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Alles irre oder was?

von Mounia Meiborg

München, 7. Mai 2011. So sieht sie also aus, die Irrenanstalt von morgen. Klinisch rein, der Boden und die Wände mit grauen Schaumpolster-Quadraten verkleidet. Die Patienten schlafen im Stehen und mit k.o-Pillen. Und das Personal? Das registriert per Monitor jede Regung der Patienten, bleibt aber selbst unsichtbar. Stattdessen schickt die Schwester mit computerhafter Stimme ihre Anweisungen (Frühstück! An die Arbeit! Schlafen!) durch die Lautsprecher.

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Der mündige Patient

Entworfen hat diese moderne Psychiatrie der Regisseur Simon Solberg. Seine Theater-Adaption von "Einer flog über das Kuckucksnest" beruht auf dem Roman von Ken Kesey, der fast 50 Jahre alt ist, und dem Film-Klassiker von Milos Forman, der 35 Jahre alt ist. Der Stoff musste also erstmal entrümpelt werden. Deshalb gleicht die Bühne des Münchner Volkstheaters einem grellen Überwachungsstaat; deshalb werden die Insassen zu Yoga-Übungen und Familienaufstellungen gezwungen. Und deshalb macht einer von ihnen Mätzchen, als es darum geht, die Pille zu schlucken: "Ich habe ein Recht zu wissen, was da drin ist! Ich bin Konsument!"

Nachdem dann noch einer über die vermeintlich Normalen der Gesellschaft, nämlich die Besitzer von Payback- und Bahncomfortkarten, geschimpft hat, und ein anderer vergeblich sein Seelenheil bei "Schwester Angela, Schwester Ursula, Schwester Guido", also im deutschen Kabinett, gesucht hat – danach ist das Ideenfeuerwerk in Sachen aktuelle Interpretationsansätze auch schon abgefackelt. Übrig bleibt: Ein Stück, das mit altertümlichen Psychiatrie-Methoden wie Elektrokrampftherapie und Lobotomie nicht mehr so recht ins Jahr 2011 passen will.

Diagnosen

Und eine große Gaudi, die über dieses Stück hinwegfegt, nach dem Motto: Wer bin ich und wenn ja, wie viele Gags? Dabei liefern sich alle Beteiligten ein heißes Kopf-an-Kopf-Rennen. Die sechs Darsteller pflegen die Marotten ihrer Figuren wie andere Menschen ihr Blumenbeet. Da ist Martini (Johannes Schäfer), ein Hiphop-Typ mit Kopfhörern und Basketball-Shirt, der mit dem Kiffen vermutlich schon in der Grundschule angefangen hat. Geblieben ist ihm ein nervöses Zucken am Auge (Diagnose: Psychose) und der Drang, zu rappen statt zu reden. Das macht er mal in Proletenart à la Sido ("Fotze! Möse!"), und mal, indem er Fanta 4 imitiert; insgesamt kann er das ziemlich gut. Da ist Harding, den Jan Viethen als geschniegelten Opportunisten spielt. Praktischerweise trägt er am Gürtel seines grauen Anzugs eine Klopapierrolle, mit der er sich nach Belieben die Schuhe und die Uhr polieren kann (Diagnose: ausgeprägter Kontrollzwang). Und da ist der Häuptling Bromden (Özgür Karadeniz), ein Mann, der sich taubstumm stellt und den die anderen für schizophren halten (Diagnose: ziemlich gesund).

Messias, Moderator, Manipulator

In diese Gemeinschaft platzt McMurphy, ein Häftling, der sich verrückt stellt, um seiner Gefängnisstrafe zu entgehen. So ist das jedenfalls im Film. Da spielt Jack Nicholson einen Freigeist, der gegen die unsinnigen Regeln der sadistischen Oberschwester Ratched aufbegehrt. Wenn McMurphy die Bühne des Volkstheaters mit einem "Was ist das für ein Irrenhaus hier!" betritt, ist das anders: Vielleicht ist er der Irrste von allen. Jean-Luc Bubert spielt McMurphy mal als einen hippiehaften Messias, mal als schmierigen Moderator, mal als Manipulator, der die anderen Patienten inszeniert, wie es ihm gefällt – zum Beispiel, indem er sie als gackernde Hühner über einen Bauernhof laufen lässt, angeblich um ihnen einen gruppendynamischen Prozess zu verdeutlichen. Was der Darsteller Bubert mit der Figur McMurphy genau will, ob dieser gesund sein soll oder krank, leidend an sich selbst oder an seiner Umwelt, das bleibt offen.

