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Gefangen in Shakespeares Dschungel-Camp

von Dieter Stoll

Nürnberg, 14. Mai 2011. Auf schummriger Bühne wabert ein Knäuel von Menschenleibern und wird vom Wasserguss aus dem Bühnenhimmel zum individuellen Leben erweckt. Ist es das Meer, das Schiffbrüchige auf die Insel Illyrien spuckt, oder erleben wir die Sturzgeburt eines Shakespeare-Ensembles? In Stefan Ottenis Nürnberger Neuinszenierung von "Was ihr wollt" werden Antworten auf solche absichernden Fragen drei Stunden lang strikt verweigert.

Wenn der ungeordnete Klamottenhaufen, der wie eine Lagerstelle der letzten Altkleidersammlung aus der Kulisse quillt, zum Fundus für die Rollen-Findung wird, kann gleich auch die Natur hereinfahren. Das Insel-Biotop aus Moos und Gestrüpp, mittendrin ein alsbald genutzter Badeweiher, könnte das Modell für den Testlauf im RTL-Dschungel gewesen sein. Doch hier holt einen keiner raus, hier bleiben alle unabwählbar ihren eigenen Gefühlen ausgeliefert – und mögen sie noch so wunderlich erscheinen.

Schwarzer Freitag an der Partnerbörse

Natürlich blickt kein Mensch mehr durch bei diesen neu gemischten "Verhältnissen". Der junge Cesario (Felix Axel Preißler, etwas zu sehr auf Naivität festgelegt beim Tänzeln auf der Grenze zwischen Mann und Frau), der staunend seine feminine Seite betrachtet, liebt die reifere Orsina (resolut sangesfroh: Elke Wollmann), die ihn aber als Werber zur bislang abweisenden Olivia (Tanja Kübler) schickt. Sie wiederum verknallt sich in diesen androgynen Knaben, was dem restlichen Pulk der mobilen Partnerbörse einen schwarzen Freitag beschert.

Denn auch der enorm beschränkte Sir Andrew (Stefan Lorch greift sich mit Präzisionskichern ins blonde Haarteil) und der als Blockwart verspottete Malvolio mit den gelben Strümpfen (Thomas Nummer hat ein rasantes Mienenspiel-Solo als Denker und Lächler) sind scharf auf die Dame. Sogar Sir Toby (kein Dickerchen, sondern ein irrer Junkie im Kampf gegen Schweißausbrüche: Stefan Willi Wang) findet sein Deckelchen in jener Intrigantin (Julia Bartolome), die grade noch alle Liebenden ins Irrenhaus einliefern wollte.

Ja, sogar der sonst am Rand des Stückes verkümmernde Senior Antonio (Jochen Kuhl), der Cesarios verschollenen Zwillingsbruder (Philipp Niedersen) rettete, hat offensichtlich nicht nur väterliche Gedanken, wenn er ihm Hilfe mit Anfassen bietet. Für den Narren bleibt in diesem Verteilungskampf nur die Planstelle "Blitzableiter" und Weisheit zum Abhaken übrig: "Vergnügen kommt einem teuer zu stehen, früher oder später". Das passt auch auf die gut dreistündige Aufführung – aber immerhin da eher "später".

.... komm, zieh jetzt das Kleid an!

Stefan Otteni sucht beim Spiel mit der Poesie des Ungewissen, das auch verwegen die Vision vom "dritten Geschlecht" beschwört, vor allem den Schwebezustand zwischen dem Denkbaren. Harte Landungen bei Kunst und Leben inbegriffen. Wenn die eben noch eine Frau umwerbende Orsina den bis dahin verschmähten Jüngling mit den damenhaften Ohnmachtsanfällen doch noch nimmt, schafft sie klare Verhältnisse: "Komm, zieh jetzt das Kleid an!"

