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Potenzialvergeudung

von Sabine Leucht

München, 5. Mai 2011. Dieser Abend hat eine gute Idee und zweieinhalb schöne Bilder. Die Idee ging ihm schon früh verloren, und von den Bildern ist eines etwas peinlich: Da steht Sylvana Krappatsch als Königsmutter Atossa schon länger vor einem rechteckigen Wasserloch, Stefan Hunsteins Boten lauschend, der verbal Schrecken auf Grauen auf Tode häuft. Und als er an die Stelle kommt, wo es in Durs Grünbeins Aischylos-Übersetzung heißt: "Das ganze Heer ist vernichtet", springt Atossa ins Loch - um im abgerissenen Lara-Croft-Look wieder herauszuklettern: Tata! Das papierne Gewand der Barbaren-Majestät war offenbar wasserlöslich.

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In der Flüchtlingsunterkunft

Selbst wer derlei Überraschungen mag, wird nicht unbedingt glücklich werden mit Johan Simons Inszenierung der "Perser" an den Münchner Kammerspielen, die für ihr erstes sogenanntes Stadtraumprojekt an die Peripherie gezogen sind. Simons, dieser offenherzige Regisseur und Intendant, will seine Kunst auch unter Menschen bringen, die es selten gen Maximilianstraße zieht. Darum werden "Die Perser" in der ehemaligen Bayern-Kaserne in Freimann gezeigt, die heute teilweise als Flüchtlingsunterkunft dient. Und junge Flüchtlinge, ebenso wie ältere Anwohner dieser wenig privilegierten Gegend, stehen auch auf der Bühne. Wo sie leider ebenso sehr Fremdkörper bleiben wie Krappatschs folgenreiche Wasserung.

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© Andrea Huber

Dabei war der Gedanke gut: Menschen, die den Weltkrieg oder jüngere Gräuel in Bosnien, Somalia, Uganda oder dem Irak erlebt haben, mit theaterliterarischen Figuren in Kontakt treten zu lassen, die die dürftigen Scherben einer vernichteten Stadt, ja einer ganzen Kultur zusammenklauben. Doch Kontakt findet nicht statt. Die Statisten mit den sicher berührenden, aber unerzählt bleibenden Geschichten sind größtenteils Manövriermasse, stehen mal hier, mal dort herum oder sitzen auf den sandsackgepolsterten Paletten, die Ruheinseln bilden in der ansonsten leeren, kalten Halle. Man friert dort sicher auch auf der Bühne, und der Text des ältesten überlieferten Theaterstückes ist so spannend nicht, wenn man ihn zum wiederholten Male hört.

"Nowhere to go"

Aischylos, der bei der Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr. auf der Seite der siegreichen Griechen kämpfte, schildert die Tragödie der unterlegenen Perser so detailliert, dass man den Eindruck hat, er habe keinen erledigten Heldennamen auslassen wollen. So empathisch, so ermüdend aber auch. Doch zwei Mal bekommt das Freimanner Perservolk auch selbst etwas zu tun: Als es eine schützende Menschentraube um Hildegard Schmahls Ein-Frau-Ältestenchor bildet, öffnet sich im schwindenden Licht eine Tür vor ihm, und hinter dieser Tür verschwimmen die überilluminierten Umrisse Wolfgang Preglers beinahe mit dem Hintergrund. Der alte König spricht aus dem Totenreich zu den Letzten seines Volkes. Endlich ein halbschönes Bild!

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© Andrea Huber

Ein ganzes entsteht, als das Volk ein einziges Mal zu Schlagwerk und Cello (Carl Oesterhelt, Salewski, Mathis Mayr) ein wunderbar schleppendes Klagelied anstimmt. Und das war's auch schon. Einzelne Kinder dürfen sich einzelnen Schauspielern nähern, ohne dass man je den Eindruck hätte, sie würden von ihnen wahrgenommen. Und ein Kind springt elfenhaft herum, als der Text bessere Zeiten beschwört. Das aber wirkt in seinem Kitsch ebenso hilflos und ärgerlich wie das Abstellen der doch offenbar ausgesuchten Bühnengäste am Hallenrand. Und wenn eine junge Afrikanerin auf Xerxes' Aufforderung hin, nach Hause zu gehen, "nowhere to go" erwidert, kommt dieser Realitäts-Einbruch so plötzlich, dass man fast erschrickt.

Bloß Manier

Was nur war mit dem sonst so sensiblen Johan Simons los, der sich hier nicht mal als guter Arrangeur der Massen erweist, wie ihn Christian Stückl alle Jahrzehnte wieder in Oberammergau gibt? Wenn er zeigen wollte, wie selbstbezogen und überflüssig die Kunst prächtiger Schauspieler wirken kann, wenn sie im Versuch, sich jede Form naturalistischer Verzweiflung vom Leibe zu halten, auch die Menschen nicht mehr sehen, so ist ihm das gelungen. Und weil angesichts dieser Vergeudung von Potenzial (und Lebenszeit) selbst das zwischen Ironie und Übergeschnapptheit changierende Gurren in Sylvana Krappatschs Stimme bloß manieriert wirkt, kann man sich auch nicht recht darüber freuen, dass Nico Holonics mit der Rolle des Xerxes endlich im Ensemble angekommen zu sein scheint. Neigte er bei seinen ersten Auftritten nach dem Wechsel vom Volkstheater an die Kammerspiele sehr zum Überagieren, spielt er den von Ehrgeiz, Hochmut und göttlicher Erziehungsarbeit geschlagenen jungen König mit wohldosiertem Tremor - und allenfalls angemessen manieriert.