So viele Gags

Es ist ja auch keine Zeit dafür. Schließlich beschreibt Bubert die Wände mit Rebellionsliteratur, turnt an Lampen herum, windet sich gefoltert am Boden. Und das Publikum ist auch völlig damit beschäftigt, die Songs von Michael Jackson, Britney Spears, Queen und, Achtung, jetzt mal Klassik! Edvard Grieg, zu erraten, während der Schauspieler Max Wagner noch mal schnell Martin Luther King gibt und ein anderer Schauspieler sein Gesicht auf einen Kopierer legt, was ja vielleicht auch irgendwie Ausdruck ist für die Störung seiner Figur, aber da kann man jetzt nicht drüber nachdenken, denn ein anderer rennt gerade in Slow Motion an die Bühnenrampe und rettet wie Bruce Willis die Welt, während ein bebrillter Jüngling und ein dicker Mann, der mit einem Teppichfransen-Kleid als Frau verkleidet ist, mit den Worten "Sie dürfen die Braut jetzt ficken" vermählt werden, und dann hört man Fukushima und Papua-Neuguinea, im selben Satz, und plötzlich kommt wieder dieses wilde Gypsy-Lied, ist das nicht aus einem Tarantino-Film?, und alle sechs Darsteller rennen wie ferngesteuerte Spielzeug-Autos durcheinander.

Wer könnte da noch Inhalt erwarten? Eben.

 

Einer flog über das Kuckucksnest
nach dem Roman von Ken Kesey und dem Drehbuch von Dale Wassermann
Regie und Bühne: Simon Solberg, Mitarbeit Bühnenbild: Alexa Klett, Kostüme: Katja Strohschneider, Musik: Johannes Schäfer, Dramaturgie: Kilian Engels.
Mit: Jean-Luc Bubert, Özgür Karadeniz, Justin Mühlenhardt, Johannes Schäfer, Jan Viethen, Max Wagner.

www.muenchner-volkstheater.de

 

Andere Inszenierungen von Einer flog über das Kuckucksnest gab es im Februar 2008 in Bochum, dort inszenierte Jorinde Dröse. Und im Januar 2008 im Maxim Gorki Theater. In Berlin inszenierte Jan Jochymski.


Kritikenrundschau

Bei Simon Solberg werde "die vierte Wand gestürmt" berichtet Sabine Leucht für die Süddeutsche Zeitung (9.5.2011); "die am Ende noch lebenden 'Irren' springen über die Rampe in den Zuschauerraum." Es gehe dabei völlig in Ordnung, "dass das Solberg-typische Regieideen-Feuerwerk zu selten auf einen Einfall verzichtet und deshalb so manchen Gag selbst um seine Wirkung bringt", denn "erstens verträgt ein in die Jahre gekommener Gebrauchstext durchaus etwas Klimbim. Zweitens kann man mittlerweile obsolete Praktiken wie Lobotomie und Elektroschocks gerne als flammende Zeichen massiver Intimitätsverletzungen zirkus- und geisterbahnhaft überzeichnen. - wenn man dafür auf die subtileren Zurichtungen und ganz alltäglichen Normierungsmaßnahmen fokussiert." Hinzu komme, dass hier ein "grandios entfesseltes Ensemble" punktgenau agiere. "Vor allem Buberts erstaunlich weicher, sensibler McMurphy, der sich nur ab und an Irrengesichter und -Aktionen anzieht wie ein Gruselclown" lasse die Filmvorlage "und selbst Jack Nicholson keinen Moment vermissen."

Eine "lautstarke Action-Dauerparty" verfolgte Gabriella Lorenz für die Münchner Abendzeitung (8.5.2011). Zwar werde damit "an der Patina" der Romanvorlage wie an der, die der Film angesetzt habe, gekratzt. "Aber der Versuch, das Stück mit viel HipHop und plakativen Polit-Anspielungen ins Heute zu ziehen, bleibt in oberflächlicher Amüsierwut stecken, die auf jugendliches Publikum zielt. Das bedankte sich mit Premieren-Beifallsgekreisch." Pop-Musik werde mit "unreflektiert stehengelassenen Fremdtext-Zitaten von Stéphane Hessels 'Empört Euch!' bis Karl Marx' 'Kapital'" angereichert und "mit der überbordenden Spiellust seiner Darsteller" vorgetragen. "Nur erschlägt die wilde Action häufig den Text, und die Frage, wer in dieser Gesellschaft eigentlich die Normalen und die Verrückten sind, bleibt offen."

