Blick zurück in eine andere Umbruchszeit

von Christian Desrues

Wien, 7. Mai 2011. Eine Zeit endet, bevor die Neue reif ist zu beginnen. Darum geht es in Tschechows frühem Meisterwerk "Platonov" oder, wie der Autor es in einem Brief an seinen Bruder Aleksandr nannte, "Die Vaterlosen".

platonov_georgsoulekMartin Wuttke in der Titelrolle © Georg Soulek

Das Gut Vojnicevka am Tag vor seiner Versteigerung. Im Salon der Vojnicevs treffen nacheinander Menschen ein, die befreundet oder zumindest bekannt mit der Gutsherrin, der gebildeten und gelangweilten Generalswitwe Anna Petrovna (beeindruckend hilflos autoritär, Dörte Lyssewski) zu sein scheinen. Selbstsicher, selbstherrlich, laut gebaren sich alle. Die Gespräche wirken bemüht, auf der Suche nach Geistreichtum, sind aber in Wahrheit bloß aneinander gereihte Platitüden von Leuten, die weder ihre eigene Rolle, noch die Zeichen der Zeit in der sie leben zu erkennen und einzuschätzen vermögen.

Im Salon der Generalin

Die Alten schwelgen in der Vergangenheit - souverän in seiner Naivität und Arroganz Porfirij Semenovic Glagoljev, (Peter Simonischek), die Jungen flüchten sich in zweifelhaften Humor - witzig lästig Nikolaj Ivanovic, Arzt und Offizierssohn (Martin Reinke) oder sind einfach schlichte Wesen, die sich dem Müssiggang auf einem russischen Landgut im Frühsommer hingeben. Die Ausnahme: der verarmte Gutsherrenspross und nunmehrige Dorfschullehrer Michail Vasiljevic Platonov. Alle scheinen ihn sehnsüchtig zu erwarten, vor allem die drei Frauen, aber auch die Männer, wenn auch aus offensichtlich anderen Gründen.

Platonov ist auf den ersten Blick der zynische Intellektuelle, der den anderen den Spiegel vors Gesicht hält, den Damen auch noch etwas Anderes. Nur seine hingebungsvolle Gattin Sasa (Sylvie Rohrer) will seine verdorbene Natur nicht wahrhaben und hält ihn für einen anständigen Menschen. Dabei gibt sich Platonov jede erdenkliche Mühe, seine eigene Verderbtheit und Hoffnungslosigkeit offenzulegen, zu beweisen. Bloß, es will ihm nicht gelingen. (Eine komödiantische, auch im physischen, Glanzleistung von Martin Wuttke!) Keiner nimmt ihm etwas lange übel, nicht einmal der idealistische, schüchterne Sohn des reichen Juden Abram Abramovic Vengerovic, der Student Isaak (hinreißend: Fabian Krüger). In einer großartig alkoholisierten Szene im dritten Akt versucht er schließlich mit allen Mitteln Platonovs Freundschaft zu erlangen, umsonst.

Die Frauen sind klüger

Die vier Damen, Dörte Lyssewski, Johanna Wokalek, Yohanna Schwertfeger, Sylvie Rohrer (fünf, mit der Kammerzofe Katja, Brigitta Furgler!) verkörpern eben so viele Charaktere, die sich nur auf den ersten Blick von dem romantischen Nihilisten Platonov täuschen lassen. In Wahrheit durchschauen sie ihn alle mehr oder weniger (Sasa), aber sie lieben ihn dennoch und trotz all seiner Niedertracht, weil sie seine nur allzu menschlichen Schwächen erkennen und ihm...vergeben! Die Frauen sind die klügeren, liebenswerteren Wesen bei Tschechow.

platonov_31georgsoulek© Georg Soulek

Viele Menschen also auf der Bühne, die sehr geschickt drei "Räume" vereint: den Garten mit dem angedeuteten Birkenwald (Kirschbäume wären auch hübsch gewesen, aber die kommen ja ein andermal!), den Salon und den Speisesaal des Anwesens. Während die Haupthandlung im Wohnzimmer abläuft, befinden sich in den beiden ersten Akten alle anderen Darsteller im durch Glastüren abgetrennten Essbereich und spielen tonlos weiter. Die Zuschauer der linken Saalhälfte sind eindeutig bevorzugt. Wie oft da die Türen auf und zu gehen... Sehr geschickt und klug gemacht von Monika Pormale und wunderschön beleuchtet von Gleb Filshtinsky, der die vier Tageszeiten, Nachmittag, Abend, Nacht und Morgen stimmungsvoll vergegenwärtigt.