Überwölbend gilt das geflügelte Wort: "Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist…", aber da erzählt Ottenis Shakespeare zweifellos von Fast Food. Es wird viel gesungen, nicht nur von den Illyrien-Sisters der Musikerinnen (Birgit Förstner und Bettina Ostermeier sind auch mit Cello, Quetsche und Blockflöte glänzend im Einsatz), sondern vom ganzen Team. Nur einmal wird daraus eine Shownummer, wenn das Publikum von der Rampe aus in die Mitklatsch-Falle gelockt wird.

Ansonsten ist der gleitende Übergang zum Sound eher verräterische Spiegelung von Seelenzuständen, hier etwas Schlager-Lyrik, dort etwas Wagner'sches Erlösungs-Zirpen. Richtig komisch ist es, wenn die in allen Musical-Lagen kompetente Elke Wollmann ihrem um Fassung ringenden Jung-Boten wie eine Musiklehrerin die Strophe eines Werbe-Liebesliedes beibringt. Gesang wird zum höchsten Ausdruck portionierter Gefühle, besonders der entgleisenden.

... und tschüss dann!

Der Schatten einer ganz auf Komödien-Effekte setzenden Inszenierung, mit der Peter Hathazy vor 15 Jahren in Nürnberg großen Erfolg hatte, war am Ende der Premiere nicht mehr zu bemerken, selbst wenn die Heiterkeit in Nonsense-Höhen klettert. Der Blick von Otteni lässt zwar die Melancholie lange Zeit immer nur als Ahnung zu, aber sie ist nicht zu übersehen. Selbst dann nicht, wenn er mit realistisch blödsinnigen Alternativ-Antworten "Wer wird Millionär?" spielen lässt und William Shakespeares Wortwitz so durch Günther Jauchs etwas übersichtlicheres Universum jagt. Am Ende will die Regie sicher sein und trägt dick auf. Sie lässt die Trauminsel stückweise im Erdbeben untergehen und macht das ganze Gewimmel der Betroffenen samt ihrer "Glück straft alle Logik Lügen"-Philosophie beim Schubs in den Alltag zur Party-Resterampe. Man will mal miteinander telefonieren, und tschüss dann.

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In der Endlos-Schleife der Inszenierungen von Shakespeare-Komödien ist Nürnbergs neue Version von "Was ihr wollt" höchst achtbar. Auch, weil die Regie letztlich immer wieder auf die Schauspieler vertraut, und das vom barfuß durchs Spektakel kletternden Ensemble mit Ausbrüchen aus der sicheren Komiker-Deckung belohnt wird. Am Ende weiß der Zuschauer wirklich nicht mehr, wo da welche Moral angegriffen sein könnte, will es gar nicht wissen. Schade nur, dass auch in diesem Paradies der Wurm drin ist. Die lebensgroßen Bären, die zum allgemeinen Entzücken im Nürnberger Shakespeare-Dschungel ebenfalls auftreten, wurden jedenfalls niemandem aufgebunden.

 

Was ihr wollt oder Die zwölfte Nacht
Komödie von William Shakespeare
aus dem Englischen von Angela Schalenec
Regie: Stefan Otteni, Bühne: Peter Scior, Kostüme: Sonja Albartus, Musikalische Leitung: Bettina Ostermeier, Licht: Andreas Klier, Dranmaturgie: Maren Zimmermann.
Mit: Elke Wollmann, Felix Axel Preißler, Philipp Niedersen, Jochen Kuhl, Tanja Kübler, Julia Bartolome, Frank Damerius, Stefan Willi Wang, Stefan Lorch.

www.staatstheater-nuernberg.de



Kritikenrundschau

Dschungel-Camp-Atmosphäre und viele Lieder von Nena bis Leonard Cohen gebe es zu erleben, berichtet Steffen Radlmaier in den Nürnberger Nachrichten (16.5.2011). Dennoch: Regisseur "Stefan Otteni richtet auf der Bühne keinen (naheliegenden) Klamauk an, sondern nimmt seine Figuren ernst, mitunter vielleicht sogar zu ernst. Das spielerisch Leichte, heiter Flirrende geht seiner schwermütigen Inszenierung ab, die vor allem in der zweiten Hälfte deutliche Längen offenbart." Diesem Urteil entsprechend stellen sich die verschiedenen eingehend gewürdigten schauspielerischen Glanzpunkte in der Kritik als momenthaft dar. Der Fokus der Inszenierung liege auf der Liebe, "nicht als Herzensangelegenheit, sondern als Hirngespinst, als Wahnvorstellung".