Solberg inszeniere für den "Schnell-Checker im Zuschauerraum", schreibt Michael Schleicher für den Merkur (8.5.2011). "Wer das wilde Zitieren und Kompilieren nicht mag, für wen Anspielungen und Assoziationsketten zu schnell vorbeirauschen, der wird bei dieser Art Theater untergehen." Wer sich allerdings drauf einlässt, entdeckt: "Simon Solbergs Wahnsinn hat Methode." Wie in früheren Inszenierungen nur diesmal noch weitaus näher an der Vorlage verfolge Solberg hier sein Thema der "Machtverhältnisse"; er "seziert Formen der Unterdrückung in der Gesellschaft, kreidet den Terror der Mächtigen an, um sich über die (scheinbare) Ohnmacht der kleinen Leute aufzuregen." Auf dieses Thema seien alle Fremdtexteinschübe ausgerichtet, weshalb der Abend weit mehr als "Krawall und Klamauk" biete, zumal er mit Schauspielern aufwarte, "die mit Energie und Witz seine unterhaltsame Feier des Geistes und der Gosse zelebrieren."



Kommentare  
Einer flog übers Kuckucksnest, München: Lachen als Krankheit
Eine Kritik ganz im Sinne "einer langen Tradition des Generalverdachts gegenüber dem Lachen (und dem allzu auffälligen Weinen) im Feld der Populärkultur.", wie es bei Alexander Horwath heisst - ich möchte gar nichts anderes, als ein ausführliches Zitat von diesem als Entgegnung posten - vielleicht fiele es leichter, auch "eine politische Tiefendimension in dieser Adaption" auszumachen, wie es in der Kritikenrundschau-Ankündigung heisst, wenn Sie einmal folgendes rezepierten:

„Fun ist ein Stahlbad", lautet die Losung in einem der brillantesten, einflussreichsten Texte des 20. Jahrhunderts. „Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig. Lachen in ihr wird zum Instrument des Betrugs am Glück. ln der falschen Gesellschaft hat Lachen als Krankheit das Glück befallen und zieht es in ihre nichtswürdige Totalität hinein." Was Theodor Adorno und Max Horkheimer in ihrer Analyse der Kulturindustrie — geschrieben in „Los Angeles, California, Mai 1944" — artikulieren, gehört nicht nur der Dialektik der Aufklärung an, sondern auch einer langen Tradition des Generalverdachts gegenüber dem Lachen (und dem allzu auffälligen Weinen) im Feld der Populärkultur. Die prophetische Vision dieses Buches ist nicht zu übersehen, die postmoderne Medienzivilisation und Spaßgesellschaft sind darin vielfach und durchaus plastisch vorgezeichnet. Gleichzeitig wirkt der Text, als wäre er selber von jenen Symptomen „befallen“, die er konstatiert: Die "Totalität der falschen Gesellschaft" bringt ein fundamentalistisches „Denken als Negation“ hervor, das kaum Sinn für die komplexeren Kräfte hat, die in der Unterhaltung wirken können: das Spiel, die Ironie, die List, die Auflehnungen des Alltags, die Strategien individueller Wunscherfüllung, die Freude an der Illusion und daran, sie gleichzeitig als Trug zu durchschauen“ (Klaus Kreimeier) Zumindest im Alltagsgebrauch ist komisch nicht nur ein Begriff für das Lustige, sondern auch für das, was nicht zu „stimmen“ scheint, was nicht übereinstimmt mit den Angaben der herrschenden Ideologie. Das vorliegende Programm über „transgressive" US-Komödien ist dieser zweiseitigen Idee des Komischen gewidmet etwas, das Lachen macht und zugleich Abgründe, Widersinn, Irritation, Zweifel, Aufklärung bereithält.

(Alexander Horwath, “Komisch”, in: The Unquiet American - Transgressive Comedies from the U.S., Österreichisches Filmmuseum, Oktober 09)
Kuckucksnest. München: Was passiert beim Lachen
Lachen ist befreiend, und kann das angespannte, gewöhnliche Alltags-Bewusstsein erleichtern und entspannen, ohne dass es andauernd gezwungen ist daran zu denken, dass Unterhaltung nur unterhaltende Illusion ist, Loslösung aus dem arbeitsamen Alltag, individuelle und kollektive
Wunscherfüllung - ohne dass es zwanghaft Unterhaltung als Trug ständig durchschaut, was durch den dadurch entstehenden kritischen Abstand,
unmittelbare Unterhaltung durchbricht, stört, und distanziert...
(das missgelaunte und oft depressive kritische Bewusstsein, welches, ständig reflektierend, zu keiner Freude mehr fähig ist).
Komisch, bis zum Grotesken, ist auch, was nicht zu stimmen scheint, es ist aber nicht lustig, weil Unstimmigkeiten nicht Lust,
sonder Un-Lust bereiten
in der krankmachenden "Totalität der falschen Gesellschaft"
(und daher ihrer Wirklichkeit) postmoderner Medienzivilisation
und verrückter SpaSS-Gesellschaft.
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