Glanzbelassen

Alvis Hermanis’ Regie lässt dem Stück seine Authentizität, seinen Bezug zur Umbruchstimmung des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Russland, wozu auch die prachtvollen Kostüme von Eva Dessecker passen, aber es ist dennoch eine äußerst moderne Inszenierung, die von einer großen Liebe zu einem zweifellos zeitlosen Werk zeugt, aber auch von einem tiefen Verständnis einer Epoche und einer Weltregion.

Zu sagen, die fünf Stunden dauernde Aufführung verginge wie im Flug, wäre übertrieben, aber langweilig wird dem Zuseher nicht. Das sehr prominent vertretene Wiener Publikum würdigte dies auch mit lang anhaltendem Applaus.


Platonov
von Anton Tschechow, übersetzt von Peter Urban
Regie: Alvis Hermanis, Bühnenbild: Monika Pormale, Kostüme: Eva Dessecker, Dramaturgie: Klaus Missbach, Licht: Gleb Filshtinski.
Mit: Dörte Lyssewski, Philipp Hauß, Johanna Wokalek, Peter Simonischek, Dietmar König, Franz Csencsits, Hans Dieter Knebel, Yohanna Schwertfeger, Roland Kenda, Martin Reinke, Michael König, Fabian Krüger, Martin Wuttke, Sylvie Rohrer, Brigitta Furgler.

www.burgtheater.at

Kritikenrundschau

Kurz und schmerzvoll kanzelt Gerhard Stadelmaier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.5.2011) diesen Abend ab, an dem das Regiekonzept die Schauspieler derart zur akustischen Unverständlichkeit verdonnere, "dass es ein Verbrechen war". Viel Erlesenes sei aufgeboten worden: vom Star-Ensemble über die historischen Kostüme bis zum historischen Bühnenbild. Doch der gewissermaßen mundtot gemachte Tschechow wirke wie eine "totalprivate Lächerlichkeit aus dem vorvorletzten Jahrhundert, die keinen was angeht". Peinvolle Konsequenz: "Die Langeweile wurde schier unerträglich."

Kaum einlässlicher bespricht Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (9.5.2011) diesen Abend. Auch für ihn ist die dem Stück vorangestellte Ansage des Regisseurs, man werde die Akteure oft nicht verstehen, schon Aussage genug: "Wer seine Kunst erklären muss, ist als Künstler gescheitert. Eigentlich hätte man sich sofort davonmachen müssen." Da der Kritiker blieb, erlebt er immerhin, wie "Tschechow zur Schlafcouch wurde"; in den "ersten drei Stunden hört man nur ein Raunen und Murmeln", in den letzten beiden Stunden sei "vornehmlich gejammert und geheult" worden. Selbiges Aufheulen wäre nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Auditorium angebracht, wenn man das Fazit richtig versteht: "Der Abend steht unter dem Verdacht der Publikumsfolter".

Anerkennung zollt Roland Pohl vom Standard (9.5.2011) für die historische Innenarchitektur dieser Inszenierung, ehe er Zweifel anmeldet: "Wäre es möglich, dass Hermanis' wunderschöne Bastelarbeit bloß das Äquivalent zu einer Kapitulation bildet? Dass der lettische Regisseur vor Tschechows gesellschaftspolitischer Lockerungsübung die Waffen gestreckt hat?" Obgleich nichts "Entscheidendes" an diesem Abend "zu bemängeln" sei, zumal das "Verwehen der Dialoge" von Vornherein als Konzept angekündigt wurde, wirkt die Inszenierung auf den Kritiker leblos. Einzelne beachtliche Schauspielmomente ergäben hier kaum mehr als "ein paar hübsche Episoden".

