweilen rücksichtslos für die Empfänger, aber doch immer beispiellos auf jene bezogen, entwirft Kleist quasi unterwegs und beim Reden Bausteine seiner späteren Poetik.

Eine feinnervige Chronik

In diesem tradierten Muster schult und demonstriert er sein enormes Formbewusstsein. Wie die Briefe werden für Schulz dann auch Kleists Werke zum Tummelplatz des Inkommensurablen, der Sprachskepsis und der Lust am Spiel mit dem Adressaten, das Schulz mit philologischer Akribie verfolgt. Um die so entstandene feinnervigen Chronik folgen zu können, sollte der Leser für den Gegenstand allerdings längst gewonnen sein, da Schulz allezeit einen distanzierten, bisweilen teilnahmslosen Ton pflegt.

Jens Biskys Biografie kommt zwar nicht zu grundsätzlich anderen Ergebnissen, meidet allerdings den hohen Ton der Wissenschaft. Er hat Mut zur schönen Formulierung, zur These, zur Anekdote, ohne Spekulationen Raum zu geben. Die Darstellung ist werkeinführender und politischer, sie widmet sich interessiert den handelnden Personen und bietet immer wieder Kurzanalysen, wovon vor allem die Betrachtungen zum preußischen Königshaus und dessen Politik bestechen.

Ein agonaler Mensch

Heinrich von Kleist, so Bisky, wurde von der ständischen Welt entlassen, hat sich von ihren Forderungen aber nicht emanzipiert. So trat er beständig als Hasardeur, sich neu Erfindender, von vorn Beginnender, als agonaler Mensch auf. Kleist hat einerseits die Quintessenz der Aufklärung verinnerlicht – sein "Liebesprogramm" für Wilhelmine von Zenge belegt dies eindrucksvoll –, andererseits aber ihre Dialektik erfahren. Und so wird ihm der Ausnahmezustand zur Folie einer Art Überwältigungsästhetik.

Aber, und das ist wohl der modernste Zug seines Schreibens, bleibt auch der Ausnahmezustand ohne Einlösung, bleibt also im Konjunktiv. Das ist jener Aspekt, dem sich ein Essay von Adam Soboczynski widmet, in einem wunderbar Preußischblau ausgestatteten Buch übringens, das die analysierten Erzählungen übrigens gleich mitliefert. Ein Buch, das die Struktur jenes durch den Ausnahmezustand herbeigeführten Geheimnisses durchleuchtet.

Eine Kunst der Verstellung

Kleists Poetik pendele, schreibt Soboczynski, zwischen einem secretum (einem detektivisch lösbaren Geheimnis) und einem mysterium (etwas Substanziellem, prinzipiell nicht darstellbaren und deutbaren Geheimnis). Damit knüpfe Kleist im Gegensatz zum herrschenden ästhetischen und sozialen Diskurs an ständische Verhaltensmuster an, nämlich an das höfische Spiel, die Verstellungskunst: Immer scheint dem Leser, ein secretum vorzuliegen, bis er erfahren muss, dass es sich um ein mysterium handelt.

Das Allgemeinmenschliche – und das trifft auf den Autor wie auf die Figuren zu – ist also auch in Soboczynskis Überlegungen eine Einheit aus Unentschiedenem und Widersprüchlichem. Die prinzipielle Unergründlichkeit der menschlichen Natur sträubt sich gegen die aufklärerisch-moralische Transparenzforderung. Für Kleist gehört die Raserei zur Vernunft, die Lüge zur Sittlichkeit wie der Tod zur Liebe – und oft zeigt sich das eine erst im anderen.


Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. C. H. Beck 2007. 608 Seiten. 26,90 Euro.

Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Rowohlt Berlin 2007. 528 Seiten. 22,90 Euro.

Adam Soboczynski: Versuch über Kleist. Die Kunst des Geheimnisses um 1800. Matthes & Seitz Berlin 2007. 320 Seiten. 28,90 Euro.

 

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