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Als ob's in diesem Russland eine Seele gäbe

von Annette Hoffmann

Basel, 12. Mai 2011. Im Theater Basel hat das Etikett großes Ensemblestück unter Schauspieldirektor Elias Perrig eine ähnliche Bedeutung wie der Ruf "Nach Moskau" in Anton Tschechows "Drei Schwestern". Er beschwört Verheißungen.

Ein Ensemblestück sollte Tschechows Drama unter Perrigs Regie also werden, und wirklich haben die Darsteller auf der Bühne des Schauspielhauses viel Bewegungsfreiheit. Denn die Drehbühne ist von einem Vorhang aus blinkenden bodenlangen Schnüren bestimmt, der sie mittig teilt (Bühne: Wolf Gutjahr). Der Vorhang wechselt die Farben und wer hier stehen bleibt, über den geht er hinweg wie eine Streicheleinheit. Dahinter sieht es aus wie davor: Die Bühne ist wie leergefegt. Ein wenig jedoch entlarvt das Bühnenbild von Beginn an den Traum von einem bedeutenderen Leben als Jahrmarktstalmi, als Aufhübschung einer provinziellen Tristesse, der sowieso nicht zu entkommen ist.

Die üblichen Offiziere

Es ist Irinas Namenstag und die drei Schwestern tragen ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters Schwarz, Weiß und Blau und viel Protz um den Hals (Kostüme: Wolf Gutjahr). Das wirkt fraulich und geradezu gouvernantenhaft. Zu Gast sind die üblichen eineinhalb Offiziere (Tusenbach: Lorenz Nufer, Tschebutykin: Urs Bihler). Es werden Liebesgeständnisse und Heiratsanträge vor dem Vorhang gemacht und Rosen überreicht. Man hat unaufhörlich Lust zu philosophieren, aber – obwohl alle von Arbeit reden – kein Verlangen, tätig zu werden.

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Tschechow charakterisiert in den "Drei Schwestern" eine Periode des Übergangs als Ahnung von etwas Kommendem. Das kann sich durchaus als bedeutungslose Vorläufigkeit anfühlen. Irina (Marie Jung) hängt dem Ideal der romantischen Liebe nach und wird sich aus Vernunft doch für den Umstandskrämer Tusenbach entscheiden. Und Mascha (Inga Eickemeier) verliebt sich erst zögerlich, dann umso rückhaltloser in den Oberstleutnant Werschinin (René Dumont), den sie allzu gerne gegen ihren Schulmeister (Andrea Bettini) tauschen würde. Während Olga (Hanna Eichel) sich in ihrer Tüchtigkeit als Lehrerin einrichtet. Alles eine Frage der Alternative. Bruder Andrej (Thomas Douglas), einstmals die Hoffnung der Familie, jedoch verspießert an der Seite der herrischen Natalja (Nicole Coulibaly) in Adiletten und Bequemkleidung.

Zukunftsweisender Pragmatismus

Schnürvorhang und Drehbühne sind starke formale Setzungen. Zwingen sie doch zur Entscheidung, ob gehen oder stehen – sie lassen die Schauspieler oft wie aufgestellt wirken. Eine Entsprechung findet diese Strenge nicht an diesem Abend. Die Kostüme sind von historisierendem Schnitt, die Kleider der Frauen machen eine schlanke Silhouette. Und ja, es gibt auch einen Samowar auf der Bühne.

So entschieden Elias Perrig auf eine Bebilderung bürgerlichen Lebens und Wohnkultur verzichtet, so detailliert ist das Spiel angelegt, als ob es in diesem Russland, dieser Landschaft von Wald, Fluss und Birken, eben doch eine Seele gäbe. Da klaubt sich die alte Anfissa (Barbara Lotzmann) das Weiche aus einem Laib Brot, und da zeigt eine starke Inga Eickemeier viele fahrige, abgebrochene Gesten, die zu etwas Neuem aufbrechen wollen, aber doch kein Ziel finden.

Diese psychologisierende Lesart ist solide umgesetzt, aber nicht eben neu, ein wenig brav, mitunter sogar ein bisschen sentimental. Am Ende ist es der alte Armeearzt Tschebutykin, der gegen das allgegenwärtige Fortschreiten der Zeit und des Schicksals angeht. Die drei Schwestern stehen jenseits der Drehbühne, das Leben ist über sie hinweggegangen und hat sie an ihren Ort gestellt. Mag sein, dass das eigentlich Zukunftsweisende im Pragmatismus ihrer Entscheidungen steckt. Mit einer Verheißung sollte man das nicht verwechseln.

 

Drei Schwestern
von Anton Tschechow.
Regie: Elias Perrig, Bühne/Kostüm: Wolf Gutjahr, Musik: Biber Gullatz, Klavier: Mihai Grigoriu, Licht: Roland Edrich, Dramaturgie: Julie Paucker.
Mit: Andrea Bettini, Urs Bihler, Nicole Coulibaly, Thomas Douglas, René Dumont, Hanna Eichel, Inga Eickemeier, Marie Jung, Barbara Lotzmann, Lorenz Nufer, Jörg Koslowsky.

www.theater-basel.ch

 

Erst kürzlich inszenierte Christiane Pohle Die drei Schwestern am Thalia Theater Hamburg.

 

Kritikenrundschau

Als in ihrer Anlage nicht uninteressant, letztlich aber doch dem eigenen Anspruch nicht genügend beschreibt Alfred Schlinger in der Neuen Zürcher Zeitung (14.5.2011) Elias Perrigs Inszenierung. Gut gefällt Schlinger die leere Bühne, in der die Figuren ganz auf sich selbst geworfen wirkten. Auch das durch den Einsatz einer Drehbühne erreichte "auf-der-Stelle-treten" findet er als Bild sehr einleuchtend. "Der schöne Anfangsimpuls verpufft leider schnell. Die Aufführung zieht sich, bei einzelnen Glanzlichtern, eher zäh über zweidreiviertel Stunden." Das liegt aus seiner Sicht wesentlich daran, dass ihm nicht klar wird, was die verbindende Idee dieser Inszenierung sein soll. Auch das schauspielerische Gefälle der Drei-Schwester-Darstellerinnen empfindet er als schmerzhaft. Vieles an den Figuren findet der Kritiker auch nur hämisch und karrikaturhaft gezeichnet. Manche Figuren des Stücks sind seinem Eindruck zufolge gar von der Regie "sträflich alleingelassen und bleiben schmerzhaft eindimensional wie Pappfiguren".

Elias Perrig habe durchaus ein Konzept, aber es gehe nicht auf, schreibt Martin Halter (FAZ, 19.5.2011). Die Basler Schwestern sollten "keine lethargischen Stubenhocker sein, sondern zeitgemäß nervöse Charaktere". Dieses Konzept materialisiere sich zunächst im Bühnenbild. Das Haus Prosorow sei aber nicht nur gähnend leer, es drehe sich auch unablässig. "Die Zeit steht still; wer mit ihr Schritt halten will, muss mitlaufen oder von der Drehbühne springen." Alles in allem gäben "die Männer und Möglichkeiten in Basel (...) wenig Anlass zu gesteigerter Unruhe. Zwar geben sich die Kavaliere und Katastrophen die Klinke in die Hand: (...) Aber die Drehbühne dreht sich ungerührt knarrend weiter". Das ergebe "aufgekratztes Müdigkeitstheater".

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