Wesentlich positiver, ja begeistert zeigt sich Norbert Mayer in der Presse (9.5.2011): Der "überbordende Abend" sei "tatsächlich harte Arbeit. Denn Hermanis kann mit seiner fantastischen Aufführung auch als Vollender des Murmel-Theaters gelten." Über das akustische Konzept heißt es: "Das Simultane ist eine reale Überforderung, man setzt sich dem Dauer-Versuch aus, unter härtesten Bedingungen zu lauschen – als ob man im überfüllten Wirtshaus wissen möchte, was an den Nebentischen und in größerer Entfernung passiert." Im Ganzen sei dieser Abend mit "15 exzellenten Schauspielern des Burgtheaters" nicht weniger als "ein Fest für Tschechow und seine dekadenten Müßiggänger."

"Hermanis will die Geschichten nicht nur erzählen – er schafft Atmosphären", berichtet Sophia Felbermair im ORF (8.5.2011) gleichfalls angetan. Das Publikum beobachte aus "einer fast voyeuristischen Position" das Geschehen auf dem Landgut, für das Monika Pormale ein  Bühnenbild geschaffen habe, das "bis ins kleinste Detail naturalistisch und stimmig" sei. "Beeindruckende Lichtstimmungen (Gleb Filshtinski) lassen den Zuschauer förmlich die flirrende Hitze des russischen Frühsommers und den kühlen Nebel in den Morgenstunden, der durch die offenen Salontüren zieht, spüren." Von beeindruckenden Schauspielerleistungen wird weiter berichtet. "Dass dieser bei der Premiere zwar lang und sehr freundlich, aber nicht frenetisch ausfiel, lag wohl eher an Ermüdungserscheinungen im Publikum als an mangelnder Begeisterung über die hervorragenden Leistungen von Regie und Darstellern."

Hermanis habe sich in seinem Inszenierungsstil für eine Art Hyperrealismus entschieden, in dem jedem historischen Detail sein Platz zugewiesen wird und der seine Bühnen- und Kostümbildnerinnen wahrscheinlich zu vielen Stunden Archivrecherche zwang, schreibt Stephan Hilpold in der Frankfurter Rundschau (10.5.2011). Hermanis versuche "eine Art Tauchgang in eine untergegangene Welt, die vom Publikum nur durch eine vierte Wand getrennt ist. Anders als im Film, wo ein solcher ästhetischer Zugriff ja den Normalfall darstellt, fehlt allerdings die Linse einer führenden Kamera. Ja, Hermanis geht so weit, dass er die Konventionen einer ordnenden Dramaturgie und einer auf den Zuschauer ausgerichteten Bühnenpraxis bewusst negiert und etwa Szenen im angrenzenden Speisezimmer oder auf der Veranda spielen lässt, was zu (...) Verständnisproblemen führt." Biedersinn und Modernität lägen dabei so eng beieinander, dass es schwer falle, eine klare Grenze zu ziehen.

"Für die Charaktere scheint sich Hermanis weniger zu interessieren als fürs Dekor", schreibt Martin Lhotzky in der Neuen Zürcher Zeitung (10.5.2011). "Das beginnt schon damit, dass die Titelrolle mit Martin Wuttke zwar originell, aber doch zu alt besetzt ist. Laut Tschechow soll der Dorf-Don-Juan und lustlose Lehrer Michail Wassiliewitsch Platonow siebenundzwanzig Jahre zählen, in Wuttkes Gestalt verkündet er, mittlerweile siebenunddreissig (oder siebenundvierzig? Ach ja, die verflixte Akustik) zu sein." Nicht einmal das nehme man ihm in seinem Zustand ab – schmuddelig, sturzbetrunken und hypochondrisch, bleibe hier sein Status als Frauenverführer noch rätselhafter als gewöhnlich. Insgesamt blieben viele Fragen offen "und so mancher wird sich gewünscht haben, Johanna Wokalek hätte als blindwütig (und vollkommen unerklärlich) verliebte Sofia Jergorowna schon zwei Stunden früher zum Gewehr gegriffen und dieser faden Farce ein jähes Ende bereitet."

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