Für Bayerischen Rundfunk (B5 aktuell) berichtet Barbara Bogen: "Stefan Otteni macht aus 'Was ihr wollt' das totale Melodram, ein Stück mit Musik, mit viel, mit gar sehr viel Musik, die doch nicht satt macht." Wie in einem "großen Song-Contest der verlorenen Gefühle im Dschungel der Identitäten" fühlt sich die Rezensentin. Die liedhafte Grundanlage erinnere an Regisseur Christoph Marthaler, ohne dass die Mischung aus Sing- und Kammerspiel "mit naturalistischen Pausen" hier zu überzeugen wüsste. "Viel hat Otteni angepeilt. Dass Sprache und Gefühl verschwinden vor der präpotenten Songdudelei, die uns täglich umgibt, und dass Liebe auch nur noch ein Wort und blöder Zufall ist. In kleinen Gesten, Blicken deutet er an, dass wohl annähernd jeder mit jedem hätte können in dieser großen CastingShow der wackeligen Geschlechteridentitäten."



Kommentare  
Was ihr wollt, Nürnberg: langweilig
Gähnend langweilig und einfach grauslich. Und das peinliche Gesinge.
Was ihr wollt, Nürnberg: am Nullpunkt
Ich stimme dem 1. Kommentar voll und ganz zu: mehr als langweilig und furchtbares Gesinge. Die Inszenierung steht der Inszenierung von Peter Hathazy um Längen hinterher. Ein Shakespeare-Abend am Nullpunkt.
Was ihr wollt, Nürnberg: Gegenrede
Laute Gegenrede:
Es war ein höchst vergnüglicher Theaterabend.
Was ihr wollt, Nürnberg: brillant, voller Brechungen
Ich würde jedem empfehlen, es sich anzuschauen. Natürlich, nicht festzulegen, keine völlig klare Aussage oder Ausrichtung, aber genau da lag für mich die Stärke des Abends: Er vereint meiner Meinung nach große, ausschweifende Gesten mit subtiler Intimität. Und die im Theater oft gesehene ironische Brechung vereint er mit dem Vertrauen auf das große Gefühl, gegen jeden (oder mit jedem) Widerspruch. Und überall, an allen Ecken wird Liebe angedeutet, und (fast) nie wird sie von vornherein als falsch oder lächerlich abgetan. Der Zuschauer hat meiner Meinung nach viel Raum für eigene Gedanken und Projektionen, muss aber nicht zwanghaft ein Puzzle vollenden oder einen gefühlsarmen Abend im eigenen Kopf ausmalen, denn was da auf der Bühne vor sich geht, strotzt nur so vor Energie und Farbe. (Nicht nur grelle Farben, sondern auch die grauen Zwischentöne.)
Und witzig ist der Abend auch, und zwar sehr, aber auch hier gibt es verschiedene Arten von Witz: Mal den großen Klamauk (Malvolio und Sir Andrew), mal der spröde Wortwitz am Rand, der einem genauso gut entgehen kann. Oder die kleine Absurdität, die vielleicht gar nicht als Witz gemeint war. Weiß man's?
Den Gesang fand ich nie peinlich oder plump, sondern immer richtig eingesetzt. Für mich hat er viele Ebenen eröffnet, die die Aufführung bereichern. Der unsichere, schlecht gesungene aber ehrlich gemeinte Schlager ist, wenn er mit dem harmonisch vertrackten Choral und dem Gassenhauer zum Mitgröhlen kontrastiert wird, mehr als nur das Lied an sich.
Kurz: Ich fand den Abend brilliant.
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