 

Die Perser
von Aischylos, wiedergegeben von Durs Grünbein
Regie: Johan Simons, Bühne: Eva Veronica Born, Johan Simons, Kostüme: Greta Goiris, Musik: Carl Oesterhelt, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Malte Jelden, Projektleitung: Karen Breece.
Mit: Rania Abdulkarim, Reyhan Abdulkarim, Isra Haitham Hussein, Afra Haitham Hussein, Chenar Hamid, Peter Hartel, Nico Holonics, Walter Hub, Stefan Hunstein, Bruno Jäger, Barbara Klipstein, Sylvana Krappatsch, J. L., Rosemarie Leidenfrost, A. M. M., Mathis Mayr, Adnan Mujic, Dzana Mujic, Kalikedan Mulugeta, Carl Oesterhelt, Angelika Pietrzik, Wolfgang Pregler, Anis Puhovac, Salewski, Hildegard Schmahl, Jasmina Taric, Jürgen von Salisch, Theodora Winter, Christof Yelin.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr Inszenierungen von Die Perser: gab es zuletzt von Marcus Lobbes am Theater Dortmund im Oktober 2010; als Bestandteil von Claudia Bosses "2481 desaster zone" im Oktober 2009 in Wien; im Juli 2009 wiederholte Dimiter Gotscheff beim Epidauros Festival in Griechenland noch einmal seine berühmte Perser-Aufführung aus dem Deutschen Theater von 2007.

 

Kritikenrundschau

"Johan Simons inszeniert in einer Münchner Kaserne 'Die Perser' von Aischylos - und überzeugt mit Empathie", so läutet die Unterzeile Christine Dössels Rezension in der Süddeutschen Zeitung (7.5.2011) ein, die erstmal mit der Beschreibung des gespenstisch verlassenen Spielorts beginnt. "Man muss das alles erzählen, weil es ein wesentlicher Teil des Inszenierungskonzepts ist und man diese vagen Eindrücke von Flüchtlingselend und dem abwesenden und doch so nahen Krieg als Gestimmtheit mitbringt." Dass Menschen im Jahr 2011 in einer kalten Halle zusammenkommen, um spürbar gespannt und gebannt dem 2500 Jahre alten Text zu lauschen, "das ist eine Qualität, für die man das Theater lieben muss. Es ist auch und gerade dieser Aspekt, der einem Achtung abringt vor Simons menschenfreundlicher, (Welt-)Gemeinschaft stiftender, in Demut vor dem Drama sich verbeugender Inszenierung." Seinen Migranten- und Greisen-Chor bringt Simons als stumme Schar von Zuhörern unter stimmgewaltiger Anführung von Hildegard Schmahl sehr dezent zum Einsatz. "Ja, die Gefahr des Migranten-Kitsches besteht! Aber in der Regel umschifft sie Simons und findet, unterstützt von einem Musiker-Trio mit Schlaginstrumenten und Cello, schnell wieder zu seinem Urvertrauen in den Text."

"Johan Simons glaubt an die Aura des authentischen Ortes", schreibt Erik K. Franzen in der Frankfurter Rundschau (7.5.2011), "er schickt sein Ensemble aus dem Jugendstil-Haus in der Maximilianstraße in die Peripherie des Stadtraums, um 'Die Perser', die Kriegstragödie des griechischen Autors Aischylos zu spielen", in das Stück, in dem der Krieg aus der Perspektive des vernichteten Gegners, also aus dem Blickwinkel der trauernden persischen Opfer, erzählt werde. "Der so erreichte Empathie-Kick ist auch in der Inszenierung von Simons zu spüren. Es gelingt ihm, die Tranquilizer-Gefahren der Tragödie zu umschiffen, die schon in den teils langatmigen chorischen Klagen schlummern". Simons kreiere einen Chor der Kriegskinder, gespielt von Laien. Dazu gesellen sich "deutsche Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs aus München und aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches", heißt es in der Rezension. Und da "schlüpft Simons in das Gewand des Aischylos, der den geschlagenen Feind nicht abwertet, sondern dessen Tragik behutsam beleuchtet".

Genau dieser oben beschriebene Chor habe, so Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.5.2011), abgesehen von ein paar leise chorisch gemurmelten Feldherrnnamen und einem kleinen Lied am Schluss "nichts zu sagen". "Seine Authentizität und Echtheit ist ein Kammerspiele-Schmock-Etikett: Es tut so echt und ist doch so falsch. Die Laienleutchen werden zum Schmuckwerk für ein sogenanntes kritisches Bewusstsein, das sich mit ihnen als Realitätspartikel schmückt, ohne ihnen eine wirkliche Chance zu geben, ins Spiel zu kommen. Die Ausbeutung, die ihnen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerfährt, wendet das Theater genauso auf sie an - nur eben mit seinen Mitteln." Die Regie von Johan Simons könne trotz allem Gesellschaftsgetue mit dem Gesellschaftlichen dieses politischen Urdramas nichts anfangen.

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